In Lebork, wo die Gleise rostig und die Schornsteine kalt geworden sind, steht ein Mann mit markantem Seitenscheitel vor einer Rossmann-Filiale. Hinter ihm wehen vier polnische Fahnen. Davor: ein paar hundert Menschen, viele jung, viele mit Smartphones, einige mit Bier. Sławomir Mentzen beginnt zu sprechen. Es ist seine 297. Rede in diesem Jahr. Und keine ist leiser als die letzte.
Polen braucht einen neuen Führer, meint er, und man merkt ihm an, dass das kein Versprecher ist. Der Mann meint es ernst – und die Menge auch. Die Kaczyński-Ära sei vorbei, sagt Mentzen, Donald Tusk sei ein Verräter, Brüssel eine Bedrohung. Er, Mentzen, sei die neue Kraft des Volkes. Eines Volkes, das seiner Ansicht nach endlich genug hat: von alten Männern, alten Parteien, alten Problemen.
Was sich anhört wie ein Echo aus dem 20. Jahrhundert, kommt 2025 mit dem Gesicht eines 38-jährigen Steuerberaters, promovierten Ökonomen und nebenberuflichen Bierbrauers daher. Mentzen ist eloquent, digital versiert, diszipliniert – und er verpackt autoritäres Denken in die Sprache von YouTube und Meme-Kultur. Seine Partei heißt Nowa Nadzieja, Neue Hoffnung, und sie ist der Motor der ultrarechten Konfederacja, die sich aus Nationalisten, Libertären und Katholiken speist.
Er wirkt smart, adrett, zynisch – wie ein polnischer Javier Milei ohne Perücke. Ein Mann, der neoliberale Wirtschaft, kulturellen Revanchismus und rechte Aufreger geschickt kombiniert: gegen Migranten, gegen die LGBT-Ideologie, gegen Brüssel, gegen Deutschland, gegen “faule Ukrainer”. Seine Videos auf TikTok und Instagram erreichen Millionen. Und in Umfragen liegt er bei den unter 30-Jährigen auf Platz zwei. Hinter Rafał Trzaskowski, aber knapp.
Mentzens Aufstieg fällt nicht vom Himmel. Er ist Ergebnis einer politischen Erosion, die Polen seit Jahren durchzieht. Die Nationalkonservativen der PiS um Jarosław Kaczyński haben das Land acht Jahre lang regiert, mit harter Hand, kontrollierten Medien und nationalistische Rhetorik. Doch 2023 wurden sie abgewählt – ein knapper Sieg für die liberale Koalition um Tusk. Präsident Andrzej Duda, ein PiS-Mann, blockiert seitdem fast jede Reform.
Das Land ist gespalten: zwischen Stadt und Land, Jung und Alt, West und Ost. Die Justiz ist paralysiert, die Preise steigen, die Bürokratie erstickt Innovation. Und genau hier setzt Mentzen an: Er gibt sich als Antipolitiker mit Ökonomendiplom, als Revolutionär im Anzug.
Mentzen ist ein Mann mit zwei Gesichtern. Das erste zeigt er in den sozialen Netzwerken: ein eloquenter Intellektueller mit klarem Blick, digitaler Souveränität und einem Hang zur ironischen Zuspitzung. Das zweite Gesicht sieht man auf seinen Wahlkampfbühnen: Dort donnert er gegen die LGBT-Bewegung, spricht von einer “Brüsseler Diktatur”, verteufelt Geflüchtete und gibt sich als Retter der nationalen Seele.
In einem seiner meistgeteilten Videos steht er vor einer Kamera und sagt:
“Wir wollen keine Juden, keine Homosexuellen, keine Abtreibungen, keine Steuern und keine EU.”
Das war 2019. Heute versucht er, diese Worte als “jugendlichen Zynismus” zu relativieren – doch sie kleben an ihm wie an keinem anderen.
Trotz – oder gerade wegen – solcher Aussagen ist er zum Liebling einer wütenden Generation geworden. Mentzen verkörpert den Frust junger Polen, die sich weder in der alternden PiS noch in der saturierten liberalen Elite wiederfinden. Seine Rhetorik ist hart, aber nie grobschlächtig. Seine Angriffe sind kühl kalkuliert, seine Skandale choreografiert. Er nennt das “strategische Polarisierung”.
