Von Dagmar Henn
In der SPD wird gerade am Stuhl von Bundeskanzler Olaf Scholz gesägt. Der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter hat gerade erst öffentlich vorgeschlagen, doch Verteidigungsminister Boris Pistorius zum Kanzlerkandidaten zu machen. Das ist ein klein wenig unheimlich ‒ der Hauptunterschied zwischen Scholz und Pistorius besteht darin, dass Scholz die Lieferung der deutschen Taurus-Raketen an die Ukraine ablehnt.
Aber womöglich geht es dabei gar nicht um die Kandidatur, sondern darum, dass Scholz eben in dieser Raketenfrage ausnahmsweise mal wirklich einigermaßen solide steht. Es ist auch heikel ‒ im Gesamtangebot der NATO fliegen nur noch die amerikanischen JASSM weiter als die Taurus. Und in den USA sieht es sehr danach aus, als wären das Pentagon und das State Department sehr unterschiedlicher Meinung, ob es eine gute Idee wäre, Russland mit weitreichenden Raketen zu beschießen.
Am Sonntag hatte die britische Times berichtet, dass fünf ehemalige britische Verteidigungsminister eine Freigabe der Storm-Shadow-Raketen für Angriffe auf russisches Gebiet (in den Grenzen von 2013) gefordert hätten. Sie berichtete aber auch, beim Besuch von Premier Keir Starmer in Washington Ende vergangener Woche sei das Gespräch “sehr offen” gewesen ‒ das ist Diplomatisch für die Tatsache, dass vermutlich selbst die Köchin noch folgen konnte.
US-Außenminister Antony Blinken, der zuvor Andeutungen gestreut hatte, eine Genehmigung des Einsatzes stehe unmittelbar bevor, konnte sich also nicht durchsetzen. Was den Briten offenkundig nicht zusagte. (Für des Englischen Kundige existiert eine ergötzliche Analyse dieses Artikels von Alexander Mercouris).
Es gibt, auch diese Information liefert der Artikel, einen entscheidenden Punkt, warum Großbritannien nicht einfach selbst “Feuer frei” erklären kann: Üblicherweise nutzt die Storm Shadow ein GPS-Signal. Das ist aber durch die russischen Fähigkeiten in elektronischer Kriegsführung nutzlos. “Also muss sie einen anderen Datensatz verwenden, der den Amerikanern gehört”, sagte eine Quelle aus dem Militär der Zeitung. Dieser Datensatz hätte wahrscheinlich mit Kartierungsfähigkeiten zu tun.
Nun wird die ganze Geschichte aber noch deutlich heißer. Die ganze Debatte geht in Wirklichkeit eher nicht um ATACMS oder Storm Shadows ‒ beide Raketen sind gut bekannt, werden inzwischen relativ zuverlässig von der russischen Luftabwehr vom Himmel geholt, und, auch das ist ein wichtiger Punkt, die Arsenale sind durch den großen ukrainischen Verbrauch bereits ziemlich reduziert. Übrig bleiben die zwei weitreichenden Raketentypen, die bisher nicht geliefert wurden: die amerikanischen JASSM und die deutschen Taurus.
Logischerweise hat sich der britische Ex-Premier, der Mann, nach dem in der Ukraine inzwischen ganze Friedhöfe benannt werden könnten, bereits mit der Forderung zu Wort gemeldet, Deutschland solle doch endlich die Taurus liefern. Wohlgemerkt, nachdem Keir Starmer in Washington erklärt worden war, die Finger von den Raketen zu lassen. Und die üblichen Verdächtigen der deutschen Kriegstreiberfront, schwarz, gelb oder grün, stimmten mit ein ‒ selbstverständlich begleitet von der Behauptung, die Aussage des russischen Präsidenten Wladimir Putin, derartige Raketen wären von der Ukraine allein gar nicht zu bedienen, sei völlig unangebracht. Wobei die Quelle in diesem Fall die Hersteller der Raketen sind.
