Österreich hat eine neue Regierung – fünf Monate nach der Wahl und nach zähen Verhandlungen. Die konservative ÖVP, die sozialdemokratische SPÖ und die liberalen NEOS haben sich auf eine Koalition verständigt.
Am Sonntag gaben die Mitglieder der NEOS mit 94,13 Prozent Zustimmung grünes Licht für den Eintritt in die Regierung – und nahmen zugleich das ausgehandelte Regierungsprogramm an.
Die Parteivorsitzende Beate Meinl-Reisinger zeigte sich erleichtert, sprach aber offen von einem schwierigen Prozess: Die Verhandlungen seien fordernd gewesen, stellenweise gar “am Rand des Zumutbaren”. Dennoch hätten die NEOS zentrale Anliegen einbringen können, auch wenn das Programm nicht durchgängig die Handschrift der Pinken trage.
Meinl-Reisinger stellte klar, dass mit dem Abschluss der Koalitionsgespräche die eigentliche Arbeit erst beginne. “Koalitionsarbeit bedeutet tägliche Verhandlungen”, so die designierte Außenministerin. In den kommenden fünf Jahren werde es darauf ankommen, liberale Reformprojekte sichtbar zu machen – ein Kraftakt angesichts der dominierenden Koalitionspartner ÖVP und SPÖ.
Interne Skepsis verpufft
Ganz unumstritten war der Regierungseintritt in den eigenen Reihen nicht. Vor allem prominente Parteimitglieder hatten sich für eine flexible, themenbezogene Zusammenarbeit im Parlament ausgesprochen – statt sich dauerhaft an zwei deutlich größere Partner zu binden. Die Sorge: Die NEOS könnten zwischen den Blöcken aufgerieben werden und ihre reformerische Agenda opfern müssen.
Meinl-Reisinger stellte sich dieser Kritik mit offensivem Kurs. In internen Sitzungen überzeugte sie die Skeptiker; nach Berichten aus Parteikreisen mit “klaren Argumenten und sichtbarer Leidenschaft”. Offenbar mit Erfolg – der Abstimmungssieg fiel am Ende deutlich aus.
Auch Christoph Wiederkehr, Wiens Vizebürgermeister und künftiger Bildungsminister, warb mit Nachdruck für die Regierungsbeteiligung. Gerade in Zeiten geopolitischer Spannungen brauche Österreich eine stabile Regierung mit klar proeuropäischer Ausrichtung, so Wiederkehr. Stillstand, insbesondere im Bildungswesen, könne sich das Land nicht länger leisten.
Zwischen Linkskurs und Wirtschaftsliberalismus
Dennoch bleibt die Koalition für viele NEOS-Mitglieder eine Wette auf die Zukunft – und nicht ohne Risiko. Die Besetzung des SPÖ-Regierungsteams mit überwiegend linken Politikern sorgt für Unbehagen bei den wirtschaftsliberalen NEOS. Die Angst vor einem “Linkswalzer”, der die Reformagenda verwässert, bleibt latent. Die Parteiführung versucht, diese Sorgen mit dem Hinweis zu zerstreuen, dass die NEOS als Modernisierer und Reformmotor klar erkennbar bleiben sollen.
Um die breite Zustimmung der Parteibasis sicherzustellen, trieb die NEOS-Spitze einen beachtlichen Aufwand. Funktionäre und Abgeordnete wurden verpflichtet, Mitglieder persönlich zu kontaktieren und die Vorzüge des Koalitionsvertrags zu erläutern. Jeder dieser Anrufe wurde schriftlich dokumentiert – eine ungewöhnlich straffe Mobilisierungsstrategie für eine liberale Partei.
Angelobung am Montag
Wenn alles nach Plan läuft, wird die neue Bundesregierung bereits am Montag von Bundespräsident Alexander Van der Bellen vereidigt werden. Die Regierungserklärung im Parlament soll am Freitag folgen. Meinl-Reisinger, Wiederkehr und ihr Team übernehmen damit offiziell politische Verantwortung – und haben sich selbst einen “Reformmarathon” auferlegt.
Trotz der breiten Zustimmung auf dem Parteitag blieb Kritik nicht aus. Ein langjähriges Mitglied sprach offen von einem “faulen Kompromiss” und warf der Parteispitze vor, im Regierungsprogramm zu wenig liberale Reformvorhaben durchgesetzt zu haben. Einige befürchten sogar, dass die NEOS bei der nächsten Wahl aus dem Parlament fliegen könnten – weil sie im Bündnis ihr eigenständiges Profil verlieren.
Feierstimmung an der Spitze – Strolz abgemeldet
Meinl-Reisinger und Wiederkehr ließen sich davon nicht beirren. Für sie markiert der Eintritt in die Bundesregierung einen “historischen Moment”. Die Chance, Österreich moderner, europäischer und liberaler zu gestalten, sei es wert, Risiken einzugehen. Besonders betonten sie, dass die Koalition mit ÖVP und SPÖ einen klaren Rechtsruck verhindert habe – eine Kampfansage an die FPÖ und ihren Parteichef Herbert Kickl.
Auffällig war allerdings, dass ein prominenter Name bei der Mitgliederversammlung fehlte: Matthias Strolz, charismatischer Gründer der NEOS, tauchte weder in Videos noch auf der Bühne auf. Ein Symbol dafür, dass die neue NEOS-Generation endgültig das Ruder übernommen hat.
Die neue Dreier-Koalition ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Im Vorfeld hatte die ÖVP versucht, mit der FPÖ eine Regierung zu bilden. Doch die Verhandlungen scheiterten. Auch der erste Versuch einer ampelähnlichen Koalition mit SPÖ und NEOS platzte im Januar. Nachdem auch die FPÖ bei einem zweiten Anlauf nicht zum Partner wurde, blieb den Parteien kaum eine andere Wahl als der nun geschlossene Dreier-Pakt.
Ressortverteilung und Regierungsprogramm
Die Ressorts sind klar verteilt:
- ÖVP: Kanzleramt (Christian Stocker) und Innenministerium
- SPÖ: Sozial- und Umweltministerium
- NEOS: Bildungsministerium (Christoph Wiederkehr) und Außenministerium (Beate Meinl-Reisinger)
Das gemeinsame Programm, das am Donnerstag präsentiert wird, trägt den Titel: “Jetzt das Richtige tun. Für Österreich.” Es soll eine Balance zwischen sozialdemokratischer Umverteilung, konservativer Stabilität und liberaler Reformoffensive bieten.
Dieses Bündnis steht nicht nur für eine neue Koalitionsform, sondern auch für eine strategische Entscheidung: die FPÖ – trotz Wahlsieg – von der Macht fernzuhalten. Es ist eine bewusste Absage an Herbert Kickl und seine Rechtsaußenpolitik. Ob die Koalition hält, ist offen. Die ideologischen Bruchlinien zwischen SPÖ und ÖVP sind ebenso bekannt wie die Reformansprüche der NEOS. Klar ist: Es wird eine Koalition des ständigen Aushandelns – und ein Testfall für die politische Mitte in Österreich.
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