Der Brite John Bowlt und die Italienerin Nicoletta Misler gehören zu den führenden westlichen Experten für die russische Avantgarde. Sie sprechen ausgezeichnet Russisch, kommen oft nach Russland – sie haben eine Wohnung in Moskau – und bekennen ihre Liebe zur russischen Kultur trotz der im Westen vorherrschenden Bemühungen, diese zu beseitigen. Und das ist nicht verwunderlich, denn über die russische Sprache und Kunst haben sie sich während des Kalten Krieges kennen und lieben gelernt. “Für mich ist die russische Kunst immer ein Mysterium, immer ein Geheimnis”, erklärt John Bowlt in einem Gespräch mit der Fachzeitung The Art Newspaper. Und er fügt hinzu:
“Da geht es sehr oft um den Nullpunkt, um die Abwesenheit, um die Überraschung. Repins ‘Unerwartete Heimkehr‘‚ zum Beispiel, oder Iwanows ‘Christus erscheint dem Volke‘. Verdammt noch mal! Und dann noch OBERIU, ‘Schwarzes Quadrat‘, die Kunstgruppe Nitschewoki… Und oft ist die russische Kunst eine Kunst der Extreme.”
Was sich im westlichen Kulturbereich abspielt – all diese Versuche, die russische Kultur abzuschaffen und Künstler, die im Russischen Reich tätig waren, als Ukrainer zu bezeichnen, also eine politische Ukrainisierung –, ist den legendären Kunstexperten keineswegs verborgen geblieben. Derzeit findet im Westen eine Revision der russischen Avantgarde statt. Eine Reihe von Künstlern – zum Beispiel Kasimir Malewitsch oder Alexandra Exter – werden allmählich als Vertreter der ukrainischen und nicht der russischen Avantgarde betrachtet. Die Museen ändern sogar die Nationalität der Künstler auf ihren Schildern. Aber die erfahrene Kunstexperten wie Bowlt und Misler lassen sich davon nicht täuschen.
“Unsere Meinung dazu wurde vor der aktuellen Weltlage gebildet”, meint John Bowlt in dem Gespräch mit The Art Newspaper. “Mir ist natürlich klar, dass Malewitsch und Exter nicht exakt russisch sind, aber das hat damals niemand unterschieden, und sie haben alle hauptsächlich in Moskau und Sankt Petersburg studiert.” Und Nicoletta Misler fügt hinzu:
“Sie gehörten zu denselben Kreisen und Gruppen wie die russische Künstler: Die Vereinigung der Jugend, die Künstlergruppe Karo-Bube. Und es wäre wohl falsch, sie vom Gemeinsamen, von der gemeinsamen Basis zu trennen.”
Die derzeitigen Einseitigkeiten und Bemühungen, Avantgarde-Künstler aus ihrem Umfeld, dem russischen Kulturleben, herauszureißen, seien nach Ansicht von John Bowlt künstlich, widersprächen der Entwicklungslogik und führten ins Leere. Er betont:
“Wenn wir diesen Weg gehen, dann werden geografische oder ethnische Eigenschaften gegenüber philosophischen oder ästhetischen Eigenschaften dominant. Diese Pfade werden enger, enger und immer enger. Aber ein Kunstwerk bleibt letztlich und trotz alledem ein Kunstwerk. Ohne Grenzen.”
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