Von Gert Ewen Ungar
Ich saß auf dem Sofa, hielt mein Tablet in der Hand, las die nächste Meldung und prustete los. Pawel, der neben mir saß, sah mich fragend an. Ich übersetzte ins Russische. In Deutschland war heute nach zehn Jahren Bauzeit eine Brücke mit einer Länge von satten 1,2 Kilometern feierlich eröffnet worden. Jetzt lachten wir beide laut und herzlich. Es wurde der Lacher des Abends.
Zehn Jahre Bauzeit für eine 1,2 Kilometer lange Brücke über den Rhein? Das konnte nur in Deutschland passieren. Gekostet hat das Wunder der Langsamkeit 250 Millionen Euro und wurde damit um 34 Millionen teurer als geplant.
Nun ist es nicht das erste Mal, dass Deutschland mit einem derartigen Lacher aufwartet. 16 Jahre Bauzeit für ein Konzerthaus, 20 Jahre für einen Flughafen. Das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 heißt so, weil es 2021 fertiggestellt werden sollte. Inzwischen ist von einer Fertigstellung bis Ende 2025 die Rede. Bei allen Projekten explodieren die Kosten. Dabei sind das nur die großen und bekannten Projekte.
Als ich noch in Berlin wohnte, wurde die durch Neukölln führende Karl-Marx-Straße erneuert. Die Fahrbahnerneuerung auf zwei Kilometern war auf zwölf Jahre angelegt, was sich allerdings als zeitlich zu knapp bemessen herausstellte. Statt Ende 2021 sollen die Arbeiten nun voraussichtlich zum Ende des Jahres 2024 abgeschlossen werden. Noch mal zum besseren Verständnis: Zwölf Jahre geplante Bauzeit für die Erneuerung von zwei Kilometern Fahrbahn. Wow!
Wem es bis hierhin noch nicht aufgefallen sein sollte: Deutschland hat ein systemisches Problem, denn das sind eben keine Einzelfälle. Was in Deutschland passiert, ist nicht normal. Es ist auch kein Zeichen deutscher Gründlichkeit. Es lässt sich nicht schönreden. Es ist einfach und ganz schlicht absolut irre.
An Ausreden für die desolaten Zustände ist kein Mangel. Mal ist die Bürokratie schuld, mal die wirtschaftliche Situation, mal dies, mal jenes. Allerdings gibt es all diese Faktoren in anderen Ländern auch und es kommt dennoch nicht zu diesen absurden Zuständen, die schon den Bau einer Autobahnbrücke in den Bereich des nicht Machbaren rücken. Wie will man da die großen Projekte wie die Energiewende stemmen? Unter den aktuellen Gegebenheiten in Deutschland braucht es keine seherischen Fähigkeiten, um vorherzusagen, dass dieses Projekt gründlich schiefgehen wird. Deutschland ist in seinem aktuellen Zustand zur Umsetzung nicht in der Lage.
Zum Vergleich mit dem in Deutschland so viel geschmähten Russland: Mit der Eingliederung der Krim wurde der Plan wieder aufgenommen, die Krim durch eine Brücke mit der Region Krasnodar zu verbinden. Eine Kombination aus Eisenbahn- und Autobrücke sollte die Krim besser anbinden und ihre Versorgung sicherstellen. Die Länge der Brücke beträgt 19 km, ihre Bauzeit: vier Jahre. Die Krim-Brücke ist dabei übrigens keine Ausnahme von der russischen Regel. Es wird hier schnell gebaut und Russland hält mit der technologischen Entwicklung nicht nur Schritt, sondern treibt sie voran. Die Digitalisierung ist hier kein mit Problemen behaftetes Thema. Sie wird einfach auf allen Ebenen umgesetzt. Man hat hier in der Regel Glasfaser.
Das größte Problem, das Deutschland in diesem Kontext hat, ist, dass es gar nicht versteht, dass es ein Problem hat. Probleme, Optimierungsmöglichkeiten und Defizite sieht man in Deutschland immer nur in anderen Ländern und Regionen, nie bei sich selbst. Diese recht unangenehme Charaktereigenschaft wird Deutschland langsam selbst zum Fallstrick, denn der von Arroganz getragene Habitus verhindert schon die Kenntnisnahme der heimischen Defizite. Lösungen rücken unter diesen Umständen in ganz weite Ferne.
Insbesondere in Westdeutschland fühlt man sich anderen Ländern und Regionen, auch und gerade Russland, haushoch überlegen. Es kursieren in den sozialen Netzwerken Fakes über ein vermeintlich völlig unterentwickeltes Russland, die mit der Realität nichts zu tun haben, die aber den Geist zeigen, mit dem viele Deutsche auf die russische Föderation blicken.
Man möchte sich überlegen und herrenmenschlich fühlen. In der realen Welt gibt es für dieses Gefühl einer Überlegenheit jedoch wenig Anlass. Im Gegenteil haben sich die Verhältnisse in vielen Bereichen längst umgekehrt. Das betrifft die Geschwindigkeit beim Ausbau der Infrastruktur ebenso wie die Bereiche Wohnungsbau und die schon genannte Digitalisierung. Und es betrifft eben nicht nur die Regionen Moskau und Sankt Petersburg.
Es liegt daher im Eigeninteresse Deutschlands, zu einer realistischen Einschätzung der tatsächlichen Gegebenheiten zu kommen, und die deuten darauf hin, dass Deutschland den Anschluss bereits verloren hat. Das Land ist längst dysfunktional. Wenn ein Land für 1,2 Kilometer Autobahnbrücke zehn Jahre braucht, dann stimmt etwas im Grundsatz nicht.
Statt darauf zu drängen, in anderen Ländern ein deutsches Wertesystem zu implementieren, zu belehren und sich in moralischer Hybris zu suhlen, stünde Deutschland eine neue Bescheidenheit gut zu Gesicht, denn Deutschland ist schon längst nicht mehr das, wofür es sich selbst noch immer hält: eine innovative Wirtschaftsmacht, an deren Standard sich die Welt orientiert. Deutschland ist rückständig und in vielen Bereichen unterentwickelt.
Statt den Fokus nach außen zu richten, wäre es notwendig, die Dysfunktionalitäten im Innern überhaupt erst einmal verstehen zu lernen, um sie schließlich beheben zu können. Doch davon sind die politischen Eliten weit entfernt und viele Deutsche eben auch. Man tritt noch immer mit einem Gestus auf, der schon längst nicht mehr angemessen ist. Für einen Brückenbau braucht man keine zehn Jahre und die Digitalisierung darf in einem Land, das sich zur Weltspitze zählt, nicht zum politischen Spielball und zu einer Frage der Kosten werden. Weil aber beides der Fall ist, ist Deutschland schon den Fakten nach längst nicht mehr da, wo es sich selbst immer noch glaubt: an der Spitze.
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