Von Dagmar Henn
Das klingt komisch, oder? Was hat Politik mit Mathematik zu tun? Mehr, als man in der Regel glaubt. In vielen Fällen beruhen politische Täuschungen darauf, Zahlen auszulassen, die Zusammenhänge zu verwirren oder Größenverhältnisse zu verschleiern.
Nehmen wir ein aktuelles Beispiel. Die FDP fordert, das Bürgergeld zu kürzen; schließlich sei die Inflation nicht mehr so hoch. Was FDP-Fraktionschef Christian Dürr bei dieser Forderung nutzt, ist die Tatsache, dass nur wenige dann, wenn die aktuelle Inflation erwähnt wird, daran denken, dass die Inflation von gestern deshalb nicht verschwindet, sprich, dass die Preise einfach nur langsamer steigen; was jeder in Deutschland eigentlich an seinem Geldbeutel spüren kann, aber oft vergessen wird, wenn es in einen abstrakten Zusammenhang gestellt wird. Mehr noch – wenn jetzt eine Inflation von 2,3 Prozent herrscht (das ist der aktuelle Wert vom Juli), dann ist das in reale Beträge umgesetzt ein anderer Wert, als eine Inflation von 2,3 Prozent im Jahr 2021 gewesen wäre.
Denn mit der Inflation geht es so wie mit der Zinsberechnung. Die Grundlage der Berechnung verändert sich. Wenn in einem Jahr ein großer Anstieg erfolgt, sagen wir einmal, von einem Ausgangswert von 100 auf 150, dann sind es danach eben nicht mehr 2,3 Prozent von 100, sondern 2,3 Prozent von 150; bezogen auf die ursprüngliche Basis 100 wären das bereits 3,45 Prozent.
Wenn man sieht, wie sich die Preise im Bereich Nahrungsmittel und Energie entwickelt haben, ist die Veränderung deutlich. Das Statistische Bundesamt nimmt das Jahr 2020 als Grundlage, das heißt, die Preise des Jahres 2020 werden mit 100 gleichgesetzt. Dann liegen die aktuellen Nahrungsmittelpreise bei 132,8, die Energiepreise sogar bei 148,8; also der eine Wert um ein Drittel, der andere sogar um die Hälfte über dem Ausgangswert vor vier Jahren. Nahrungsmittel und Energie zusammen bilden bei der Berechnung des Bürgergelds schon die Hälfte des gesamten Betrages.
Aber wer hat schon derartige Berechnungen im Kopf, wenn man die Nachrichten hört? In der Regel werden sie dort jedenfalls nicht gemacht. Dabei können solche kleinen, trockenen Informationen sehr viel daran verändern, wie man Ereignisse wahrnimmt und versteht.
Ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte: die Wiedervereinigung der Krim mit Russland im Jahr 2014. In der Regel wird das im Westen als eine Art russischer Putsch erzählt, und die “höflichen grünen Männer” kamen dieser Vorstellung nach nicht einfach aus den Kasernen der russischen Marine, die ohnehin auf der Krim waren (und auch Russland hat Marineinfanterie, falls sich jemand fragt, warum sie nicht wie Matrosen aussahen); und überhaupt war es nicht die Bevölkerung der Krim, die das Referendum wollte. Wenn ganz viel guter Wille vorhanden ist, dann wird vielleicht erwähnt, dass sich viele Einwohner der Krim als Russen fühlten (was aber ein bisschen so klingt wie “er fühlt sich als Frau”).
Ausschlaggebend dafür, dass auf den Verbindungsstraßen der Krim zum Festland damals sehr schnell Straßensperren auftauchten, war allerdings weder die politische Vorgeschichte des Bemühens um zumindest eine stärkere Autonomie noch irgendeine russische Manipulation; sondern ein ganz konkretes Ereignis, das für viele Einwohner der Krim eine ähnliche Signalwirkung hatte wie später der Brand in Odessa für den Rest der Ukraine: der Überfall auf Antimaidan-Demonstranten bei Korsun am 19. Februar, also noch vor dem Putsch.
