Von Dagmar Henn
Es muss ein seltsamer deutscher Drang sein, historische Daten so oft zu überlagern, bis sie ihre ursprüngliche Bedeutung völlig verloren haben. So ging das mit dem 9. November, eigentlich der Tag der Novemberrevolution des Jahres 1918, auf den ‒ gewiss nicht aus Versehen ‒ die Nazis ihr großes Pogrom 1938 legten, und der dann, mit der Farbrevolution in der DDR am gleichen Datum endgültig jeden ermutigenden Beigeschmack verlor.
Genau so geschah es jetzt auch mit dem 18. März (und es ist symptomatisch, dass das ursprüngliche Datum im Bundestag nicht mehr erwähnt wurde): Der 18. März 1848 war der Tag, an dem die verfassungsgebende Nationalversammlung in der Paulskirche zusammentrat, ein Parlament, das das Ergebnis einer wirklichen Revolution war. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas bezog sich, geradezu euphorisch, auf die zweite Version, den Tag der Volkskammerwahl in der DDR 1990. Eine Wahl, die letztlich auf die völlige Ausplünderung des Annexionsgebiets hinauslief, wozu ein Parlament, das mit massiver Beeinflussung aus dem Ausland BRD gewählt wurde und sich danach von Westpolitikern am Nasenring durch die Manege führen ließ, wesentlich beitrug. Nicht einmal den Einigungsvertrag durfte dieses Parlament miterarbeiten, es durfte ihn nur abnicken.
“Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns die demokratische Euphorie der ersten freien Volkskammerwahl nicht nur ehren, sondern auch weiterführen“, erklärte Bas und verwies auf die damalige “Wahlbeteiligung von beeindruckenden 93,4 Prozent”. Und eröffnete damit die Sitzung eines aufgelösten Bundestags, der eine Wahl mit einer für heutige deutsche Verhältnisse hohen Wahlbeteiligung von 82,5 noch vor Konstituierung des neuen Parlaments bereits entwertete. Demokratische Euphorie, fürwahr. Und nun auch endgültig die dritte Lage für den 18. März, die den Aufbruch, für den er einmal stand, durch eine Beerdigung ersetzte.
Die Hast, mit der die Billionenschuld beschlossen wurde, fand keine Begründung. “Der neue Bundestag wäre erst in einigen Monaten handlungsfähig, und so viel Zeit haben wir nicht mehr”, sagte der SPD-Politiker Johannes Fechner. Erst gegen Ende der Debatte, auf eine Zwischenfrage von Beatrix von Storch, “warum das Aufnehmen von Schulden für die nächsten zwölf Jahre so wahnsinnig eilig ist, dass wir jetzt beschließen müssen und nicht noch drei Tage hinwarten können“, erwiderte Thorsten Frei (CDU):
“Wir haben eine ganze Reihe von Ereignissen erlebt. Wenn Sie beispielsweise die Münchner Sicherheitskonferenz und die dortige Debatte verfolgt haben, wenn Sie beispielsweise an die Situation von Präsident Selenskij im Oval Office in Washington und an vieles andere mehr denken, dann macht das deutlich, dass die Fähigkeit, uns selbst verteidigen zu können, sehr viel schneller notwendig sein wird, als das in der Vergangenheit von uns gesehen worden ist. Es ist notwendig, alles dafür Notwendige zu tun.”
Nun, in Wirklichkeit dürfte eher die Angst vorherrschen, sollten die Verhandlungen zwischen den USA und Russland tatsächlich zu einem Ende des Kriegs in der Ukraine führen, der Rechtfertigung für all die schönen Milliarden für Rheinmetall & Co. verlustig zu gehen ‒ ein Umstand, bei dem man sich angesichts der Ausgaben der vergangenen Jahre sogleich fragt, wer wohl bereits vorab für eine solche Entscheidung entlohnt wurde. Aber bis heute wurden ja nicht einmal die Kontenbewegungen und Vermögenszuwächse der Coronazeit angegangen, auch wenn die ganze Firma Biontech nach einem Vehikel für Insiderhandel riecht.
Der künftige Bundestag jedenfalls dürfte etwa so viel zu sagen haben wie die letzte DDR-Volkskammer in Bezug auf den Ablauf der Annexion. Gar nichts.
Lars Klingbeil (SPD) führte ein paar hübsche Beispiele an, wie das “Sondervermögen” für Investitionen den Bürgern nützen solle. Und pries das Ganze als “in erster Linie ein gigantisches Paket für die Bürgerinnen und Bürger, ein Paket gegen die Spaltung und Polarisierung, ein Paket für Sicherheit, für die Modernisierung und die Stärkung unseres Landes, vielleicht das größte Paket in der Geschichte unseres Landes“. Schulen, durch deren Decken das Wasser tropfe, Klimaschutz, moderne Technik für Krankenhäuser und eine digitalisierte Verwaltung, dafür werde doch Geld übrig bleiben.
