Von Gert Ewen Ungar
“Deutschland bedroht niemanden, die Europäische Union bedroht niemanden, und auch die NATO bedroht niemanden auf der Welt. Es ist in den letzten dreieinhalb Jahren ausschließlich Putin, der die Sicherheit auf dem europäischen Kontinent bedroht, der uns gefährdet, der mit seinem brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine einen Krieg führt, der jeden Tag sinnlos Menschenleben fordert”, behauptet der Kanzler in seiner Regierungserklärung am Donnerstag gegenüber den Abgeordneten im Reichstag.
Über diese Aussagen von Friedrich Merz lässt sich nicht streiten, denn sie sind schlicht und ergreifend falsch. Sowohl Deutschland als auch die EU wollen über die Aufrüstung der Ukraine nichts weniger als den Sieg über Russland erringen. Sie haben die Eskalation des Ukraine-Konflikts hin zum Krieg aktiv betrieben und alle Angebote Russlands zur Lösung des Konflikts zurückgewiesen, verwässert oder sabotiert. Verhandlungen wurden hintertrieben, Diplomatie wird von dieser Regierung ebenso abgelehnt, wie sie von der Vorgängerregierung abgelehnt wurde. Weder Merz noch Außenminister Wadephul unterhalten Gesprächskontakte nach Russland. Deutschland plant, größte Militärmacht in Europa zu werden. Merz und seine Regierung versuchen nun zum dritten Mal etwas, was bei Versuch eins und zwei in die Katastrophe geführt hat. Natürlich bedroht Deutschland Russland.
Dass die NATO niemanden bedroht, ist nun wirklich blanker Hohn. Jeder Serbe wird dem Kanzler das gern bestätigen. Sie ist zudem ein gegen Russland gerichtetes Militärbündnis. Das geht sowohl aus ihrer Geschichte als auch aus ihren Handlungen hervor, die sich nun mal aggressiv gegen die Sicherheitsinteressen Russlands richten. Da kann sich der Kanzler auf den Kopf stellen, es wird keine andere Wahrheit daraus. Die Frage ist, woher Merz all diesen Blödsinn nimmt, den er erzählt?
Putin setzt darauf, dass Angst unsere freiheitliche Gesellschaft lähmt und unsere Bereitschaft zu entschlossenem Handeln untergräbt. Doch er verkalkuliert sich: Wir lassen uns nicht verängstigen. Wir wehren uns.
— Bundeskanzler Friedrich Merz (@bundeskanzler) October 16, 2025
In seiner Rede geht Merz auch auf die Bedrohung ein, die Russland für Deutschland darstellt.
“Und es ist Russland, das mit immer größer werdender Skrupellosigkeit uns in Deutschland und in Europa mit hybriden Mitteln der Kriegsführung versucht, zu destabilisieren. Mit Sabotage, Cyberangriffen, gezielter Desinformation, mit Spionage auch (an die AfD-Fraktion gerichtet) aus ihren Reihen und mit Mord, meine Damen und Herren. Und in den vergangenen Wochen haben Drohnen verstärkt den Luftraum Europas verletzt, nicht zuletzt auch bei uns hier in Deutschland. Es ist eine Offensive der Verunsicherung, die wir erleben. Putin setzt darauf, dass Angst eine freiheitliche Gesellschaft lähmt und unsere Bereitschaft zu entschlossenem Handeln untergräbt.”
Hier offenbart sich seine Quelle, denn am Montag lieferte Martin Jäger, Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), vor dem parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestages den nahezu wortgleichen Text ab.
“Das Handeln Russlands ist darauf angelegt, die NATO zu unterminieren, europäische Demokratien zu destabilisieren, unsere Gesellschaften zu spalten und einzuschüchtern. Europa soll von Furcht und Handlungsstarre gelähmt in die Selbstaufgabe getrieben werden”, behauptet Jäger und liefert damit das Redeskript für Kanzler Merz.
Belege für seine Behauptungen brachte Jäger nicht vor. Er ist Geheimdienstler, das heißt, seine Quellen unterliegen der Geheimhaltung. Konkret bedeutet das, er kann eigentlich alles behaupten, was er will, und sich dann unter Hinweis auf seinen Job aus der Verantwortung stehlen. Geheimdienste lügen daher gern.
Der BND gilt nun aber nicht als der kompetenteste unter den Geheimdiensten dieser Welt. Im Gegenteil hängt ihm der Ruf einer Hobby-Schlapphut-Organisation an. In der Sowjetunion zur Zeit des Kalten Krieges galten die Spione des BND als Amateure.