Während des Maidan gab es auch Gegendemonstrationen, und an diesen nahmen vielfach Bürger von der Krim teil. An diesem 19. Februar befand sich eine Buskolonne mit Antimaidan-Demonstranten auf der Rückfahrt zur Krim, als sie von Angehörigen der Nazipartei Swoboda und von Wladimir Klitschkos UDAR angehalten wurde. Ein Busfahrer wurde erschossen; die Fensterscheiben der Busse wurden zertrümmert, die Insassen mit Waffengewalt herausgetrieben; sie mussten sich auf die Glasscherben vor den Bussen knien und “Heil der Ukraine” rufen, den Gruß der Faschisten. Die Busse wurden niedergebrannt; die Insassen anschließend über Stunden hinweg durch die Wälder gejagt. Das Endergebnis waren mehrere Tote und Dutzende auch Schwerverletzte.
Diese Information erreichte den Westen bestenfalls in Bruchstücken. Auf der Krim hatte das allerdings eine ganz andere Wirkung. Dort wurden nicht nur die Videos gesehen, die die Ukronazis, wie sie nun einmal sind, voller Stolz ins Netz stellten; dorthin kehrten auch die Demonstranten zurück, die diesen Schrecken erlebt hatten. Denn sie alle kamen von der Krim.
Und jetzt kommt der Teil, bei dem die Zahlen wichtig werden. Die Krim hat eine Fläche, die etwas größer ist als die von Mecklenburg-Vorpommern; sie ist aber mit 2,3 Millionen Einwohnern dichter besiedelt. Wenn von diesen 2,3 Millionen auch nur 200 persönlich Zeugen dieses Überfalls waren, dann kennt zumindest jeder jemanden, der jemanden kennt, der dabei war. Das bedeutet: Das ist keine Information mehr, die irgendwie in der Zeitung berichtet wird, sondern die über die privaten Netzwerke kommt, über den Nachbarn oder die Großmutter oder den Postboten. Und jeder kann in seinem eigenen Leben Beispiele finden, wie viel stärker diese Art Information wirkt als eine Nachricht in der Zeitung oder selbst ein Video im Internet. Sobald man Opfer mit Namen kennt, wird die Sache persönlich.
Es gibt also beim Vorlauf auf der Krim eine Dynamik, die sich nur im Zusammenhang mit diesen Größenverhältnissen erschließt. Dann wird auf einmal dieser recht schnelle Sprung hin zu einem Referendum nachvollziehbar, ganz ohne russisches Einwirken; weil gerade bei den “prorussischen” Politikern auf der Krim die Wahrscheinlichkeit hoch war, dass jemand aus ihrem persönlichen Umfeld diesen Überfall erlebt hatte, wenn sie nicht sogar selbst Zeugen und Opfer wurden. Dass vor diesem Hintergrund die Drohung des Chefs des Rechten Sektors, man werde als Nächstes auf der Krim aufräumen, die unmittelbar auf den Putsch folgte, Maßnahmen zum Selbstschutz auslöste, ist nur natürlich. Und der wirksamste Schutz bestand eben darin, nicht länger Teil dieses Staates sein zu müssen.
Oder nehmen wir ein anderes Beispiel, auch wenn ich es gerade erst genutzt habe. Wer deutsche Zeitungen aufschlägt, der wird nur vereinzelt etwas Kritisches über den israelischen Krieg in Gaza lesen, aber erstaunlich viel über vermeintliche russische Kriegsverbrechen. Auch hier sind es wieder Zahlen, die die Proportionen wieder geraderücken. Dazu muss man einfach nur so tun, als wäre die Ukraine ein vergrößertes Gaza. Das verdeutlicht, dass die russische Armee mitnichten in verbrecherischer Weise gegen Zivilisten vorgeht, die israelische aber sehr wohl.