Eine Behauptung, die so vorne und hinten nicht aufgeht. Aber immerhin hat er darauf verzichtet, von maroden Autobahnbrücken zu reden. Die sollten nämlich eigentlich längst saniert werden. So zumindest die Begründung für die Aushändigung der Autobahnen an die Autobahn GmbH im Jahr 2018, die “private Investitionen” ermöglichen sollte. Und was die Krankenhäuser angeht ‒ mehr als 40 Prozent der Kliniken sind inzwischen privat. Der Betrag, der bundesweit in Schulgebäude investiert werden müsste, wird übrigens auf mehr als 40 Milliarden geschätzt. Womit die Mittel, die die Länder in diesem tollen Paket erhalten sollen, schon fast zur Hälfte wieder fort sind.
Aber das ist das Gerede, mit dem Klingbeil die Billionenschuld schönreden will, als ginge es dabei um einen New Deal und nicht um eine weitere große Schaufel Geld in dubiose Kanäle, wie das schon unter der Überschrift Corona der Fall war. Selbstverständlich fällt bei der Gelegenheit niemandem auf, dass das größte soziale Problem des Landes, die Wohnungsfrage, nicht ein einziges Mal im Zusammenhang mit den 500 Milliarden erwähnt wurde, die angeblich in Infrastruktur gehen sollen. Dabei ist das der Punkt, an dem die Schuldenbremse, die auch für die Länder gilt, die massivsten Folgen gehabt haben dürfte: Wohnungsbauförderung ist Ländersache.
Übrigens, die Behauptung, diese Klimaneutralität bis 2045 ins Grundgesetz zu schreiben, habe gar keine direkten Auswirkungen für die Bürger, wurde bereits am nächsten Tag widerlegt ‒ weil die CDU inzwischen laut darüber nachdenkt, das Habecksche Heizgesetz doch unangetastet zu lassen. Schließlich könne man sonst die Klimaziele…
Variationen über die “russische Bedrohung” wiederzugeben, kann man sich schenken. Das ist das immer gleiche Lied ‒ bestenfalls die Strophenlänge weckt noch technisches Interesse. Friedrich Merz jedenfalls versuchte in seiner Suada über “Putins Angriffskrieg gegen Europa” noch alles unterzubringen, was je Russland vorgeworfen wurde, einschließlich des Versuchs “einer Spaltung und Marginalisierung der Europäischen Union”. Dass Boris Pistorius wieder einmal sagte, Putin wolle keinen Frieden, hat keinerlei Nachrichtenwert.
Der interessanteste Teil der Debatte war der selbstbezogene. Das, was an Auseinandersetzung über die Frage stattfand, ob dieses Vorgehen, diese Hauruckschuld, angebracht sei. Da legte schon Thorsten Frei von der CDU in der zweiten Rede des Tages vor:
“Deswegen, bevor Sie über Legitimität sprechen, sollten Sie lieber über Legalität sprechen. Und legal ist es, was wir hier machen; alles ist legal.”
Ein Argument, auf das man in Deutschland eigentlich eher verzichten sollte. Die Machtübertragung an einen gewissen Österreicher war auch legal. Aber legitim? Eine Frage, die sich auch mit Verweis auf jüngste Verfassungsgerichtsurteile nicht aus der Welt schaffen lässt. Immerhin bekamen Millionen Wähler etwas völlig Anderes geliefert, als sie gewählt hatten, in Rekordgeschwindigkeit und das ganz ohne Rückgaberecht.
Zuvor hatte schon Johannes Fechner zugeschlagen und der AfD vorgeworfen: “Sie sind der verlängerte Arm Putins.” Irene Mihalic von den Grünen beantwortete das Problem der Legitimität ebenfalls mit einem Angriff auf die AfD, die “mit ihrem Frontalangriff auf die Verfassungsorgane […] ihre faschistische Suppe anrühren” wolle und der es allein “um Zerstörung und Delegitimierung parlamentarischer Prozesse” gehe. Eine ausgesprochen charmante Argumentation, wenn sie in einem aufgelösten Bundestag vorgetragen wird, der mit einer Legitimität von genau null Beschlüsse fällt, die “ein Jahrzehnt in den Blick nehmen” müssten, so der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Alexander Schweitzer.
Die AfD, so Ingeborg Gräßle von der CDU, wolle “ein schwaches Deutschland”, aber jetzt, durch die Billionenschuld, könne “Deutschland wirklich stark sein und eine Führungsrolle übernehmen”. Die kam öfter, die Führungsrolle. Als wäre ein Land mit vielen Schulden (und einem entmannten Parlament) geradezu natürlich zur Führung berufen.
Zweifel an der Vorgehensweise äußerte jedoch nicht nur die AfD. Auch aus der FDP kamen sie, wenn auch leise. Und Christian Görke von der Linken erklärte die Abstimmung durch den alten Bundestag zum “Gipfel dieser Unverfrorenheit”. “Wir nennen das, was Sie hier machen, mittlerweile Staatsverachtung.” Laut gebellt, aber nicht gebissen, wie Otto Fricke von der FDP unter die Nase rieb: “Die Landesregierungen mit linker Beteiligung haben schon längst dafür gesorgt, dass es die Zweidrittelmehrheit im Bundesrat geben wird.“ Da ist es gar nicht mehr nötig, auf die Tatsache hinzuweisen, dass die Linke es abgelehnt hatte, eine Einberufung des neuen Bundestags zumindest zu versuchen, weil die AfD das wollte. Obwohl ein solcher Antrag zwar von einem Drittel der neuen Abgeordneten gestellt werden muss, aber nirgends die Rede davon ist, dass sie alle unter demselben Antrag stehen müssen.
