Von Astrid Sigena
Die EKD-Synode, also das Kirchenparlament der evangelischen Christen in Deutschland, tagte diese Woche in Dresden. Am Montag wurde die lange erwartete Friedensdenkschrift vorgestellt.
Die Denkschrift von 2025 fällt im Vergleich zu ihrer Vorgängerin aus dem Jahr 2007 durch ihre deutlichere Befürwortung militärischer Gewalt, des Wehrdienstes bis hin zur Dienstpflicht für beide Geschlechter, der Aufrüstung Deutschlands und von Waffenlieferungen auf. Bemerkenswert ist insbesondere die eindeutige Stoßrichtung gegenüber Russland. Weitere Akzentverschiebungen sind die Aufnahme des Modewortes “hybride Bedrohungen” (ab S. 81) – womit die EKD die ohnehin schon hysterische Debatte weiter anschürt – sowie die Bejahung des Besitzes von Atomwaffen als zwar grundsätzlich ächtenswert, aber gegebenenfalls “politisch notwendig” (ab S. 112).
Auffallend ist schon der Titel. Er lautet: “Gerechten Frieden schaffen in unruhigen Zeiten” und wiederholt damit das Motiv des gerechten Friedens, das schon in der 2007er Denkschrift zentral war (“Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen”). Auch die EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs betonte die “klare Ausrichtung auf einen gerechten Frieden”.
Nun ist gegen diese Formel prinzipiell nichts einzuwenden. Wer hätte schon etwas gegen einen mit Gerechtigkeit verknüpften Frieden? In den von der EKD postulierten vier Dimensionen: Schutz vor Gewalt, Förderung von Freiheit, Abbau von Ungleichheiten und friedensfördernder Umgang mit Pluralität?
Allerdings entspricht die Formel vom “Gerechten Frieden” exakt dem Wortlaut derjenigen, die Verhandlungen nur “aus einer Position der Stärke” gutheißen und weitere (militärische) Unterstützung für die Ukraine fordern, ohne Verzicht auf die mittlerweile in Russland eingegliederten Gebiete. “Gerechter Frieden” im Zusammenhang mit der Ukraine muss also üblicherweise als die Unerbittlichkeit der europäischen Couch-, besser gesagt Bürostuhlkrieger gedeutet werden, den Krieg bis zum letzten Ukrainer fortzusetzen.
Ohne konkret auf den Ukraine-Konflikt Bezug zu nehmen, betonen die evangelischen Theologen die Bedeutung von territorialer Unversehrtheit und Selbstbestimmung (S. 75). Nur dann seien Verhandlungen ethisch vertretbar. “Aufgezwungene Verhandlungen” lehne man ab, ebenso Verhandlungen, die lediglich dazu dienten, “die Ergebnisse militärischer Kriegsführung abzusichern”.
Die EKD warnt davor, dass “die Erfahrungen des gewaltsamen Todes vieler Menschen im Krieg” zu der Forderung führen könnten, “auch in einem heißen Konflikt alles auf Verhandlungen zu setzen”. Es klingt, als seien Baerbock, von der Leyen, Strack-Zimmermann und Co. die Mitverfasser in dem Satz “Wer für Verhandlungen als Weg zum Frieden eintritt, muss auch die Mittel bereitstellen, um diese Verhandlungen abzusichern” (S. 76). Das könnte man sogar als Rechtfertigung für eine (in der deutschen Gesellschaft höchst umstrittene) Stationierung der Bundeswehr als Friedenstruppe in der Ukraine sehen.
In der Einleitung (S. 5) werden zwar neben dem “völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine” auch der Terror der Hamas gegen Israel und die gewaltsamen Auseinandersetzungen im subsaharischen Afrika erwähnt, sowie ein von der EKD postulierter wachsender Autoritarismus in den USA, der die Demokratie gefährde, im Folgenden wird der Fokus der Theologen jedoch vor allem auf den Ukraine-Krieg und den Konflikt mit Russland gelegt.
Dass der Hauptanlass für die Neufassung der Friedensdenkschrift der Konflikt mit Russland ist, wird übrigens von den Kirchenleuten auch gar nicht abgestritten. So erklärt etwa Bischof Friedrich Kramer, mit diesem Text reagiere “die EKD auf aktuelle Herausforderungen der Friedensethik, die sich durch den russischen Überfall auf die Ukraine” ergäben.
Auffallend ist die feindselige Haltung gegenüber Russland, die den Text durchzieht: Während man in Bezug auf den internationalen Terrorismus vor einer “Politik der Angst” (S. 14) und der Legitimierung “pauschaler Restriktionen gegenüber Schutzsuchenden oder Minderheiten” warnt, “populistische Vereinfachungen” ablehnt sowie auf “differenzierte Präventionsstrategien” pocht, fehlt gegenüber Russland jede Bereitschaft, die Vorgeschichte des Krieges in Betracht zu ziehen oder auf russische Sicherheitsinteressen einzugehen. Der Zweite Weltkrieg mit seinen Gräueln wird zwar erwähnt (S. 24) – eine besondere Verantwortung, gerade den Frieden mit Russland zu wahren, ergibt sich für die Verfasser der Denkschrift jedoch offenbar nicht.
