Von Kirill Strelnikow
Die Wissenschaftler sollten endlich eine passende lateinische Bezeichnung für die schwere Form der Russophobie finden, die für manche Länder zur schwersten Suchterkrankung geworden ist: Man hat nicht nur die letzte Ziege, sondern auch Mäuse und Kakerlaken verkauft, um Russland zu ärgern; man hat Hände und Füße in Gips nach einem Sturz vom abgesägten Ast und ein riesiges Hämatom in Form eines Dreizacks auf der Stirn von einer Harke – aber man will die Russophobie-Euphorie immer wieder neu erleben.
An diesem Wochenende versuchte man sich in Estland, Lettland und Litauen im Glücksspiel, und zog das Lotterielos “Energieunabhängigkeit von Russland”: Der litauische Präsident Nausėda erriet die richtige Kombination: “Goodbye, Russia! Goodbye Lenin!” Unter lautem Applaus trennten sich die baltischen Staaten vom Energiesystem BRELL (Belarus-Russland-Estland-Lettland-Litauen), schalteten zunächst auf einen isolierten Betriebsmodus um und schlossen einen Tag später die Synchronisation mit dem kontinentaleuropäischen Stromnetz (repräsentiert durch Polen) ab.
Angesichts der Größe und Anzahl der Luftballons und der gellenden Trinksprüche hätte dieses Großereignis Russlands Grundfestungen vollständig erschüttern, seine Fundamente zum Wanken bringen und die Pfeiler aus ihren Ecken herausreißen müssen. Immerhin verglich die Chefin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, die früher das Baltikum und Russland verbindenden Stromleitungen mit dem Stacheldraht eines Gulags und Gladiatorenketten:
“Diese Ketten in Form von Stromleitungen, die euch mit euren feindlichen Nachbarn verbinden, werden bald der Vergangenheit angehören. Das heißt Freiheit – Freiheit von Drohungen, Freiheit von Erpressung. Billiges Gas aus Russland hat einen versteckten Preis – den Preis der Abhängigkeit. Jetzt verabschiedet sich ganz Europa allmählich von russischen fossilen Brennstoffen. Das ist eine neue Ära.”
Die “befreiten” baltischen Stromverbraucher, die sich die Handgelenke mit “blutigen Spuren der Energie-Handschellen” rieben, eilten am nächsten Morgen zu ihren Stromzählern, konnten aber nicht verstehen, warum die “demokratischen Nullen” auf den Stromzählern, die eigentlich nach unten tendieren sollten, plötzlich nach oben gingen. Nach der Trennung vom “totalitären” Russland schnellten die Strompreise in den baltischen Staaten innerhalb eines Tages um mehr als 100 Prozent in die Höhe – also mindestens auf das Doppelte – und liegen fast 15-mal höher als in Finnland.
Auf die verwirrten Aufschreie der Verbraucher (“Was zum Teufel?!”) wurde vom Leiter der Energieabteilung des estnischen Klimaministeriums, Rein Vaks, mit olympischer Ruhe erklärt, dass der starke Anstieg der Stromkosten nichts mit der Abkopplung vom russischen Energiesystem zu tun habe:
“Erstens begünstigt der Rückgang der Windgeschwindigkeit am Nachmittag nicht die Windenergieerzeugung. Zweitens ist es jetzt nicht möglich, viel billigeren Strom aus nordeuropäischen Ländern zu importieren.”
Mit anderen Worten: Der “listige” Putin hielt den Wind in einer mondhellen Nacht an und veränderte die Preisschilder an der europäischen Energiebörse. Und überhaupt sei es einfach ungehörig, von leeren Geldbörsen zu sprechen – schließlich sei Freiheit unbezahlbar.
