Von Alexej Danckwardt
Am Donnerstag hat ein Gericht in Moskau zwei junge Männer zu Freiheitsstrafen von jeweils 5,5 und 7 Jahren verurteilt.
Das Twerskoi-Bezirksgericht befand Jegor Schtowba und Artjom Kamardin für schuldig, öffentlich zur Durchführung von Aktivitäten gegen die Sicherheit des Staates aufgerufen zu haben sowie öffentlich zu Hass oder Feindschaft angestachelt und die Würde von Personen oder Personengruppen erniedrigt zu haben. Es verurteilte Schtowba zu 5,5 Jahren Haft und Kamardin zu 7 Jahren Haft mit Verbüßung der Strafe in einer allgemeinen Strafkolonie.
Lassen Sie es uns vorwegnehmen: Aus Sicht eines langjährigen deutschen Strafverteidigers, aus Sicht eines jeden Deutschen wahrscheinlich, sind die Strafen, die russische Gerichte aussprechen, regelmäßig unvernünftig hoch. Das gilt nicht nur für Fälle mit einem politischen Bezug, übermäßige Härte ist traditionell, immer schon ein Problem der russischen Justiz.
Das hat viele Gründe. Zum einen ist da die normative Macht der langjährigen Gewöhnung. Der Maßstab der “Normalität” und “Milde” wird in dem einen Land eben so angesetzt, in dem anderen anders, hier wie dort seit Generationen. Diese Maßstäbe zu verschieben, ist ebenso eine Aufgabe für Generationen.
Man kann ja auch andersherum fragen, ob die Strafen, die wir in Deutschland gewöhnt sind, nicht in manchen Fällen viel zu milde sind, und diese Frage wird auch gestellt, besonders bei emotional aufgeladenen Delikten wie sexueller Kindesmissbrauch oder Vergewaltigung. Nicht ohne Grund dreht der deutsche Gesetzgeber gerade in diesem Bereich immer wieder am Sanktionsrad und hat die Strafuntergrenze inzwischen auf ein Niveau gebracht, das dem deutschen Strafverteidiger, nicht aber dem durchschnittlichen deutschen Normalbürger, als zu hoch vorkommt. Nicht ohne Grund musste sogar der Bundesgerichtshof etwas tun, dessen er sich fast immer enthält, und in die Strafbemessung der erstinstanzlichen Richter eingreifen, als er ihnen ins Stammbuch schrieb, dass es bei Steuerschaden in Millionenhöhe in der Regel keine bewährungsfähigen Strafen mehr geben kann.
Zum anderen sind russische Richter in ihrem Verständnis von Milde und Härte anders konditioniert als ihre deutschen Kollegen, nämlich weil das russische Strafgesetzbuch die Möglichkeit der Aussetzung zur Bewährung bis zu acht Jahren Freiheitsstrafe bietet, während im deutschen StGB Bewährung nur bis zu einer Strafe von maximal zwei Jahren möglich ist. Dadurch empfinden russische Richter Freiheitsstrafen bis zu acht Jahren eben als etwas, das bei nicht allzu schlimmen Taten, die für sich genommen nicht stets nach einer real zu verbüßenden Strafe verlangen, auch angemessen ist, während bei einem deutschen Richter die Grenze zwischen “der muss in den Knast” und “bei dem geht es auch ohne” viel tiefer, eben bei zwei Jahren verläuft. Das Koordinatensystem der Milde und Härte ist dadurch verschoben: In Deutschland ist Milde in den Bereich zwischen null und zwei Jahren gepresst, im Verständnis russischer Juristen fängt echte Härte dagegen bei acht Jahren an.
Es ist Russland in jedem Fall zu wünschen, dass sich seine Richter mäßigen und die Strafen mit der Zeit angemessener, vernünftiger und treffsicherer werden, dass sich die Maßstäbe von Härte und Milde wenigstens etwas auf diejenigen zubewegen, die wir in Deutschland gewöhnt sind. Dafür gibt es viele gute Gründe.
Und ja, auch die Strafen, die die zwei jungen Männer heute im Twerskoi-Bezirksgericht erhalten haben, sind zu hoch. Das sei in aller Deutlichkeit gesagt. 5,5 Jahre, 7 Jahre sollte es ‒ bei Ersttätern jedenfalls ‒ für Raub und Vergewaltigung geben, nicht für Meinungsdelikte, egal wie übel sie sind, egal in welcher historischen Lage sie ausgeurteilt werden. Es gibt Hoffnung, dass die zweite Instanz da noch einiges zurechtrückt.
Doch das ist nicht alles, was es dazu zu sagen gibt. Da gibt es nämlich jemanden, der prompt an der Stelle ist, das am Donnerstag in Moskau gesprochene Urteil für widerliche antirussische Propaganda auszunutzen. Jemanden, der seine Leser und Zuschauer hinters Licht führt, indem er sie mit emotional aufgeladenen Phrasen und Sprachbildern überwältigt, statt ihnen die volle Wahrheit zu berichten. Richtig, die berühmt-berüchtigten deutschen Mainstreammedien.
Da lesen wir zum Beispiel im Ukraine-Liveblog der Tagesschau (und wortgleich in der Welt sowie der österreichischen Kronen Zeitung):
“Ein Gericht in Moskau hat zwei russische Dichter wegen eines Gedichts über den Konflikt in der Ukraine zu Haftstrafen von sieben beziehungsweise fünfeinhalb Jahren verurteilt. Artjom Kamardin und Igor Schtowba waren wegen ‘Aufstachelung zum Hass’ sowie ‘öffentlicher Aufrufe zu Aktivitäten gegen die Staatssicherheit’ angeklagt. […] Während der Lesung trug Kamardin ein Gedicht mit dem Titel ‘Töte mich, Milizionär!’ vor, das sich sehr kritisch mit den prorussischen Separatisten in der Ostukraine auseinandersetzt.”
Was der deutsche und österreichische Leser nirgends zu lesen bekommt, ist eine Kostprobe der “Poesie”, die sich “sehr kritisch mit den prorussischen Separatisten auseinandersetzt”. Es hat Gründe, warum die deutschen Medien sie ihrem Leser vorenthalten.
Wir holen es nach, bitte schön:
“Zögere nicht”,
wendet sich der “Poet” an den “prorussischen Aufständischen” im leidgeprüften Donbass,
“Töte mich, du Bastard!
Du willst es so sehr.Während du für den Donbass gekämpft hast,
habe ich deine Töchter gefickt,
und habe deinem dreijährigen Sohn Drogen verkauft.”
Was ist das, wenn nicht eine widerliche Hassstiftung in einer Zeit, in der Russland um sein Überleben und auch darum kämpft, angesichts realer, schlimmer Verbrechen ukrainischer Nationalisten im Donbass und neuerdings auch im russischen Kernland bei Sinnen zu bleiben, nicht zum Opfer des Hasses zu werden und selbst nicht von Hass zerfressen zu werden?
Das gesamte Gedicht, wenn man es so nennen will (es enthält keinen einzigen Reim, der nicht auf beiden Beinen hinkt), ist widerlich und abscheulich. Doch das darf der deutsche Leser natürlich nicht erfahren, denn sonst würde er sich ja eine eigene Meinung bilden.
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