Von Astrid Sigena
Fast jeder kennt mittlerweile die Grafik mit der Darstellung der Ergebnisse der Bundestagswahl 2025 bei den Erststimmen, die jetzt allenthalben geteilt wird. Deutschland ist gespalten: Der Osten ist fast überall blau eingefärbt (wo die AfD Direktmandate gewonnen hat), der Westen schwarz (Gewinner der Direktmandate sind CDU oder CSU), mit einigen bunten Einsprengeln. In Gesamtdeutschland erzielte die AfD 20,8 Prozent, in Westdeutschland bei den Zweitstimmen lediglich 18 Prozent, in Ostdeutschland ist sie dagegen mit 32 Prozent der Zweitstimmen stärkste politische Kraft.
Welche Konsequenzen sind also aus diesem Befund zu ziehen? Droht aus der Spaltung der Wahlergebnisse eine erneute deutsche Spaltung in zwei Staaten zu entstehen? Wie nach jeder Wahl mit Stimmengewinnen für die AfD gibt es auch diesmal auf X Forderungen, doch bitte die Mauer wiederzuerrichten oder die AfD-Wähler in die blaue Zone abzuschieben. Die Freien Sachsen halten eine Sezession des Ostens für notwendig, um nicht “in den Strudel des Untergangs” hineingezogen zu werden, und auch in Russland hat man die Divergenz registriert: Der Philosoph und geopolitische Analyst Alexander Dugin konstatiert das Ende der BRD und propagiert die Wiedererrichtung der DDR oder Preußens als Lösung.
Deutschland ist hinsichtlich der AfD zwischen Ost und West gespalten? Jein, oder besser: Ja, aber. Denn Deutschland ist in seinem Wahlverhalten durchaus auch in anderer Hinsicht geteilt. Zwischen Arm und Reich, zwischen Frauen und Männern (allerdings hat die AfD auch beim weiblichen Geschlecht dazugewonnen), zwischen Stadt und Land (im Speckgürtel der bayerischen Universitätsstadt Erlangen beispielsweise, in Buckenhof, dominieren die Grünen, und die AfD hat schlechte Karten), zwischen Einheimischen und Zuwanderern (bei muslimischen deutschen Staatsbürgern – die mehrheitlich einen Migrationshintergrund haben dürften – kommt die AfD laut einer Wahlbefragung lediglich auf sechs Prozent).
Neben der Gender Gap gibt es auch bei den Altersgruppen einen bemerkenswerten Unterschied: Während die AfD bei den älteren Jahrgängen nicht besonders gut ankommt (nur zehn Prozent der über 70-Jährigen wählen sie), findet sie besonderen Anklang bei den mittleren Altersgruppen: 22 Prozent der 45- bis 59-Jährigen und sogar 26 Prozent der 35- bis 44-Jährigen wählen die AfD. Auch bei den Jungwählern (18–24-jährig) erzielt die AfD weiterhin Gewinne, in dieser ist allerdings die Partei der Linke besonders beliebt. Der AfD-nahe Verleger Götz Kubitschek kritisierte am Tag nach der Wahl letztere Entwicklung und machte dafür unter anderem die Auflösung der Jugendorganisation Junge Alternative durch die Mutterpartei verantwortlich. Selbst im konservativen Bayern war die Linke bei der U-18-Wahl außergewöhnlich stark. Bei den nonkonformistisch wählenden Jugendlichen ist der AfD also eine linke Konkurrenz erstanden.
Auch eine Nord-Süd-Spaltung im Wahlverhalten gibt es, analysiert man, welche Partei jeweils in den Wahlkreisen die zweitstärkste Kraft bei den Zweitstimmen geworden ist. Im Osten dominiert die CDU, im Süden Westdeutschlands die AfD, aber im Norden Westdeutschlands die SPD. Ein Leser des rechten Aktivisten Martin Sellner fügte die interessante Beobachtung bei, dass der letztgenannte Bereich fast deckungsgleich mit der früheren britischen Besatzungszone sei. Warum auch immer, die beiden Bereiche haben wirklich eine frappierende Ähnlichkeit!
