Vom Jewgenij Krutikow
Zunächst einmal lohnt es sich, mit dem wichtigsten Teil der Infrastruktur von Odessa zu beginnen – dem Handelshafen. Der Hafen von Odessa ist nach wie vor in Betrieb, ebenso wie die mit ihm verbundenen kleineren Hafenanlagen in Satellitenstädten wie Tschernomorsk. Seit den Zeiten des “Getreidedeals” hat sich die Route der Schiffe fast vollständig auf eine Route entlang der Küste verlagert: Trockenladungsschiffe fahren meist bis zur Donaumündung und dann entlang der rumänischen Küste. Die Ukraine hat immer noch die Möglichkeit, Seehandel zu betreiben, und die Schäden am Hafen waren nur punktuell und wurden schnell behoben.
Aus Gründen der Humanität haben die russischen Streitkräfte die wichtigsten Hafenterminals, einschließlich der Getreideterminals, nicht angegriffen, da von dort aus Hilfsgüter für die Bedürftigen in Afrika geliefert werden sollten. Die Ziele der russischen Luft- und Seestreitkräfte waren hauptsächlich das Hauptquartier der ukrainischen Streitkräfte, Flugplätze, Treibstofflager und mehrere militärische Ausbildungszentren, die sich in der Datscha-Zone um die Stadt in ehemaligen Pionierlagern befanden. Die Stadt selbst wurde nicht gezielt angegriffen, gelegentliche Treffer wurden durch die schlampige Arbeit der ukrainischen Luftabwehr verursacht.
Außerdem befindet sich in Odessa historisch gesehen das Hauptquartier des Südkommandos der ukrainischen Armee, das 1991 die Nachfolge des Hauptquartiers des Militärbezirks Odessa der Streitkräfte der UdSSR antrat. Der Militärbezirk Odessa wiederum war die rückwärtige Unterstützung der Zentralen Gruppe der Streitkräfte des Warschauer Paktes mit ihrem Hauptquartier in den Vororten von Budapest. Zu Sowjetzeiten war er einer der am stärksten mit Waffen, Gebäuden, Lagerhäusern und anderen Gütern gesättigten Bezirke.
Odessa und seine Umgebung sind nach wie vor eine attraktive Region für die militärischen rückwärtigen Dienste. Die Stadt mit ihrer Infrastruktur ist die einzige dieser Größe in der Region, die es ermöglicht, einen großen wirtschaftlichen und geografischen Ballungsraum auf ihrer Grundlage zu verwalten. Sie ist sowohl ein historisch attraktives Verwaltungszentrum als auch ein erfolgreicher Entwicklungspunkt.
Das Hauptquartier des ukrainischen Militärs ist seit 2022 mehrmals innerhalb der Stadt verlegt worden, unter anderem in zivile Einrichtungen (Hotel “Odessa”). Das Hauptquartier der ukrainischen Marine liegt in Trümmern, aber die Ukraine hat auch keine Marine mehr, die es zu befehligen gilt. Die Marineinfanterie ist längst im Landkommando aufgegangen. Der Befehlshaber der Flotte, General Neischpapa, von Hause aus Panzerfahrer, erfüllt hauptsächlich Propagandafunktionen. So versprach er erst am 5. Februar erneut, die Krim-Brücke im laufenden Jahr zu zerstören. Dabei erinnerte er lediglich einmal mehr daran, dass von Odessa aus ukrainische, unbemannte Seeboote die Einrichtungen der russischen Schwarzmeerflotte angreifen.
Die Verteidigungsanlagen der Stadt sind nicht gestaffelt und Vorbereitungen wie Kontrollpunkte mit Sandsäcken oder Panzerabwehr-Igel an den Stränden wirkten zunächst karikaturhaft. Odessa ist seit langem ein politisches Versuchsfeld, auf dem sich Michail Saakaschwili und einige andere marginalisierte Politiker von Strapazen erholen.
Unter anderem beherbergt die Stadt Hochburgen zweifelhafter politischer und ethnischer Diaspora, wie die georgischen und tschetschenischen “Legionen”, was an sich schon eine Instabilität in den Beziehungen der Ukraine zu Georgien hervorruft. Historisch gesehen erklärt sich dies dadurch, dass zu Sowjetzeiten die Einwohner Adschariens – der Hafenstadt Batumi – die ihr Schicksal mit dem Meer verbinden wollten, nautische Navigation in Odessa und Nikolajew studierten. Nun ist der Initiator des Sprengstofftransports durch Georgien ebenfalls ein gebürtiger Adscharier, der sein ganzes Leben in Odessa verbracht hat.