Russland kommt lediglich als Aggressor vor, der mit seinem “Angriffskrieg auf die Ukraine” eine “markante Disruption” der “international regelbasierten Ordnung” herbeigeführt habe (S. 96) und die Welt mit seinen Atomwaffen bedrohe (S. 112 f.) oder eben einen hybriden Krieg führe (S. 83), als dessen Beispiel “die Besatzung durch russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen 2014 mit dem sich anschließenden Scheinreferendum” herhalten muss, als “externe Angreifer mit internen Kräften” zusammengearbeitet hätten.
Die Rolle der christlichen Ökumene bei der Friedensförderung “über staatliche und ideologische Grenzen hinweg” wird zwar gepriesen (S. 93), die christliche Brüderlichkeit schließt offenbar aber nicht die russisch-orthodoxe Kirche mit ein. Denn “diejenigen Kirchen sollten gestärkt werden, die als Opposition zu staatlicher Gewaltherrschaft agieren” (S. 94). Die Ökumene sieht jedoch Grenzen, “wenn theologische Lehrbildungen selbst Aggression und Gewalt fördern” – wie es der Kirche in Russland unterstellt wird. Dann sei es “im Ausnahmefall – etwa bei einseitig destruktiver, instrumentalisierender und friedenszersetzender Kommunikation –” sogar angebracht, “ökumenische Kontakte zeitweise auszusetzen”.
Dass damit die russischen Christen gemeint sind, wird anhand des Vorwurfs deutlich (S. 97), das Moskauer Patriarchat rechtfertige mit der Notwendigkeit des Kampfes gegen die von ihm als “westliche Werte” diffamierten Menschenrechte den “völkerrechtswidrige(n) Krieg gegen die Ukraine”. Christlicher Dialog also nur, solange er die eigene Wertewelt bestätigt, die unter anderem die Segnung homosexueller “Polyhochzeiten” umfasst.

Sanktionen (ab S. 60) werden eindeutig befürwortet. Sie dürften allerdings im Sinne des Konzepts vom “Gerechten Frieden” nicht dazu führen, dass die Bevölkerung des betroffenen Landes in Not gerate (was ja nahezu immer bei Sanktionen der Fall ist – Russland hat in diesem Fall Glück gehabt). Es sei darauf zu achten, dass Sanktionen nicht umgangen werden könnten. “Um dem ‘Gerechten Frieden’ zu dienen”, sei es gegebenenfalls auch in Kauf zu nehmen, “dass sanktionierende Staaten Einschränkungen hinnehmen” müssten.
Den Abschnitt über die Atomwaffen (ab S. 112) könnte man geradezu als Plädoyer für deren Erwerb auffassen, womöglich sogar für eine nuklear bewaffnete BRD. Die nukleare Abschreckung bewertet man zwar “als zu überwindendes Dilemma”, Atomwaffen als “eine existenzielle Bedrohung für Menschen und ganze Lebensräume”, andererseits weist die EKD jedoch darauf hin, dass die Ukraine mit dem Verzicht “auf die auf ihrem Gebiet verbliebenen sowjetischen Atomwaffen wohl mit dazu beigetragen habe, dass sie Opfer eines konventionellen Angriffs geworden ist”.
Und auch die Drohungen Russlands, die Atomwaffe einzusetzen, müsse man berücksichtigen. Deshalb seien Atomwaffen zwar zu ächten, jeglicher Einsatz sei ethisch verwerflich, jedoch wäre es angesichts der russischen Drohungen “sicherheitspolitisch kaum zu verantworten, auf nuklearen Schutz gänzlich zu verzichten” (S. 114). Denn: Alle Staaten, “die nicht glaubwürdig auf eine nukleare Abschreckung verweisen” könnten, würden “zu potenziellen Opfern konventioneller Angriffe von Staaten oder Regimen, die über Atomwaffen” verfügten. Deshalb könne “auch die nukleare Teilhabe oder der Besitz von Nuklearwaffen vor diesem konkreten Hintergrund eine ethnisch begründbare Entscheidung sein”, auch wenn es letztlich ein ethisches Dilemma bleibe. Sollte Merz also die deutsche Atombombe anstreben, tut er das mit dem Segen der evangelischen Kirche.
Das Recht zu einem Präventivschlag will die EKD nicht ausschließen. Die evangelische Kirche erkenne zwar die Möglichkeit des Missbrauchs präventiver Gewaltanwendung und mahne zur “ethischen Sorgfalt” bei der Entscheidungsfindung, allerdings könne ein Präventivangriff gerechtfertigt sein, “wenn der Erwerb von nuklearen oder anderen Massenvernichtungswaffen unmittelbar” bevorstehe, “ihr Einsatz konkret angedroht” werde und “alle diplomatischen Mittel erschöpft” seien (S. 64).
