Der Präsident Russlands Wladimir Putin hat am Donnerstag vor dem Waldai-Forum eine Grundsatzrede zu seiner Vision der Zukunft Russlands und der Welt gehalten. Anschließend beantwortete Putin Fragen von Journalisten und Forumsteilnehmern zu einer breit gefächerten Themenauswahl.
Den ersten Teil seiner Rede widmete der Präsident einer Analyse der aktuellen Weltlage. Die moderne Welt sei gefährlich und habe die Orientierung verloren, sagte er.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hätten alle gehofft, dass die Staaten und Völker die nötigen Lehren aus der kostspieligen ideologischen Konfrontation im 20. Jahrhundert gezogen hätten. Die Lehre aus dem letzten Jahrhundert hätte nach Auffassung Putins sein müssen, dass Egoismus in den internationalen Beziehungen und Versuche, anderen die eigenen Vorstellungen und Interessen aufzuzwingen, unweigerlich in eine Sackgasse führen. Dies, so Putin, hätte allen offensichtlich werden müssen, ist es aber nicht.
Russland habe die nach dem Zusammenbruch der UdSSR entstandene Krise überwunden und hoffe, sich einer gerechten Weltordnung anzuschließen, aber seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit werde von einigen als Schwäche missverstanden – “als ein Eingeständnis, dass Russland bereit ist, im Fahrwasser eines anderen zu agieren”.
Die Welt sei zu komplex und vielfältig für ein Monopol, auch wenn es durch die über Jahrhunderte angesammelte Macht der Kolonialpolitik gestützt wird. Ein großer Teil dieser Anhäufung wurde durch die Ausplünderung von Kolonien, wenn nicht sogar des gesamten Planeten, aufgebaut.
“Die Geschichte des Westens ist im Wesentlichen eine Chronik der endlosen Expansion”, sagte Putin.
Für ihn liegt auf der Hand, dass der Wunsch, die Welt in eine “Wir/Sie”-Dichotomie zu treiben, ein “perverses Erbe der westlichen politischen Kultur des 20. Jahrhunderts” ist. Die westlichen Eliten brauchen einen Feind, mit dessen Existenz sie ihr Expansionsstreben rechtfertigen und die Kontrolle im Inneren aufrechterhalten können. Als Beispiel führte der Präsident an, wie die USA die Russophobie für die Aufrechterhaltung ihrer Dominanz im NATO-Block nutzen:
“Es gibt einen Feind – alle müssen sich um den Chef scharen”, sagte der Präsident.
Gleichzeitig werden verschiedene Gründe für Zwang erfunden und nicht existierende Bedrohungen aufgebauscht. Russland, so Putin, sei ein Lieblingsthema der Politiker, aber auch andere Länder würden gemacht zum Feindbild: China und in bestimmten Situationen auch Indien.
Nach dem Analyseteil schilderte Putin seine Zukunftsvision:
“Erstens will Russland in einer offenen Welt leben, in einem Umfeld ohne Barrieren. Zweitens: Die Vielfalt der Welt muss erhalten bleiben. Der dritte Punkt ist die maximale Repräsentation (aller Länder). Niemand kann stellvertretend für andere regieren, die Welt der Zukunft ist eine Welt der kollektiven Entscheidungen. Der vierte Punkt ist die universelle Sicherheit, die vor allem darin besteht, die internationalen Beziehungen vom Blockdenken zu befreien und sich zu weigern, die internationalen Beziehungen als Nullsummenspiel zu verstehen.”
Russland werde sich künftig als eine eigene Zivilisation mit eigener Wertigkeit und hohem Selbstwertgefühl verstehen. Es werde sich jedoch von der Welt nicht abgrenzen und auch ihre Probleme nicht mit Gleichgültigkeit von der Seitenlinie betrachten:
“Russland war, ist und wird die Basis des Weltsystems sein, bereit zum harten Widerstand gegen diejenigen, die sich zu den Prinzipien von Diktat und Gewalt bekennen”, so Putin.
Abschließend verkündete Russlands Präsident:
“Die multipolare Welt hat gesiegt.”
Ein großer Block der Rede war wie zu erwarten der Lage in der Ukraine und den Ursachen des Konflikts gewidmet. Der Krieg dort habe nicht 2022 begonnen, sondern 2014, und begonnen habe er mit dem verfassungswidrigen Umsturz in Kiew. Diesen habe der Westen, federführend die USA, mit dem ausdrücklichen Ziel organisiert, die Region zu destabilisieren und Russland Probleme an seinen Grenzen zu bereiten:
“Wir haben den sogenannten Krieg in der Ukraine nicht begonnen. Im Gegenteil, wir versuchen, ihn zu beenden. Wir haben den Staatsstreich in Kiew nicht organisiert”, unterstrich der Präsident.
In der Zwischenzeit habe der russische Staat die Krimbewohner und die Bewohner von Sewastopol unterstützt, niemanden im Sinne der Nazis eingeschüchtert und nicht mit Massakern an denen gedroht, die ihre Sprache sprechen wollten, fügte Putin hinzu.
Der Westen habe die jahrelangen Leiden der Bevölkerung im Donbass ignoriert und Kiew nicht zur Einstellung seiner Übergriffe dort angehalten:
“Und niemand hat die toten Kinder im Donbass gezählt, und niemand hat um die Toten geweint”, betonte er.