Dass der BND Kontakte in den inneren Kreis der russischen Regierung hat und so an tatsächlich vertrauliche oder gar geheime Informationen kommt, kann man daher ausschließen. Das heißt, die Mitarbeiter des BND machen nichts anderes, als russische Zeitungen zu lesen und russische Nachrichten zu verfolgen, um sich ein Bild von den Vorgängen in Russland zu machen. Sie machen auch nichts anderes als ich und meine Kollegen, verbreiten aber dennoch ganz andere Informationen.
Dass Russland die Absicht hat, Europa zu überfallen und Länder der EU annektieren will, lässt sich aus nichts ableiten, was in russischen Medien abgedruckt wurde. Russische Politiker weisen die im Westen erhobene Behauptung sogar vehement zurück.
Im Gegenteil entsteht eher der Eindruck, dass einer der wenigen Vorteile, den der Zerfall der Sowjetunion für Russland mit sich brachte, der war, dass man die Länder des Baltikums endlich loswurde. Russland will die kleinen Nervensägen Lettland, Litauen und Estland ganz bestimmt nicht zurück.
Es findet im Gegensatz zu Deutschland in Russland auch kein aktiver Feindbildaufbau statt. Es wird nicht dazu aufgerufen, sich Vorräte anzulegen, und das Bild der Deutschen wird nicht rassistisch verzerrt. Man hofft vielmehr darauf, dass in Westeuropa und gerade auch in Deutschland eines Tages wieder Vernunft einkehrt und die deutsche Politik sich besinnt. Der BND liest die gleichen Texte, liefert der deutschen Politik aber andere Informationen. Dahinter steckt Absicht.
Für die sowohl von BND-Chef Jäger als auch von Merz suggerierte russische Verantwortung für Drohnenvorfälle gibt es keinerlei Beweis. Im Gegenteil konnte in den Fällen, in denen Drohnenpiloten ermittelt werden konnten, keine Beziehung zu Russland nachgewiesen werden. Auch die vermeintlichen Luftraumverletzungen Russlands waren keine. Estland interpretiert internationale Regelungen eigenwillig und außerhalb des Konsensus. Objektiv fand kein Eindringen russischer Jets in den Luftraum Estlands statt. Sowohl Merz als auch Jäger halten die Behauptung dennoch aufrecht. Sie verbreiten Desinformation mit dem Ziel, Angst vor Russland zu erzeugen. Angst zu erzeugen ist ein erprobtes Mittel der Politik, um die Gesellschaft zu steuern. Merz und der BND bedienen sich seiner.
Wer das für seltsam hält, sollte sich mit der Geschichte des BND vertraut machen. Hier hat sich ein gutes Stück NS-Ideologie in die politische Struktur der Bundesrepublik hinübergerettet. Offenbar wittern die deutschen Schlapphüte nun die große Chance, dort weitermachen zu können, wo sie 1945 gezwungen wurden aufzuhören.
Was Jäger erzählt und womit der BND den Kanzler und andere deutsche Politiker an Information versorgt, schließt an die antirussische Propaganda des Dritten Reichs an. Keine der von Jäger gemachten Behauptungen hält einer Überprüfung stand. Sie sind erfunden. Den Geheimdiensten wird regelmäßig vorgeworfen, eine Art Staat im Staat zu sein und eine eigene politische Agenda zu verfolgen. Für den BND kann das als gesichert gelten. Sich von ihm beraten zu lassen, zeigt einen Mangel an Resilienz gegenüber Faschismus.
Es ist Ausdruck eines mangelnden Geschichtsbewusstseins, der zur Wiederholung bereits mehrmals gemachter historischer Fehler führt. Der BND ist in seiner Tradition dem Generalplan Ost deutlich stärker verpflichtet als dem Friedensgedanken des Grundgesetzes und des Einheitsvertrags. Das ergibt sich aus seiner Geschichte und aus dem, was der Präsident des BND sagt.
Der Kanzler wurde vom BND auf die falsche Spur gesetzt. Dafür kann Merz erst mal nichts. Es gehört zum Wesen von Geheimdiensten, zu versuchen, Politik für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Dass er sich instrumentalisieren lässt, dafür trägt Merz allerdings Verantwortung. Dass ihm zudem das historische Bewusstsein fehlt, um zu erkennen, dass er hier und heute als Kanzler die schwersten Fehler der deutschen Geschichte wiederholt, das kann und darf ihm nicht verziehen werden.
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