Die Berliner Nachrichtenagentur Table Media veröffentlicht Informationen aus dem Regierungsviertel, laut denen das Kanzleramt und das zuständige Bundesinnenministerium (BMI) zu Wochenbeginn nach zehnmonatiger Suche den Nachfolger des zurückgetretenen Verfassungsschutzchefs Thomas Haldenwang offiziell bekannt geben wird. Demnach soll Sinan Selen, seit Januar 2019 Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, die Leitung der Bundesbehörde übernehmen. Selen kündigte jüngst an, dass der Verfassungsschutz aktuell “einen Schwerpunkt auf die Aktivitäten Russlands legen” wird.
Laut Table Media hätten sich die zuständigen Gremien der Großen Koalition auf Selen geeinigt. So heißt es in dem Artikel:
“Die Bedrohung durch Extremisten aller Art wächst. Aber die Behörde, die für die Sicherung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zuständig ist, hat seit zehn Monaten keinen Präsidenten. Das soll sich nun ändern. Nach Informationen von Table.Briefings hat sich die schwarz-rote Koalition auf Sinan Selen geeinigt (…).”
So soll Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) bereits an diesem Montag “die Spitze des Bundesamts über die neue Besetzung informieren, das Bundeskabinett könnte schon am Mittwoch formal entscheiden”. Die ARD-Tagesschau erinnert an den monatelangen Status quo der Bundesbehörde:
“Nachdem [Vorgänger Thomas] Haldenwang sein Amt ruhen ließ, um eine Bundestagskandidatur anzustreben, blieb der Posten an der Spitze des Verfassungsschutzes vorerst unbesetzt. Seine Aufgaben übernahmen die Vizepräsidenten Selen und Silke Willems.”
Selen wurde 1972 in Istanbul, Türkei, geboren und kam mit vier Jahren als Sohn türkischer Einwanderer nach Deutschland. Er wuchs in Köln auf. Der Verfassungsschutz informiert zu der Biografie des kommenden BfV-Chefs:
“Er studierte Rechtswissenschaften an der Universität Köln mit dem Schwerpunkt Innen- und Justizpolitik in Europa/Europarecht. Von 2000 bis 2006 nahm er im Bundeskriminalamt verschiedene Aufgaben im Bereich des polizeilichen Staatsschutzes und des Personenschutzes wahr. Ende 2006 wechselte er ins BMI und wurde dort mit der Leitung des Referats ‘Ausländerterrorismus und Ausländerextremismus’ im Stab Terrorismusbekämpfung betraut. Von 2009 bis 2012 war er im Bundespolizeipräsidium als ständiger Vertreter des Abteilungsleiters für Kriminalitätsbekämpfung tätig und befasste sich in dieser Zeit unter anderem mit den Themenfeldern der Schleusungskriminalität und Pirateriebekämpfung.”
Ab dem Jahr 2012 war Selen dann in der Abteilung “Öffentliche Sicherheit des BMI mit den operativen Fragestellungen der Terrorismusbekämpfung betraut”. 2016 wechselte der kommende BfV-Chef dann vorerst “zum TUI-Konzern und baute dort eine konzernweite Sicherheitsstruktur auf”. Seit dem 21. Januar 2019 ist er bis zur Gegenwart Vizepräsident beim Verfassungsschutz. Der Table.Briefings–Artikel schreibt wörtlich zur Regierungspersonalie:
“Selen erntete in der Vergangenheit immer wieder Hass und Hetze von rechts wie links. So unterstellten ihm Verschwörungstheoretiker etwa, verdeckt für die Türkei zu arbeiten. Er gab schließlich die türkische Staatsangehörigkeit ab.”
Selen wird demnach “in Koalitionskreisen für seine Erfahrung und sein Fachwissen geschätzt”. CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter erklärte gegenüber dem Handelsblatt:
“Ich halte das für eine hervorragende Personalentscheidung, denn Sinan Selen bringt sowohl beste Expertise als auch nötige umfangreiche Erfahrungen mit.”
Bereits Ende August zitierte ein N-tv-Artikel aktuelle inhaltliche Wahrnehmungen seitens Selens:
“‘Unsere Rolle als Abwehrdienst gewinnt zunehmend an Bedeutung’, sagt der Vize des Bundesverfassungsschutzes. Er meint damit vor allem die Bedrohung aus Russland, gegen die sich der Dienst wappnen will. Das Ziel Moskaus sei es, Zweifel an der Demokratie zu säen.”
Selen erklärte dabei wörtlich weiter, dass “auf unser Land sich ein breites Spektrum russischer Aktionen richten” würde. Und weiter:
“‘Neben Low-Level-Agenten sind das vermehrt Cyberangriffe, Desinformation und handfeste Sabotage’, erklärte Selen. Dies diene dazu, Angst und Unsicherheit zu schüren und Zweifel an der Demokratie zu säen. ‘Wir beobachten dabei eine Enthemmung. Es werden Verletzte oder sogar Tote bewusst in Kauf genommen’, sagte der BfV-Vize.”
Eine weitere Erwartung des BMI ist demnach laut Table Media:
“Zu hören ist auch, dass Dobrindt mit dieser Personalentscheidung die Erwartung verbindet, dass Selen im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern einen weniger ausgeprägten Drang in die Öffentlichkeit habe. Diese Hoffnung hatte es bei Thomas Haldenwang in der Nachfolge von Hans-Georg Maaßen auch schon gegeben, doch Haldenwang überraschte nach Amtsantritt mit seiner Vorliebe für den öffentlichen Auftritt und das markige Wort.”
Mit Selen wird nach entsprechender Bestätigung erstmals ein Spitzenposten in den Sicherheitsbehörden des Bundes mit einem Mann mit Migrationshintergrund besetzt.
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