Von Astrid Sigena
Der pensionierte Lehrer und ehemalige Präsident des Deutschen Lehrerverbandes ist bekannt als konservativer Kritiker des aus seiner Sicht maroden deutschen Bildungssystems. Seine Kritik an Spaßpädagogik, Pisa-Schwindel und Helikopter-Eltern hat er in mehreren Büchern geäußert. Bereits 2019 diagnostizierte der Bayer (von 1991 bis 2014 Mitglied im Beirat für Fragen der inneren Führung des Verteidigungsministers) in einer gemeinsamen Veröffentlichung mit Richard Drexl bei der Bundeswehr einen großen Reformbedarf. In seinem jüngsten Werk sieht der Pädagoge und Psychologe den Westen am Scheideweg und malt die Gefahr eines Rausches der Dekadenz an die Wand.
Näheres erfährt man in einem langen Interview, das „Corrigenda“ – ein christliches Online-Magazin aus München – mit dem bayerischen Bildungsexperten geführt hat. Erschienen ist das von Christian Rudolf geführte Interview am vergangenen Mittwoch. Man arbeitet verschiedene Themen ab, die wohl alle in den Dunstkreis der von Kraus attestierten Dekadenz-Erscheinungen gehören: Antiamerikanismus, die marxistischen Umtriebe an den Universitäten der 68er-Periode, den Wokeismus als neue Form des Totalitarismus, den Niedergang der Kirchen, die Zerrüttung der Familien als Folge des Kommunismus, die verhängnisvollen Auswirkungen des deutschen Sozialstaats, die Unselbstständigkeit der heutigen Eltern, die ihre Erziehungsverantwortung an die Schulen delegieren würden, die „Unlust an Kindern“ als „Folge einer materialistischen Lebenseinstellung“ und, und, und… Eine Vielzahl an Verfallserscheinungen wird in diesem ausführlichen Interview angeschnitten.
Die mangelnde Verteidigungsbereitschaft in den Gesellschaften des Westens, speziell in Deutschland, nimmt dabei einen großen Raum ein. Die alarmierende Frage des Interviewers lautet: „Was, wenn uns eines Tages die Russen angreifen?“ Kraus, der seinem eigenen Vater nach den Erlebnissen von vier Jahren Ostfront vor dem belagerten Leningrad ein Kriegstrauma attestiert, kritisiert in seiner Antwort, dass man in Deutschland die drohende Gefahr aus dem Osten nicht wahrhaben wolle. Man habe „es“ – im Gegensatz zu den Schweden und Finnen – „nicht kapiert“, nicht einmal nach 2014. Die militärische Hilfe Deutschlands an die Ukraine sei richtig, aber die Bundeswehr werde dabei weiter heruntergewirtschaftet. Im laufenden Haushaltsjahr sei der reguläre Haushalt für die Bundeswehr weiter gekürzt worden.
Kraus spricht dabei von einem naiven, „fast müsste man sagen, militanten Pazifismus“, der sich gegen die Bundeswehr wende. Von Nöten sei ein „gewaltiges Umdenken“. Dass man für die Aufstellung der Brigade Litauen mit 5000 Mann drei Jahre brauche, sei „für die Russen, für Putin eine Lachnummer.“ Es versteht sich fast schon von selbst, dass Josef Kraus für die Wiedereinführung der Wehrpflicht plädiert. Des weiteren merkt Kraus kritisch an, dass in der heutigen Verteidigungspolitik die Worte „Krieg“ und „Gefallene“ nicht vorkommen dürften; es sei höchste Zeit, dass Verteidigungsminister Pistorius mit seinem Begriff „der Kriegstüchtigkeit“ Klartext gesprochen habe.
Noch einmal fällt das Schlagwort vom „naiv-militanten Pazifismus“, der nach dem Motto verfahre „Das wird schon gut gehen“, nämlich als Kraus „AfD-Putin-Versteher“ mit ihren Fahrten „nach Sotschi und nach Moskau“ kritisiert. Aber auch BSW-Kanzlerkandidatin Sahra Wagenknecht kriegt ihr Fett weg: Die „Ex-Kommunistin“ habe darauf bestanden, in den Koalitionsverhandlungen der Länder Brandenburg, Thüringen und Sachsen „Friedensformeln“ einzufügen, was dem bayerischen Bildungsexperten sichtlich missfällt. Kraus ist dafür, nach dem Spruch der alten Römer „Si vis pacem, para bellum!“ zu agieren – ohne darauf hinzuweisen, dass es sich beim römischen Reich um den imperialistischen Staat par excellence handelte.