Geboren wurde Mentzen 1986 im nordpolnischen Toruń, einer Stadt mit hanseatischer Vergangenheit und katholischer Gegenwart. Sein Vater war Mathematiker, die Mutter Ärztin – ein bürgerliches Elternhaus, in dem Werte und Disziplin zählten. Mentzen studierte an der Nikolaus-Kopernikus-Universität Volkswirtschaftslehre, promovierte über Steuerpolitik und gründete früh eine Steuerkanzlei.
Parallel dazu begann er Bier zu brauen – nicht als Hobby, sondern als Geschäftsmodell. “Browar Mentzen” ist heute eine Marke, in der Politik und Produkt ineinandergreifen. Bier mit Namen wie “Konstytucja” oder “AntyLewak” (Anti-Linker) verbreiteten sich rasant, nicht zuletzt durch Influencer und rechte YouTube-Stars. Mentzen hat verstanden, dass Politik in Polen auch Konsumkultur ist. Er verkauft seine Weltanschauung wie eine Marke – mit Etikett, Preis und Positionierung.
Seine Partei Nowa Nadzieja war ursprünglich eine Abspaltung der libertären KORWiN-Bewegung, die sich nach dem exzentrischen Janusz Korwin-Mikke benannte – einem Altliberalen mit monarchistischen Neigungen und frauenfeindlichem Humor. Mentzen, der Korwin-Mikke lange als Mentor verehrt hatte, übernahm 2022 die Parteiführung und versuchte eine Imagekorrektur. Er gab sich moderner, jünger, professioneller – doch die ideologische DNA blieb dieselbe.
Heute ist Nowa Nadzieja Teil der Konfederacja Wolność i Niepodległość, einer nationalistisch-libertären Sammlungsbewegung, die im Sejm knapp sieben Prozent hält – zu wenig für die Regierung, zu viel, um ignoriert zu werden. Mentzen fungiert darin als ideologischer Taktgeber, rhetorischer Profi und politischer Strippenzieher.
Im EU-Parlament sind seine Leute nicht vertreten, in Warschau dagegen zunehmend präsent. Seine Nähe zur katholischen Kirche ist taktisch, nicht spirituell. Der Glaube, so sagte er einmal, sei “eine soziale Ressource”. Seine eigentlichen Götter heißen Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek – ultralibertäre Vordenker, die auch den argentinischen Präsidenten Javier Milei inspirieren.
Polens Jugend, sagt Mentzen, sei “von Kaczynski entmündigt und von Tusk betrogen”. Was auf den ersten Blick nach einem typischen Oppositionsslogan klingt, hat bei vielen unter 30 einen Nerv getroffen. Die sogenannte Pokolenie Mentzena, die “Mentzen-Generation”, wächst – sowohl online als auch offline. In TikTok-Clips spielt er den volksnahen Erklärer, auf Instagram inszeniert er sich im Maßanzug, umgeben von Messing und Eichenholz, mit gelegentlichem Blick in den Bierkessel.
Laut aktuellen Umfragen erreicht Mentzen unter Jungwählern bis zu 25 Prozent Zustimmung – weit mehr als jeder andere Kandidat. Das liegt nicht nur an seinen Inhalten, sondern an der Ästhetik seines Auftritts. Während Trzaskowski bemüht staatsmännisch wirkt und PiS-Kandidat Karol Nawrocki steif wie ein Parteibuch daherkommt, spricht Mentzen die Sprache einer Generation, die sich zwischen Gaming, Frustration und Nationalstolz verorten will.
Geopolitisch gibt sich Mentzen polnisch-souverän – was in seiner Rhetorik bedeutet: antieuropäisch, antiamerikanisch und vor allem: antiglobalistisch. Er kritisiert die militärische Abhängigkeit Polens von den USA, lehnt NATO-Erweiterungen nach Osten ab und warnt vor einer “neuen Einmischung” des Westens in die polnische Souveränität. Gleichzeitig verurteilt er Russland – aber nie so scharf wie seine Konkurrenten. Diese Ambivalenz hat ihm den Vorwurf eingebracht, mit Kreml-Narrativen zu flirten.