“Die Abgeordneten der Linkspartei haben damit eine historische Chance vertan”, meinte dazu Jessica Tatti vom BSW. “Wenn man diese Kriegskredite wirklich verhindern will, dann versucht man es, auch wenn die juristische Chance noch so klein ist. Es ist ein historischer Tag, und Sie begehen einen historischen Fehler.”
Wie auch immer, die Wahrnehmung dafür, wie viel mit diesem Akt zerschlagen wurde, dass sich im Grunde die nachfolgende Koalition ihre eigene Legitimität bereits entzogen hat (so wie das Verfassungsgericht sich die seine), fehlt der Mehrheit völlig. “Dass der demokratische Grundkonsens in unserem Land so belastbar ist, dass diese Mehrheit heute möglich ist, das ist eine Stärke unseres Landes und eine Stärke der Demokratie in unserem Land”, meinte dazu beispielsweise Alexander Dobrindt (CSU). Beweist sich also die Stärke einer Demokratie durch die Missachtung derselben?
“Der Wahlbetrüger Friedrich Merz lässt heute gemeinsam mit SPD und Grünen in sechs Tagen so viele neue Schulden beschließen, wie die gesamte Bundesrepublik Deutschland von 1950 bis 2009, also in 59 Jahren, insgesamt aufgenommen hat”, erklärte Michael Espendiller von der AfD. Und lieferte zwei hübsche Beispiele dafür, was mit den Rüstungsmilliarden wohl gemacht werden wird. 654 Millionen Euro habe die Bundeswehr für private Sicherheitsdienste gezahlt, um Kasernen zu bewachen. Und der Radpanzer Boxer, den Pistorius von Rheinmetall haben wollte, sei aus Australien importiert worden, weil die Lieferung in Deutschland zu lange gebraucht hätte. “Der Russe”, so Espendiller spöttisch, “steht ja nächste Woche schon in Berlin”. 2,7 Milliarden statt zwei Milliarden kostete der Spaß dadurch, was natürlich die dringende Frage nahelegen würde, wer bei diesem Geschäft seinen Schnitt gemacht hat, aber diese Frage stellte leider auch die AfD nicht.
Ja, solche Zahlen erwecken den Eindruck, im deutschen Verteidigungsministerium sehe es auch nicht besser aus als beim US-amerikanischen Pentagon, dem schon mal die eine oder andere Billion abhandenkam. Wie gut, dass der Geldhahn jetzt weit aufgedreht wird. Dann kann wenigstens keiner die hässlichen Löcher entdecken, durch die das viele Geld dann abfließt.
“Früher”, so Sahra Wagenknecht, “war die Bundesrepublik ein wirtschaftspolitischer Riese, der sich außenpolitisch zurückhielt und deshalb internationales Ansehen genoss. Heute ist Deutschland auf dem Weg zum wirtschaftlichen Zwerg, und die dafür verantwortlichen Politiker kompensieren ihre Unfähigkeit durch außenpolitische Großmannssucht und beispiellose Hochrüstung. Wo so etwas endet, kann man in den Geschichtsbüchern nachlesen.”
Nun, wo sie recht hat… die Nazis finanzierten ihr Rüstungsprogramm über Wechsel, sogenannte Mefo-Wechsel, mit einer Laufzeit von fünf Jahren, und es war von vornherein einkalkuliert, sie durch Kriegsbeute zu begleichen. Der Trick dabei war, dass diese Wechsel nicht als Staatsschuld ausgewiesen werden mussten… irgendwas könnte da bekannt vorkommen, aber was halten eigentlich die deutschen Nachbarn von solchen Berechnungen? Doch was tut man nicht alles, wenn die Aussicht besteht, noch einmal “deutsche Führung” zu geben.
War das nun eine Beerdigung des Parlaments erster oder zweiter Klasse? Bei diesem Bundestag ist man versucht zu sagen, ganz ohne, aber tot bleibt tot. In nächster Zeit wird dafür dann wieder viel von “Delegitimierung des Staates” die Rede sein, gegen all jene, die auf diese Zustände hinzuweisen wagen.
Das deutlichste Fazit fand, wieder einmal, der nun ausscheidende, parteilose Abgeordnete Robert Farle:
“Wir machen doch die Schulden in diesem Land nun auf einen Schlag, dass die Ukraine weitere zig Milliarden Euro kriegt und in sinnlose Panzer investiert und eine Kriegskoalition entsteht und eine Kriegspolitik gemacht wird. Diese Art Politik muss zerstört werden. Wir brauchen keinen Dritten Weltkrieg, auch nicht mit den Grünen und schon gar nicht mit dieser CDU. Da muss jetzt jeder tätig werden.”
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