Von der Taurus liegen 500 Stück im deutschen Arsenal, auch wenn nach Angaben vom August nur 150 aktuell einsatzbereit sind. Das Problem ist die Erneuerung der Zertifizierung. Man kann sich aber durchaus vorstellen, dass das bei einem Einsatz durch die Ukraine nicht so eng gesehen würde. Dass Johnson in Richtung Deutschland nachsetzt, könnte aber noch einen weiteren Grund haben. In der Times war die Rede davon, dass Kartendaten der USA benötigt würden, die diese dann natürlich schlicht verweigern können. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um aus Satellitenaufnahmen erstellte Vektordaten.
Und nun kommt eine alte Meldung ins Spiel. 2021 gab es eine Ausschreibung der Bundeswehr für “Vektordaten hoher Auflösung” für Russland. Den Zuschlag erhielt damals die Firma ARGE VEHA. Damals hatte ich darüber berichtet und angemerkt:
“Interessant sind Karten mit einer solchen Informationsdichte nur dann, wenn man in dem dargestellten Gebiet tatsächlich militärisch handeln will. Es ist kaum anzunehmen, dass sich die Bundeswehr Karten der Zentralafrikanischen Republik erstellen lässt.”
Boris Johnson drängt also auf eine Freigabe der deutschen Taurus, weil für deren Einsatz die Kartierungsdaten der USA verzichtbar sind, da die Bundeswehr eigene besitzt. Was dann allerdings gleichzeitig bedeutet, dass es eben Deutsche sind, die die entscheidende Zielprogrammierung dieser Raketen vornehmen. Was dann, und hier sind die russischen Aussagen eindeutig, als Kriegshandlung Deutschlands gegen Russland gewertet und entsprechend beantwortet werden würde.
Was zahllose deutsche Politiker nicht zu begreifen scheinen, ist, dass ihre eigene Bewertung in diesem Zusammenhang völlig irrelevant ist. Sie können sich zehnmal vorsagen, dass sie das immer noch nicht für eine Kriegsbeteiligung halten. Die russische Regierung weiß etwas mehr über Raketentechnik als die deutschen Zeitungsleser und kann die Finger am Abzug klar erkennen.
Fans der Geschichtsschreibung können übrigens ein interessantes Muster erkennen. Schließlich ist es den Briten im vergangenen Jahrhundert schon zweimal gelungen, die Deutschen gegen Russland einzusetzen. Eine weitere Wiederholung wäre so gefährlich wie idiotisch. Ungeachtet der Tatsache, dass die Position, die die US-Regierung in der vergangenen Woche einnahm, selbstverständlich nicht ausschließt, dass die JASSM längst auf den Weg gebracht wurden (ich sage nur Geilenkirchen), um dann nach einem weiteren plötzlichen Schwenk doch eingesetzt zu werden ‒ sowohl für die Briten als auch für die USA wäre es geradezu ein Geschenk des Himmels, diesen Schwarzen Peter den Deutschen zu überreichen.
Die Mehrheit der Deutschen lehnt den Einsatz dieser Raketen in der Ukraine nach wie vor ab, berichtete die Welt, aber was interessiert das die deutschen Politiker. Die sind vermutlich in parteiübergreifender Einigkeit gerade damit beschäftigt, wie sie Scholz aus dem Weg räumen können, um sich danach mit Schwung in das aufgestellte Messer zu stürzen. Was sie ja gern tun dürften ‒ aber nur, ohne das ganze Land dabei mitzureißen.
Scholz jedenfalls muss sich gut überlegen, ob er wie üblich klein beigibt, oder ob er ausnahmsweise standhaft bleibt und Deutschland zumindest vor diesem Verhängnis bewahrt. Im ersteren Fall müsste er sich zwar wohl keine Gedanken um sein historisches Ansehen mehr machen, aber im zweiten könnte er wenigstens sein elendes Verhalten im Zusammenhang mit Nord Stream teilweise kompensieren. Es bleibt spannend.
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