Eine aufschlussreiche Bemerkung wird in der NOZ (Bezahlschranke) vom Bochumer Politikwissenschaftler Oliver Lembcke wiedergegeben. Die ostdeutschen Bundesländer seien eine Art Vorbote für die Richtung, in die sich das politische System entwickele. Lembcke prophezeit: “Jedenfalls wird der Westen in dieser Weise östlicher als der Osten westlicher.” Dazu passt, dass die AfD mittlerweile nicht mehr nur im Osten flächendeckend Wahlkreise gewinnt, sondern auch im Westen zumindest bei den Zweitstimmen bereits in zwei Wahlkreisen Sieger ist: in Gelsenkirchen (NRW) und Kaiserslautern (Rheinland-Pfalz). Und es ist nicht auszuschließen, dass die AfD bei der nächsten Bundestagswahl (die schneller kommen kann, als man denkt) auch Erststimmensiegerin sein wird, denn der Rückstand auf den siegreichen SPD-Kandidaten betrug diesmal nur 2,5 Prozent.
Im Berliner Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf gelang es der AfD mit dem Kandidaten Dr. Gottfried Curio, das Direktmandat zu erlangen. Ein Grund für dieses starke Ergebnis dürften die dort ansässigen Spätaussiedler aus der früheren Sowjetunion darstellen. Dabei waren die Russlanddeutschen einstmals treue CDU-Wähler. Aber spätestens die antirussische Politik der etablierten Parteien dürfte eine endgültige Hinwendung dieser Bevölkerungsgruppe zur AfD gebracht haben. Für einen der Marzahner AfD-Wähler war das Verbot russischer Sender der ausschlaggebende Punkt. Andere dürften wütend darüber sein, wie beschwerlich die BRD Reisen von und nach Russland mittlerweile gemacht hat.
Und auch die schwarzen (im Sinne der Wahlpräferenz) Hochburgen im Nordwesten fangen an zu wackeln. Katholische Gegenden wie das Emsland oder das Oldenburgische Münsterland (also die Landkreise Cloppenburg und Vechta), wo früher brav gewählt wurde, was einem der Pfarrer nahelegte (also CDU – im Wahlkreis Cloppenburg-Vechta erreichte diese Partei einst sogar 70 Prozent der Erststimmen!), sind zwar noch immer eine sichere Bank für die CDU-Direktkandidaten, aber der Vorsprung schmilzt von Wahl zu Wahl dahin.
Zur Verdeutlichung: In Cloppenburg-Vechta gewann die CDU-Kandidatin Silvia Breher diesmal mit 45,8 Prozent der Erststimmen und ließ den zweitplatzierten Sven Sager von der AfD damit weit hinter sich (ein Abstand von über 20 Prozent). Beachtlich, aber auch beunruhigend für die CDU. Denn 2021 hatte Breher noch 49 Prozent erreicht. Die AfD hatte bei schwachen 7,8 Prozent der Erststimmen gelegen. Und von ihren 57,7 Prozent der Erststimmen im Jahr 2017 ist Breher mittlerweile sehr, sehr weit entfernt.
Auch für Albert Stegemann im Wahlkreis Mittelems wachsen die Bäume nicht mehr in den Himmel (jetzt 43,8 Prozent, 2017 noch 53,64 Prozent). Im Wahlkreis Unterems erreichte die nicht im Wahlkreis wohnende, weitgehend unbekannte AfD-Kandidatin Martina Uhr sogar 20,3 Prozent der Erststimmen. Die Wahlkreissiegerin Gitta Connemann von der CDU kann von ihren 54,7 Prozent im Jahr 2013 nur noch träumen. Es mag sein, dass der Pfarrer dort immer noch predigt, man solle doch bitteschön “christlich” wählen – aber immer weniger hören darauf. Womöglich interessiert immer weniger Wähler die klerikale Wahlempfehlung? Vielleicht liegt es aber auch am Zuzug kirchlich Ungebundener aus den neuen Bundesländern.
Ja, Deutschland ist gespalten. Das sieht man sehr deutlich am Wahlverhalten. Und die Gesellschaft scheint weiter auseinanderzudriften. Aber ob die BRD auseinanderbrechen wird und an welchen Sollbruchstellen, ist noch gar nicht so sicher. Es muss nicht unbedingt die Linie Ost/West sein.
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