Nach einer Analyse der Internationalen Arbeitsorganisation IAO hat die steigende Inflation in vielen Ländern zu einem eklatanten Rückgang der Reallöhne geführt. Die IAO (International Labour Organization: ILO), eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, hat am Mittwoch einen entsprechenden Bericht veröffentlicht. Demnach sind die Reallöhne in der ersten Jahreshälfte weltweit um 0,9 Prozent gesunken. Infolgedessen habe sich die Kaufkraft von Familien der Mittelschicht verringert, während Haushalte mit niedrigem Einkommen besonders hart getroffen wurden. Angesichts mangelnder Aussichten auf Besserung sei mit sozialen Unruhen zu rechnen. Die Organisation betonte die dringende Notwendigkeit von Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Armut, Ungleichheit und sozialer Unruhen.
“Die zahlreichen globalen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, haben zu einem Rückgang der Reallöhne geführt. Dies hat Dutzende Millionen von Lohnabhängigen in eine schwierige Lage gebracht, da sie mit zunehmender Unsicherheit konfrontiert sind”, sagte Gilbert F. Houngbo, der Generaldirektor der IAO, und warnte vor den möglichen Folgen.
“Einkommensungleichheit und Armut werden zunehmen, wenn die Kaufkraft der Geringverdiener nicht erhalten bleibt”, so Houngbo. “Darüber hinaus könnte der dringend benötigte Aufschwung nach der Pandemie gefährdet werden. Dies könnte zu weiteren sozialen Unruhen in der ganzen Welt führen und das Ziel, Wohlstand und Frieden für alle zu erreichen, untergraben.”
Laut dem Global Wage Report 2022/2023 sind von der Krise auch die führenden Industrienationen der G20 nicht verschont, teils sei die Inflation in Ländern mit hohem Einkommen proportional schneller gestiegen.
Beispielsweise sank das durchschnittliche Reallohnwachstum in Kanada und den Vereinigten Staaten im Jahr 2021 auf null und fiel dann in der ersten Hälfte dieses Jahres um weitere 3,2 Prozent.
In Lateinamerika und der Karibik sank das Reallohnwachstum im gleichen Zeitraum auf um 1,4 Prozent und dann um 1,7 Prozent. Reallöhne sind nach Schätzungen in der ersten Jahreshälfte in den fortgeschrittenen G20-Ländern um 2,2 Prozent gesunken und in den G20-Schwellenländern um 0,8 Prozent gestiegen. Das sind 2,6 Prozent weniger als im Jahr 2019, dem Jahr vor der COVID-19-Pandemie.
Insgesamt wirkt sich die steigende Inflation stärker auf ärmere Familien aus, da sie den größten Teil ihres verfügbaren Einkommens für lebensnotwendige Güter und Dienstleistungen ausgeben, die im Allgemeinen stärkere Preissteigerungen erfahren als nicht lebensnotwendige Güter.
In vielen Ländern untergräbt die Inflation auch den realen Wert der Mindestlöhne, heißt es in dem Bericht weiter.
Die IAO unterstreicht die dringende Notwendigkeit gut durchdachter politischer Maßnahmen, um Lohnempfängern und deren Familien zu helfen, ihre Kaufkraft und ihren Lebensstandard zu erhalten.
Sie sind von entscheidender Bedeutung, um eine Vertiefung des bestehenden Niveaus von Armut, Ungleichheit und sozialen Unruhen zu verhindern.
“Wir müssen unser besonderes Augenmerk auf die Beschäftigten am mittleren und unteren Ende der Lohnskala richten”, sagte Rosalia Vazquez-Alvarez, eine der Autorinnen des Berichts.
“Der Kampf gegen die Verschlechterung der Reallöhne kann dazu beitragen, das Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten, was wiederum dazu beitragen kann, das vor der Pandemie beobachtete Beschäftigungsniveau wieder zu erreichen. Dies kann ein wirksames Mittel sein, um die Wahrscheinlichkeit oder Tiefe von Rezessionen in allen Ländern und Regionen zu verringern.”
Bereits Ende Oktober meldete die Organisation, dass sich die Aussichten für die globalen Arbeitsmärkte in den letzten Monaten verschlechtert hätten und eine Fortsetzung der Entwicklung würde eine weitere Verknappung von Stellen und eine Verschlechterung des weltweiten Beschäftigungswachstums im restlichen Jahr bedeuten.
Mehr zum Thema – “Wut und Verzweiflung” – Streiks für bessere Löhne in mehreren europäischen Ländern