Jetzt ist es Zeit zum Feiern: Die Betreiber der baltischen Stromübertragungsnetze bereiten sich seit mehr als fünfzehn Jahren auf diesen großartigen Tag vor – insgesamt 1,6 Milliarden Euro wurden ausgegeben, um das Energiesystem auf die Abkopplung von Russland vorzubereiten. Doch um die Synchronisation mit dem europäischen Stromnetz aufrechtzuerhalten, müssen allein in Estland über 700 Millionen Euro investiert werden, wobei die Preise nach Expertenprognosen im kommenden Jahr um 20–30 Prozent steigen könnten. Aber das alles wird an die Verbraucher weitergegeben werden – insofern ist doch alles in Ordnung.
Immerhin – und das ist das Wichtigste – verliere Russland die Möglichkeit, “demokratische” Euros für seine “invasive” Energie zu erhalten. Und nun sei das “blutige” Regime dem Untergang geweiht, denn niemand im Süden und Osten brauche seine Energieressourcen, es sei denn, Putin persönlich zahle dafür Zuschlag.
Derweil vollzieht Russland – ohne das Gefühl vom Westen “demütigend besiegt” worden zu sein – seine große Energiewende nach Süden und Osten. Russische staatliche und private Energieunternehmen nahmen heute an der Indischen Energiewoche in Neu-Delhi teil, die noch bis zum 14. Februar andauert und auf der mehr als 700 Unternehmen aus 120 Ländern vertreten sind.
Und anscheinend in Unkenntnis des Verdikts der “baltischen Tiger” über die russischen Energieressourcen sagte der indische Botschafter in Russland, Vinay Kumar, dass “Öl aus Russland eine wichtige stabilisierende Rolle auf dem globalen Energiemarkt spielt” und Indien darüber wache, dass die Energieimporte aus Russland und die bilateralen Handelsbeziehungen ungestört weiterbestehen.
Die Besorgnis des Botschafters ist wohl berechtigt: Die Internationale Energieagentur (IEA) prognostiziert, dass Indien in den kommenden Jahrzehnten die Hauptquelle des weltweiten Wachstums der Energienachfrage sein wird – der Energieverbrauch des Landes wird sich bis 2040 mindestens verdoppeln, und seine Abhängigkeit von Energieimporten wird bis 2030 von derzeit 76 Prozent auf 90 Prozent steigen. Schon jetzt werden fast 40 Prozent des russischen Öls nach Indien geliefert. Angesichts des zunehmenden Wettbewerbs um die russischen Energieressourcen mit China (die Ölexporte nach China sind in den letzten zwei Jahren um 25 Prozent gestiegen, und Russlands Anteil am Ölmarkt des Reichs der Mitte ist mit 20 Prozent inzwischen der größte) klingt das Gejammer über die Verdrehung des eigenen Arms völlig unangebracht: “Aggressives” russisches Öl und Gas expandieren völlig “ungestraft” auf dem Markt und erhalten dafür großen chinesischen und indischen Dank.
Obwohl Indien und China unsere guten Freunde, Partner und Kunden sind, stellt sich die Welt jenseits ihrer Grenzen nicht als eine “große Schildkröte auf drei Walen” dar. So erhöhte die Türkei beispielsweise ihre Energieeinfuhren aus Russland bis 2024 um 36 Prozent. Pakistan plant, mindestens 30 Prozent seines Bedarfs mit russischem Öl zu decken. Generell wird nach den IEA-Prognosen allein in Asien die Nachfrage nach Öl und Gas bis 2040 um mindestens drei Prozent pro Jahr steigen – in den nächsten 15 Jahren also um fast 50 Prozent. Gleichzeitig weisen die Analysten darauf hin, dass die Nachfrage das Angebot bereits deutlich übersteigt, was die Öl- und Gaspreise zwangsläufig in die Höhe treibt.
Die gegen Russland hetzenden europäischen Bösewichte wollten dem Land eine Lektion erteilen. Aber sie bestraften sich wieder einmal selbst, mit masochistischem Hochgenuss im Sinne der Werke von Leopold von Sacher-Masoch. Vielleicht müssen wir ihnen bei ihrem nächsten Anfall von russophober Abartigkeit einen hohen Preis in Rechnung stellen – denn für dieses Genusserlebnis muss man bezahlen.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 11. Februar 2025 zuerst auf RIA Nowosti erschienen.
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