Derzeit weiß niemand, wie groß die Bevölkerung der Ukraine tatsächlich noch ist; die Schätzungen bewegen sich aktuell zwischen 25 und 30 Millionen (1993 waren es noch 52 Millionen). Mit einem Wert von 24 Millionen für heute ist man also auf jeden Fall auf der sicheren Seite und übertreibt nicht. Gaza hat etwa zwei Millionen Einwohner. Der Krieg in Gaza währt inzwischen zehn, die russische Sonderoperation begann vor 30 Monaten. Beides zusammen ergibt einen Faktor von 36, wenn wir das eine auf dem anderen abbilden wollen.
Es kursieren eine Menge Zahlen in Bezug auf Gaza, weil es unter den Umständen eines ständigen Bombardements kaum möglich ist, die Daten überhaupt zu erhalten. Die bekanntesten sind die Zahlen des Gesundheitsministeriums von Gaza, die von 40.000 toten Zivilisten reden. Die britische Medizinzeitschrift The Lancet brachte eine Schätzung von 180.000, und die Journalistin Eva Bartlett, die jahrelang dort gelebt hat, zitierte jüngst einen Arzt aus Gaza, der die Zahlen von The Lancett mindestens noch einmal mit vier multiplizieren würde, also – allerdings langfristig, inklusive der Spätfolgen – auf 720.000 Opfer käme.
Nehmen wir also die erste Zahl. Das ergäbe 1,44 Millionen zivile Opfer in der Ukraine. Die zweite, nach The Lancet, beträgt bereits 6,48 Millionen. Mit der dritten wäre die Ukraine bereits völlig entvölkert, absolut menschenleer, denn das Ergebnis wären 27 Millionen.
Das ist bereits kaum mehr vorstellbar. Aber selbst die mittlere Schätzung ergäbe ungefähr die Zahl der deutschen Toten im Zweiten Weltkrieg, Soldaten und Zivilbevölkerung zusammengenommen. Wie wäre es möglich, das zu verbergen? Bekämen wir dann nicht täglich aus der Ukraine die Bilder von zerstörten Städten zu sehen? Die Berge von Toten?
Sobald man diese Zahlen einander gegenüberstellt, wird klar: Das, was Russland durchführt, ist tatsächlich kein Krieg, schon gar kein Krieg nach den Maßstäben des Westens, weil die Zahl der zivilen Opfer ausgesprochen niedrig ist, und das nicht, weil Russland die Möglichkeiten gefehlt hätten, Städte zu pulverisieren. Und das, was Israel in Gaza tut, hat es nur deshalb noch nicht auf den absoluten Spitzenplatz menschenfeindlicher Kriegsführung geschafft, weil Gaza so klein ist und kaum jemand sich die Mühe macht, die Zahl der Opfer ins Verhältnis mit der gesamten Bevölkerung zu setzen, oder einfach mal für sein eigenes Land nachzurechnen, was das bedeuten würde.
Um auch das noch zu liefern, hier die Umrechnung der drei Werte für Gaza auf Deutschland, mit einer Einwohnerschaft von 83 Millionen. Diesmal entspringt der Faktor nur der Größe und nicht der Zeit, beträgt also 41,5. Damit werden aus 40.000 1,66 Millionen, aus 180.000 werden 7,47 Millionen und aus 750.000 ganze 29,8 Millionen. Oder, um es geografisch fassbarer zu machen: Der untere Wert wäre die ganze Stadt München und ein wenig ihres Umlands; der mittlere wäre ganz Hessen und das Saarland, und der obere wäre Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz zusammengenommen.
Das fühlt sich schon ganz anders an als die Zahl 40.000, oder? Selbst die kleinste der Zahlen lässt an eine absolute Katastrophe denken, an ein Ereignis von einer zerstörerischen Wucht, die nur schwer zu übertreffen ist. In größeren Ländern wäre eine derartige Katastrophe ohne den Einsatz von Atomwaffen in derart kurzer Zeit gar nicht zu erreichen. Das ist aber die Dimension, wenn man sich wirklich darüber klar werden will, was da in Gaza derzeit geschieht.
