Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) hat sich trotz des infolge der Corona-Pandemie und des Kriegs in der Ukraine drohenden Zusammenbruchs der Lebensmittelversorgung in Deutschland gegen eine Abkehr von den Klima- und Naturschutzzielen ausgesprochen. Zwar nehme er das Thema Hunger sehr ernst. “Aber man darf es nicht als Argument missbrauchen, um Abstriche bei Biodiversität und Klimaschutz zu machen”, sagte der Grünen-Politiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ).
“Ich fürchte, dass es manchen, die die globale Ernährungssicherheit nun hochhalten, genau darum geht.”
Tatsächlich sei der Hunger heute aber dort am schlimmsten, “wo die Klimakrise am brutalsten zuschlägt”, erklärte Özdemir. Deshalb sei ihm die Entscheidung, deutschen Landwirten entgegen seiner ursprünglichen Bedenken nun doch zu ermöglichen, weiterhin Getreide auf Schutzflächen anzubauen, auch so schwergefallen. “Wir machen das ja nicht zum Spaß, es geht um den dramatischen Schwund der Artenvielfalt und gesunde Böden.” Aber in dieser besonderen Zeit müsse man auch schwierige Kompromisse eingehen, und das mache er.
Der Minister will den Bauern deshalb erlauben, Agrarflächen für den Anbau bestimmter Pflanzen zur Nahrungsmittelproduktion länger zu nutzen. So sollen die eigentlich geplanten zusätzlichen Artenschutzflächen erst 2024 eingeführt werden. Landwirte könnten dann im kommenden Jahr auf diesen Flächen “ausnahmsweise” weiter Nahrungsmittel anbauen. Die Entscheidung sei Özdemir jedoch “wahrlich nicht leichtgefallen”.
Hintergrund sind ab 2023 greifende EU-Vorgaben, wonach ein Teil der Landwirtschaftsflächen dem Artenschutz dienen soll. Zudem soll der Anbau derselben Ackerpflanze zwei Jahre in Folge auf derselben Fläche für Bodenschutzzwecke grundsätzlich nicht mehr möglich sein. Brüssel gewährt aber Spielräume, die Umsetzung wiederum ist Sache der EU-Staaten.
Der Bundeslandwirtschaftsminister hatte daraufhin einen Vorschlag unterbreitet, der ein einmaliges Aussetzen von Fruchtwechsel und Flächenstilllegung vorsieht. Dieser muss von den Ländern allerdings noch abgesegnet werden.
Hungerkrise nur durch Stärkung der regionalen Nahrungsmittelerzeugung lösbar
“Wenn wir wirklich etwas gegen den Hunger tun wollen, müssen wir die Kleinbauern weltweit stärken, forderte Özdemir. Dazu gehöre sowohl der Zugang zu Saatgut, zu Wissen sowie eine funktionierende Infrastruktur. Dazu gehört der Anbau traditioneller Kulturpflanzen wie Maniok oder Hirse, die mit dem Klima vor Ort viel besser klarkommen.” Laut dem Grünen-Politiker sei es ungerecht, die Probleme der Welt dadurch lösen zu wollen, “dass der Westen seinen eigenen Weizen exportiert, während im Süden die lokale Landwirtschaft vor die Hunde geht.” Dabei gehe es lediglich um Absatzmärkte und keineswegs um Hungerbekämpfung:
“Dafür müsste man die zutiefst ungerechten Strukturen ändern, von denen manche gut leben.”
Auf die Frage, ob Deutschland angesichts der derzeitigen Lebensmittelknappheit nicht viel mehr produzieren müsse, entgegnete der Landwirtschaftsminister: “Wir leben nicht in normalen Zeiten, das stimmt.” Deutschland müsse deshalb jetzt auch die Versäumnisse der letzten 16 Jahre nachholen, auch in der Agrarpolitik – “allerdings unter erschwerten Bedingungen durch eine geänderte Haushaltslage, hohe Inflation und gesellschaftliche Polarisierung”.
Umbau der Tierhaltung dient der Lebensmittelsicherheit
Angesichts dessen hat der Umbau der Tierhaltung in Deutschland für den Agrarminister auch weiterhin hohe Priorität. So sei die Tierhaltung im Agrarsektor zwar ein wesentlicher “Treiber der Klimakrise”, erklärte der Landwirtschaftsminister. Die Menschen würden jedoch zunehmend auf den Verzehr von Fleisch verzichten. “Ohne das Eingreifen der Politik würde das aber dazu führen, dass kleinere Produzenten in Deutschland aufgeben müssten und Fleisch aus dem Ausland käme, wo wir keinen Einfluss auf die Haltungsbedingungen haben.” Wenn die Bundesregierung den Bauern hingegen weiterhin bei der Umstellung zu einer zukunftsfähigen Tierhaltung helfe, rentiere sich jeder Euro mehrfach: “für das Tierwohl, für Klima- und Umweltschutz, die Hofnachfolgen und für die Zukunft des ländlichen Raums”.
Natürlich gebe es aber auch Zielkonflikte, so der Grünen-Politiker. So erwarte die in Deutschland lebende “vegane Fraktion” von ihm beispielsweise, dass er die Tierhaltung in Deutschland komplett beendet. Andere würden ihre Freiheit hingegen wiederum darüber definieren, “von morgens bis abends Fleisch essen zu können”. Angesichts dessen könne man ihn nun fragen, weshalb der Landwirtschaftsminister als Vegetarier so viel Energie in den Umbau der Tierhaltung in Deutschland investiere. “Die Antwort ist: Mein Gemüse braucht Tiere.” Dünger entstehe in einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft nun mal aus Gülle und Mist:
“Das reduziert zugleich die Abhängigkeit von mineralischem Dünger, der vor allem auf Gas aus Russland angewiesen ist.”
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