Russland verfolge in der Ukraine keine imperialistischen Ziele. In einer späteren Antwort auf eine Frage im Diskussionsblock betonte Putin, dass Russland sogar einen Beitritt der Ukraine zur EU hinnehmen wolle, es könne aber einen Beitritt des Nachbarlandes zur NATO nicht akzeptieren:
“Wir waren nie gegen einen Beitritt der Ukraine zur EU, und was die NATO betrifft, so waren wir immer dagegen, weil es unsere Sicherheit bedroht.”
An späterer Stelle sagte der Präsident, es sei Sache der Europäer, wenn sie sich diese Last mit jährlichen Milliardenzahlungen aufbürden wollen, die erforderlich sind, um die zerstörte ukrainische Wirtschaft zu stützen.
Ein weiterer Fragenblock galt dem Ende des von Aserbaidschan abtrünnigen Bergkarabach. Ein Journalist wies darauf hin, dass der EU-Ratsvorsitzende Charles Michel Russland des “Verrats am armenischen Volk” beschuldigt habe. Darauf antwortete Putin sinngemäß, dass Michel sich an die eigene Nase fassen sollte.
Russland habe seinen armenischen Freunden mehrfach vorgeschlagen, Kompromisse zu schließen – die fünf Bezirke um Karabach an Baku zurückzugeben und die Verbindung zwischen Armenien und Karabach zu erhalten. Jerewan habe dies jedes Mal mit der Begründung abgelehnt, das würde für Armenien eine Bedrohung darstellen. Russland sei bereit gewesen, die Sicherheit des Latschin-Korridors und der in diesem Gebiet lebenden Armenier mithilfe von UN-Mechanismen zu garantieren, habe aber zu hören bekommen: “Wir werden kämpfen.”
In dieser Position sei Jerewan trotz aller Mahnungen unnachgiebig gewesen, unterstrich Putin und gab einen Teil dieser Gespräche zwischen Moskau und Jerewan wieder:
“‘Hört zu: Sie (das aserbaidschanische Militär) werden in einigen Tagen von hinten kommen und eure Befestigungen im Gebiet von Agdam durchbrechen. Was werden Sie tun?’ Die Antwort war dieselbe: ‘Wir werden kämpfen’.”
Gleichzeitig hatten die russischen Friedenstruppen keinen schriftlich festgelegten Status, alles basierte auf der einen Erklärung vom November 2020:
“Die Rechte der Friedenstruppen bestanden nur aus einem Punkt – Beobachtung der Einhaltung des Waffenstillstands. Sie hatten keine anderen Rechte.”
Armenien hingegen hatte Karabach bei einem Treffen in Prag im Jahr 2020 als Teil der Republik Aserbaidschan anerkannt und betont, dass es die Souveränität Bakus im Rahmen der Aserbaidschanischen SSR anerkenne, zu der Karabach gehört hatte. Die Rechte der Einwohner von Bergkarabach habe Jerewan in diesem Zusammenhang nicht gesichert, obwohl die Möglichkeit zu einer umfassenden Vereinbarung bestanden habe, unterstrich der russische Präsident.
“Es war nur eine Frage der Zeit, wann Aserbaidschan die verfassungsmäßige Ordnung auf seinem Territorium wiederherstellen würde”, fügte er hinzu.
Hervorzuheben ist noch Putins Antwort auf die Frage, die der Politikwissenschaftler Sergei Karaganow an den Präsidenten richtete. Karaganow, der vor einiger Zeit in einer Artikelserie begrenzte Nuklearschläge gegen einzelne europäische Länder gefordert hatte, fragte, ob es angesichts der vom Westen betriebenen Eskalation in der Ukraine nicht an der Zeit sei, die russische Doktrin zum Kernwaffeneinsatz zu ändern.
Putin verneinte dies. Die russische Doktrin sehe den Einsatz von Atomwaffen in zwei Fällen vor: zum einen als Antwort auf einen Atomschlag gegen Russland, zum anderen dann, wenn die Existenz der Russischen Föderation durch eine konventionelle Aggression gefährdet sei. Nichts davon zeichne sich aktuell ab. An der Front in der Ukraine sehe man, was man zu tun habe. Dort werde Russland die passenden Antworten finden.
Auf die Frage, ob es nicht an der Zeit sei, das Testen von Atomwaffen wiederaufzunehmen, zumal die USA den Vertrag über das Verbot nuklearer Tests nicht ratifiziert haben, entgegnete der Präsident, dies könne er sich vorstellen. Es sei Angelegenheit der Duma, des russischen Parlaments, ob es die erfolgte Ratifizierung des Vertrages aufhebe.
Eine kuriose Frage stellte ein Forumsteilnehmer aus Sri Lanka. Er fragte, ob es angesichts der Tatsache, dass Russland vom westlichen Imperialismus angegriffen werde, historisch betrachtet nur Kommunisten – er nannte China, Vietnam und Nordkorea als Beispiele – gelungen sei, imperialistische Aggression zu besiegen. Er fragte weiter, ob es auch angesichts der Tatsache, dass Lenin das wichtigste Werk zum Imperialismus geschrieben habe, nicht an der Zeit sei, die Oktoberrevolution und Lenin selbst positiver zu sehen. Putin stimmte nach einigem Zögern und Rückfragen dem Fragesteller zu:
“Ja, Sie haben Recht.”
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