Von Alex Männer
Ungeachtet der schwerwiegenden Wirtschaftskrise sowie der politischen Konflikte, die zurzeit in der Europäischen Union herrschen, will die armenische Führung ihr Land offenbar auf den Beitrittskurs zu dieser Staatengemeinschaft einstellen. Am 9. Januar billigte die armenische Regierung den Gesetzentwurf “Über die Einleitung des Prozesses für den Beitritt Armeniens zur EU”. Jetzt muss das Parlament des Landes über diesen Gesetzentwurf entscheiden.
Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan erklärte diesbezüglich, dass der Gesetzentwurf nicht als Antrag auf einen sofortigen EU-Beitritt betrachtet werden sollte. Vielmehr gehe es darum, die Bereitschaft Armeniens zur praktischen Arbeit an der Annäherung an die Europäische Staatengemeinschaft zu signalisieren und einen entsprechenden Aktionsplan zu entwickeln. Später werde sich zeigen, “ob die Frage der EU-Mitgliedschaft einem Referendum unterzogen werden sollte“.
Armenien bereits mit Russland integriert
Beobachter sind sich indes einig, dass die Entscheidung Jerewans, den EU-Integrationsprozess zu beginnen, sowohl die Außenpolitik als auch die Wirtschaft Armeniens grundlegend verändern wird. Immerhin ist die Ex-Sowjetrepublik nicht nur Mitglied in der von Russland geführten Militärallianz “Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit” (OVKS), sondern auch Teil der “Eurasischen Wirtschaftsunion” (EAWU) – einer Organisation zur wirtschaftlichen Integration, der neben Russland und Armenien auch Kasachstan, Kirgisistan und Weißrussland angehören und in der Moskau ebenfalls eine Federführung hat.
Hinsichtlich des Verbleibs von Armenien in der OVKS gab es im Zusammenhang mit der besagten EU-Initiative der armenischen Regierung noch keine klare Stellungnahme aus Moskau. Was aber die Weiterführung der armenischen Mitgliedschaft in der EAWU betrifft, so äußerten die Russen bereits Skepsis.
Dmitri Peskow, offizieller Sprecher des russischen Präsidenten Wladimir Putin, teilte Journalisten mit, dass es “hypothetisch gesehen einfach unmöglich” sei, Mitglied sowohl in der EAWU als auch in der EU zu sein. “Hier ein Zollraum, hier eine Zone des freien Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehrs, dort eine andere, es gibt andere Normen“, sagte Peskow.
Der stellvertretende russische Premierminister Alexej Owertschuk stellte laut der Agentur Interfax ebenfalls klar, dass es für Armenien nicht möglich sein wird, die europäische Integration und die Partnerschaft innerhalb der EAWU zu verbinden. Eine Mitgliedschaft in beiden Organisationen zur gleichen Zeit sei aus russischer Sicht unvereinbar, weshalb man den armenischen Gesetzentwurf zum Start des EU-Beitrittsverfahrens als Beginn des Austritts des Landes aus der Eurasischen Wirtschaftsunion betrachte.
Owertschuk konkretisierte, dass die EAWU und die EU deshalb inkompatibel seien, weil in beiden Staatengemeinschaften keine Zölle innerhalb der Binnengrenzen anfallen und ein freier Waren-, Kapital-, Personen- und Dienstleistungsverkehr bestehe:
“Es ist unmöglich, sich vorzustellen, dass diese beiden Vereinigungen irgendwann zusammenkommen werden. Daher stellt der in der Republik Armenien gebilligte Gesetzentwurf ‘Über die Einleitung des Prozesses für den Beitritt Armeniens zur Europäischen Union’ dieses Land vor eine Wahl.”
Ihm zufolge kann der proeuropäische Kurs für Jerewan zudem sehr teuer werden. Denn im Falle eines Austritts Armenien aus der EAWU würden die Energie- und Nahrungsmittelpreise in dem Land deutlich steigen. Wobei die armenischen Exporte aufgrund der anfallenden Zölle um bis zu 80 Prozent zurückgehen könnten. Insofern sei die EU-Integration Armeniens angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Probleme in Europa durchaus mit dem “Kauf eines Kreuzfahrt-Tickets für die Titanic” zu vergleichen, so Owertschuk.
Jerewan gefährdet eigenen Wirtschaftsaufschwung
In der Tat profitiert Armenien enorm von der EAWU-Partnerschaft. Vor allem im Bereich der Energieressourcen kann Jerewan unter anderem Erdgas mit einem deutlichen Abschlag erwerben. Derzeit zahlen die Armenier nur etwa 170 US-Dollar je 1000 Kubikmeter Gas – im Vergleich dazu kostet die gleiche Menge in der EU aktuell rund 500 Dollar. Dank der billigen Energielieferungen aus den EAWU-Staaten kann Armenien die Wettbewerbsfähigkeit seiner Produktion stärken und so auch die gesamte Wirtschaft ankurbeln, die übrigens schon seit einigen Jahren ein sehr gutes Wachstum verzeichnet: 2021 und 2022 wuchs das Bruttoinlandsprodukt des Landes durchschnittlich um mehr als neun Prozent. Im Jahr darauf betrug das Wachstum 8,3 Prozent. Für 2024 werden – nach einem leichten Rückgang – immerhin sechs Prozent prognostiziert.
Ein anderer wichtiger Aspekt ist – wie bereits erwähnt – das Fehlen von Zollbarrieren in der EAWU. Dies erleichtert den Export von armenischen Waren, etwa nach Russland, das für Jerewans der wichtigste Handelspartner ist. Insbesondere nach der Einführung der antirussischen Wirtschaftsbeschränkungen durch die USA und die EU konnte Armenien daraus enorme Vorteile ziehen. Es gehört nämlich zu jenen Ländern, mit deren Hilfe Russland den sogenannten “Parallelimport” von sanktionierten Gütern organisiert, die mit westlichen Exportverboten belegt wurden. Russischen Angaben zufolge stieg der Handel zwischen den beiden Staaten dank der zusätzlichen Ausfuhren nach Russland allein im ersten Halbjahr 2024 um das 2,5-fache an.
Durch eine Integration mit der EU würde Jerewan offensichtlich große Wirtschaftserfolge zunichtemachen. Abgesehen davon sind die wirtschaftlichen Aussichten Armeniens in Europa eher trübe, schließlich sind die meisten EU-Mitglieder gegenwärtig mit einer gefährlichen Rezession konfrontiert, die sie nicht in den Griff bekommen.
Angesichts dessen stellt sich die Frage, warum die armenische Führung den Weg der EU-Integration trotzdem beschreiten will? Kritiker der Initiative sehen die Ursache dafür in der missglückten Politik von Premier Paschinjan, der durch die Annäherung an Europa von seiner Niederlage im Konflikt mit Aserbaidschan um die Region Bergkarabach ablenken will. Schließlich ist der Verlust von Bergkarabach für die Armenier nicht nur ein herber geopolitischer Rückschlag, sondern auch eine nationale Katastrophe.
Sollte also das armenische Parlament dem Gesetzentwurf der Regierung zustimmen, dann müsste Armenien schon bald entscheiden, in welche Richtung es sich künftig entwickeln will. Ob es die sehr engen wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland beibehält und davon weiterhin immens profitiert, oder ob es Teil der sich im Abstieg befindenden EU wird.
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