Mentzen selbst spricht lieber von “Realpolitik”: Polen müsse seine Interessen neu definieren – nicht als Brückenkopf des Westens, sondern als “neutraler Akteur” mit eigenem Machtanspruch. In seinen Interviews verteidigt er Viktor Orbán, warnt vor deutschen Industrieinteressen und nennt die Klimapolitik der EU “eine grüne Planwirtschaft”.
Einmal sagte er in einer TV-Runde:
“Wir sind doch nicht der Hofstaat Washingtons.”
Es war ein Satz, der in konservativen Jugendforen bejubelt und in liberalen Redaktionen mit Kopfschütteln quittiert wurde.
Dass Mentzen in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 15 oder gar 20 Prozent holen könnte, macht ihn zu einem ernst zu nehmenden Königsmacher. Weder die PiS noch die Bürgerplattform kann es sich leisten, ihn offen zu attackieren. Während Trzaskowski versucht, dessen Wählerschaft mit betont konservativen Signalen abzuwerben – etwa durch Kritik an Sozialleistungen für ukrainische Geflüchtete –, hofiert die PiS Mentzens Bewegung stillschweigend. PiS-Kandidat Nawrocki meidet jede direkte Konfrontation, wohl wissend, dass er dessen Stimmen in der Stichwahl brauchen wird.
Mentzen nutzt diese strategische Lücke geschickt. Er giftet gegen Trzaskowski, schweigt zu Nawrocki – und stellt sich so als einzig echte Opposition dar. Die Konfederacja wird damit zum Pendelgewicht in der Mitte eines zunehmend polarisierten Landes.
Gleichzeitig profitiert Mentzen vom tiefen institutionellen Misstrauen vieler Polen. Korruption, Vetternwirtschaft, Mediengleichschaltung und Justizkrisen haben das Vertrauen in das politische Establishment massiv untergraben. In diesem Vakuum erscheint ein rhetorisch versierter Außenseiter wie Mentzen vielen nicht als Gefahr, sondern als Hoffnung.
Im August 2025 endet die Amtszeit von Staatspräsident Duda – und mit ihr die politische Nachspielzeit der nationalkonservativen PiS. Sollte es der neuen Regierung von Tusk bis dahin nicht gelingen, einen eigenen Kandidaten durchzubringen, droht Polen eine institutionelle Blockade, wie sie das Land seit 1989 nicht erlebt hat.
Mentzen selbst hält sich noch bedeckt. Öffentlich vermeidet er klare Aussagen zur Möglichkeit eines Koalitionsbündnisses mit der PiS – genauso wie zu konkreten Plänen für ein Präsidentenamt. Hinter den Kulissen aber, so berichten polnische Journalisten, sondieren seine Berater längst mögliche Ministerien, diplomatische Posten und Medienallianzen.
Dziękuję Bieruń! O 20:00 finał kampanii w Krakowie! pic.twitter.com/QiLviXWJFE
— Sławomir Mentzen (@SlawomirMentzen) May 16, 2025
Ob er wirklich antreten wird, dürfte vom Ausgang der ersten Wahlrunde abhängen. Holt er ein zweistelliges Ergebnis, wird er zum Machtfaktor. Holt er über 20 Prozent, wird er zur zentralen Figur einer postliberalen Ordnung in Polen.
Sein Erfolgsrezept: eine Mischung aus Anti-Establishment, digitaler Souveränität, wirtschaftlichem Liberalismus und nationaler Rhetorik. Eine toxische, aber in Osteuropa zunehmend verbreitete Melange – von Bratislava bis Sofia, von Budapest bis Warschau.
Ob Mentzen der nächste Präsident Polens wird, ist offen. Sicher ist: Der Mann, der vor wenigen Jahren noch als rechter Witzbold galt, ist inzwischen der gefährlichste Herausforderer des politischen Systems.
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