Dabei verweist die EKD selbst auf den Irakkrieg 2003, den die USA mit der Falschbehauptung der Fortexistenz irakischer Chemiewaffen gerechtfertigt hatten. Und weiter und noch brisanter (S. 115 f.): Für die EKD stelle sich die Frage, “ob bei der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen durch einen Staat bereits dann eine unmittelbare Angriffsgefahr vorliegt, wenn Trägersysteme und Einsatzbereitschaft absehbar sind, ohne dass ein konkreter Angriff direkt bevorsteht”. Dabei müsse “das Ziel der Waffenentwicklung in einem entsprechenden Angriff” bestehen.
Damit rechtfertigt die EKD nicht nur im Nachhinein den fragwürdigen Krieg der USA und Israels gegen Iran im vergangenen Juni, sie verkennt auch, dass NATO-Generäle wie Rob Bauer sprachlich schon mit der Möglichkeit eines Präventivschlags auf Russland gespielt haben. Und sie übersieht, dass auch die Gegenseite ein Bedrohungsgefühl angesichts von Massenvernichtungswaffen entwickeln könnte – beispielsweise durch die geplante Stationierung von US-amerikanischen Mittelstreckenraketen in Deutschland.
Dass es innerhalb der EKD heftige Kontroversen bei der Abfassung der Friedensdenkschrift gegeben haben muss, merkt man dem Text an. Immer wieder finden sich auch abschwächende Formulierungen oder sogar Passagen, die im Widerspruch zur vorherigen Rechtfertigung militärischer Gewalt stehen. Der Friedensbeauftragte der evangelischen Kirche und Landesbischof der EKM, Friedrich Kramer, gab ganz offen zu, dass er teilweise eine andere Position als die im neuen Papier vertretene bevorzuge. Als Beispiel nannte er die Haltung der Denkschrift zum Besitz von Atomwaffen: “Wir sollten bei einem klaren Nein ohne jedes Ja bleiben.”
Offenbar konnte sich jedoch die Friedenspartei um Kramer nicht durchsetzen. Auch kirchliche Friedensgruppen wie die AGDF (Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden) und die Initiative Christlicher Friedensruf kritisierten die in dem Text enthaltene “Logik der Zeitenwende”, ebenso Friederike Spengler, die Regionalbischöfin des Sprengels Gera-Weimar.
Es wäre noch viel hinzuzufügen, unter anderem die Nonchalance, mit der die EKD Kürzungen im sozialen Bereich zugunsten des Militärs rechtfertigt (S. 78 f.). Man sei sich zwar durchaus bewusst, dass dies “den gesellschaftlichen Frieden gefährden und bestehende Ungerechtigkeiten verschärfen” könne, glaube aber, dies durch “eine sorgfältige Güterabwägung” sowie “Offenheit, Klarheit und Transparenz” verantworten zu können.
Und natürlich sind auch Steuererhöhungen und Vermögensabgaben das Mittel der Wahl (verbrämt unter dem Euphemismus “Steuergerechtigkeit” und “Umverteilungsmaßnahmen”). Soziale Gerechtigkeit dürfe nicht gegen Sicherheit und Freiheit ausgespielt werden. Man darf gewiss sein, dass damit der örtliche Geistliche das verbale Handwerkszeug erhalten hat, um die Schließung des Schwimmbads oder die Einsparung einer zusätzlichen Busverbindung schönzureden. Schließlich geht es ja um den “Gerechten Frieden”!
Oder die Rechtfertigung der Kriegstüchtigkeit, mit der Phrase, Deutschland müsse “angesichts der Spannungen zwischen Ost und West” (S. 124) die eigene Werteordnung notfalls auch gewaltsam verteidigen (S. 65), ohne zu hinterfragen, wer uns eigentlich “die Werte” rauben wollen sollte. Dazu passen die Unterstützung einer “wertebasierten” beziehungsweise “regelbasierten Ordnung” (S. 95 und 127) und einer Außenpolitik (S. 120) à la Annalena Baerbock.
Insgesamt ist die Friedensdenkschrift das passende geistliche Dokument zu der von den BRD-Machthabern und Militärs eingeforderten “Kriegstüchtigkeit” beziehungsweise “Siegfähigkeit”. Darüber helfen auch Anklänge an frühere Zeiten, wie die Beteuerung, dass man Gewalt nur als “ultima ratio” betrachte, die Betonung der Gewissensfreiheit bei der Wehrpflicht oder die Beratungsangebote für Wehrdienstverweigerer nicht hinweg.
Ganz offensichtlich haben sich die Bellizisten in der EKD durchgesetzt. Für die so notwendige Friedensbewegung fallen die Großkirchen (die katholische Kirche ist eher noch russlandfeindlicher eingestellt) als Unterstützer weg.
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