Doch gehen wir noch einmal zurück zur ganz alltäglichen deutschen Politik. Der Bereich, in dem am deutlichsten mit Zahlen betrogen wird – die ganze Corona-Geschichte –, liefert viel zu viele fragwürdige Zahlen, um hier behandelt zu werden; aber das ist sicher einer der weitreichendsten Fälle dieser Geschmacksrichtung. Hier geht es jedoch einfach nur darum, einmal vorzuführen, warum Aufmerksamkeit in diesem Zusammenhang wichtig ist.
Ein sehr deutliches Beispiel ist eine Zahl, die immer wieder auftaucht: die berühmten 2,5 Prozent des BIP, die die NATO-Mitglieder zu den Verteidigungsausgaben beisteuern sollen. Das war einer der schmutzigsten Zahlentricks, denen ich je begegnet bin. Denn wer bezieht normalerweise Ausgaben aus dem Bundeshaushalt auf das Bruttoinlandsprodukt? Ein Taschenspielertrick, der sofort signalisiert: Ist ja nicht so schlimm, sind ja nur 2,5 Prozent.
In der wirklichen Welt ist aber der Bundeshaushalt die Bezugsgröße. Der liegt – langfristig, weil es dabei nicht nur um den aktuellen Haushalt, sondern um eine dauerhafte Verpflichtung geht – bei ungefähr zehn Prozent des BIP. Und 2,5 Prozent des BIP sind wie viele Prozent des Bundeshaushalts? 25. Ein ganzes Viertel. Jeder vierte Euro. Das klingt schon ganz anders, oder?
Übrigens, in den Bundeshaushalt – die Zahl habe ich jetzt nicht langfristig gesucht, sondern einfach vom vergangenen Jahr genommen – fließen 38,8 Prozent der gesamten Steuereinnahmen in Deutschland. Das bedeutet, 9,7 Prozent oder ungefähr jeder zehnte Euro, den der deutsche Staat irgendwo einnimmt, bis zur Hundesteuer, landet bei der Rüstung.
Das sind völlig andere Dimensionen, die nicht mehr so unschuldig klingen wie die 2,5 Prozent, sondern im Gegenteil bedrohlich, weil jeder vor seinem inneren Auge aufsteigen sieht, was denn nun alles gekürzt werden soll, damit dieses Geld dafür ausgegeben werden kann. Die Renten? Der Nahverkehr? Die Investitionen in Straßen und Brücken, oder doch eher die Bildung?
Genau das ist der Grund, warum immer von diesen 2,5 Prozent geredet wird, und niemand einen konkreten Milliardenbetrag oder gar den Anteil am Bundeshaushalt benutzt. Weil die wirkliche Wucht nicht klar wird und viele, wenn man sie fragt, ob sie einem Anteil von 2,5 Prozent zustimmen würden, entspannt mit “Ja” antworten; weil ihnen nicht klar ist, warum ihnen gerade diese Bezugsgröße vor die Nase gehalten wird, und eben nicht der Bundeshaushalt.
Wie man sieht, mit Zahlen kann man ziemlich böse Spiele treiben, weshalb man immer aufpassen sollte, in welchem Zusammenhang sie stehen. Nur durch Aufmerksamkeit und gelegentliches Nachrechnen kann man den Fallen entgehen, die in diesem Bereich aufgestellt werden. Und ja, sie werden oft aufgestellt und passieren nicht einfach aus Dummheit. Die Sache mit den 2,5 Prozent stammt definitiv aus der PR-Abteilung der NATO, da hat sich jemand den Kopf zerbrochen, wie man die Bedeutung verschleiern kann. Das ist einer der Gründe, warum der schlechte Bildungsstand im Fach Mathematik so verheerend ist; selbst einfache Rechnungen fallen vielen so schwer, dass sie sie meiden. Wenn man aber bereit ist, etwas mehr Rechenleistung in die Wahrnehmung politischer Informationen zu stecken, muss man viel seltener ein X anstelle eines U hinnehmen.
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