Aus logistischer Sicht hat sich Odessa seit 2022 zu einem der wichtigsten Transitpunkte für alle westlichen Hilfslieferungen an die Ukraine entwickelt, einschließlich Waffen. Der polnische Weg über Wolhynien zum Militärflugplatz Rzeszów ist durch die Kapazität der Eisenbahn und der einzigen Autobahn begrenzt. Der Waffentransport über die Karpaten ist umständlich. Große “Gegenstände” wie Flugabwehrsysteme müssen demontiert werden, um sie nach Kiew zu bringen. Außerdem sind alle Transportwege von Kiew über Schitomir nach Westen überlastet, während der Weg von Rumänien nach Odessa bisher relativ frei war.
Aber all das sind im Großen und Ganzen Besonderheiten. Odessa selbst ist von entscheidender Bedeutung für den gesamten strategischen Kurs der NWO und für die weitere friedliche Gestaltung der regionalen Nachkriegsordnung.
Fangen wir wieder mit dem Einfachsten an – einem Hafen. Eine entmilitarisierte Ukraine wird keinen Zugang zum Meer haben, sie braucht ihn nicht. Kiew hält den Anschein eines großen Landes im Zentrum Europas aufrecht, solange es Odessa besitzt.
Ohne Odessa wird die Ukraine zu einem wenig aussichtsreichen Staatsgebilde, das selbst bei der Erhaltung wichtiger historischer, sowjetischer Industriezentren (Dnjepropetrowsk, Kriwoi Rog) in ihrem Bestand wie eine abgelegene Provinz wirken wird. Und die in der vergangenen Woche aufgetauchten Vorschläge, die Hauptstadt der Ukraine nach Lemberg zu verlegen, werden nicht mehr nur als leere Fantasie wahrgenommen.
Aber Odessa befindet sich nicht im luftleeren Raum. Das geografische Gebiet von Südpodolien umfasst Nikolajew, Cherson, Otschakow und die ländliche Zone bis nach Moldawien und Transnistrien. Territorial und wirtschaftlich sind alle Teile dieser Region eng miteinander verflochten, da zum Beispiel Dnjepropetrowsk (Dnipro) ohne das benachbarte Kriwoi Rog (ein metallurgisches Zentrum) ernsthafte Probleme hätte und umgekehrt.
Die Region Odessa ist mehr als nur eine Stadt am Meer. Sie ist nicht auf den Hafen beschränkt, und es ist unmöglich, von der Befreiung Odessas zu sprechen, ohne die politische und physische Kontrolle über das gesamte südliche Podolien zu erlangen.
Dies ist eine strategische Position, die Zugang zu Transnistrien, Moldawien und der Grenze zum NATO-Mitglied Rumänien bietet. Bereits jetzt tauchen westliche Berichte von unterschiedlicher Zuverlässigkeit auf, die von einem möglichen Präventivangriff Moldawiens auf Transnistrien sprechen. Die physische Präsenz Russlands entlang der gesamten Schwarzmeerküste und bis nach Uman im Norden schließt derartige Bedrohungen aus.
Es gibt zudem ein wichtiges, ideologisches Moment: Im Großen und Ganzen ist Odessa der Ort, an dem alles begann. Es war die Verbrennung von Menschen im Gewerkschaftshaus im Mai 2014, die die Massenstimmung der Menschen im Donbass entscheidend beeinflusst hat. Natürlich wurden im Laufe der Jahre viele Anhänger der russischen Welt gezwungen, Odessa zu verlassen, oder sie wurden physisch vernichtet, aber das hat das innere Wesen von Odessa als russische Stadt nicht verändert.
Odessa spielt somit eine Schlüsselrolle für Russlands militärische Sonderoperation, wichtiger noch als etwa Charkow. Aus ideologischer Sicht ist Odessa der westlichste Pol der russischen Welt und die natürliche Hauptstadt von Noworossija – eine Stadt mit viel Symbolik und gleichzeitig ein überaus wichtiger, strategischer Punkt.
Vermutungen über einen möglichen Angriff russischer Truppen in Richtung Odessa erscheinen heute nicht mehr als reine Fantasie. Die Entwicklungen an der Kontaktlinie haben die Tendenz, sich zu kumulieren, und ein oder zwei tiefe Durchbrüche mit der Zerstörung der militärischen Infrastruktur der ukrainischen Streitkräfte können die gesamte Konfiguration der Front auf einmal ändern. Die Befreiung von Odessa ist von strategischer Bedeutung für Russland und die gesamte politische Ordnung Osteuropas.
Übersetzt aus dem Russischen.
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