Kraus entgeht ebenfalls, dass diese Handlungsmaxime zu einer Spirale des gegenseitigen Misstrauens und der Aufrüstung führen kann – ganz nach dem Paul-Watzlawick-Zitat, das der Journalist und Gegner der „Kriegstüchtigkeit“ Marcus Klöckner so gerne zitiert: „Je mehr eine Nation sich von Nachbarn bedroht fühlt, desto mehr wird sie sich zur Verteidigung rüsten, und desto mehr wird die Nachbarnation ihre eigene Aufrüstung für das Gebot der Stunde halten. Der längst erwartete Krieg ist dann nur noch eine Frage der Zeit.“ Es fällt dem Interviewten nicht einmal im Traum ein, dass auch Russland sich bedroht fühlen könnte. Grund genug hätte es ja eigentlich jetzt schon, zum Beispiel durch die von Kraus erwähnte Brigade Litauen.
Letztendlich sei „die mangelnde Bereitschaft, das Eigene zu verteidigen, am Eigenen festzuhalten, es notfalls auch militärisch zu verteidigen, und natürlich das Ganze auch ideell zu verteidigen“ ein besonders deutliches Dekadenzphänomen, so Kraus. Die größten Gefahren seien die von innen, „nämlich der Verlust der Selbstachtung und der Verlust der Bereitschaft, das Eigene zu verteidigen.“
Als Ausweg aus dem „Rausch der Dekadenz“ plädiert Kraus für eine „Leitkultur der Bürgerlichkeit“, eine Bürgerlichkeit, einen Bürger, der sich verteidige, der sich wappne gegen etwas. Diese neue europäische Bürgerlichkeit benötigt also einen äußeren Feind, lässt sich aus Krausens Äußerungen schlussfolgern.
Außerdem sei es notwendig, dass der Westen eine „ideelle Festung“ werde, mit einer Besinnung auf das Eigene, was den Westen eigentlich ausmache.
Und als drittes Heilmittel nennt Kraus die Verteidigungsbereitschaft: Der Westen müsse „auch bereit sein, all das, was ihn ausmacht – Demokratie, Bürger- und Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit –, bereit sein, notfalls mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Bürgerlichkeit. Ideelle Festung. Westen. Militärische Festung.“ Worte, die wie Faustschläge auf den Tisch prallen.
Ob Lehrer Kraus bei der Einigelung in seine ideelle Festung bewusst ist, dass er mit seiner Dekadenztheorie in dasselbe Horn der westlichen Verkommenheit stößt wie man es häufig russischen Kritikern des Westens zuschreibt? Zum Beispiel dem russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill? Oder auch dem russischen Präsidenten Putin, der – so ein deutscher Historiker – nicht davon ablasse, die Schwäche und die Dekadenz des Westens zu betonen? Eigentlich ist Kraus ja mit seiner Kritik an der angeblichen Dekadenz des Westens voll auf russischer Linie.
Nur merkt er es nicht. Bei so viel Ähnlichkeit in der Weltsicht wäre zu erwarten, dass sich Kraus mit den östlichen Dekadenzkritikern einigen könnte. Denn so weit geht auch Kraus nicht, den Russen auch noch die Schuld an der westlichen Dekadenz anzulasten. Schuld sind bei ihm unter anderem die Entchristianisierung, die fehlende Besinnung auf die eigenen Werte und die mangelnde Weitergabe dieser Werte an die nachfolgende Generation durch Eltern und Großeltern. Bemerkungen, die man so auch Patriarch Kyrill zuschreiben könnte – auch und gerade in Bezug auf die eigene, russische Gesellschaft des hohen Geistlichen. Denn Russland hat ja ganz ähnliche Probleme: Kinderlosigkeit, Masseneinwanderung, fehlende Sprachkenntnisse an den Schulen usw. (übrigens verknüpft Kraus auch den Untergang der Sowjetunion mit dem roten Faden der Dekadenzerscheinungen – andere Faktoren beim Untergang großer Reiche gibt es in seiner monokausalen Weltsicht offenbar nicht)
Aber ein Bündnis von Kraus und Co. mit seinen russischen Entsprechungen ist dennoch nicht zu erwarten. Denn steht es nicht zu befürchten, dass die Russen die Prellböcke in diesem Kampf gegen die angebliche westliche Dekadenz sein sollen? (angebliche Dekadenz – denn es ist im Übrigen nicht einmal sicher, ob diese Dekadenz außerhalb bestimmter woker Eliten so weit verbreitet ist). Die europäischen Anführer suchen das Heil des Westens, die Einigung der europäischen Gesellschaften in einem Konflikt mit Russland. Die „ideelle Festung“ des Westens braucht auch einen Feind – selbst (oder gerade?) wenn der die gleichen traditionellen Werte vertritt. Und die „militärische Festung“ benötigt einen Gegner, gegen den sie sich wappnen kann, mit dem sie kämpfen kann.
Kriegstüchtigkeit ohne Feind gibt es nun mal nicht. Der Kampf des Westens gegen seine tatsächliche oder vermeintliche Dekadenz könnte für seine Nachbarn noch zu einem viel größeren Problem werden als die unschönen Dekadenzerscheinungen selbst.
Mehr zum Thema – Alexander Dugin: Die Ideologie des Trumpismus wird die USA und die Welt verändern (Teil III)