Von Susan Bonath
Die Friedenskundgebung unter dem Motto “Stoppt den Völkermord in Gaza! Keine Waffen in Kriegsgebiete! Frieden statt Wettrüsten” am Samstag in Berlin hat den deutschen Mainstream in Rage versetzt.
Die von den Öffentlich-Rechtlichen zelebrierte “Objektivität” hat sich selbst durch Auslassungen und Wertungen ad absurdum geführt. Andere Medien versuchten es mit Spott, persönlichen Angriffen und dem bekannten Vorwurf, die Seite der vom Westen zu “den Guten” Erkorenen nicht genug gewürdigt zu haben. Ein Kurzüberblick über die Berichterstattung und (ausdrücklich wertende) eigene Eindrücke der Autorin von vor Ort sollen dazu beitragen, den deutschen Propaganda-Dschungel zu erhellen.
Die “umstrittenen” Öffentlich-Rechtlichen
Das Meinungsschlachtschiff Tagesschau versuchte sich in bräsiger Aneinanderreihung von Verlautbarungen. “Tausende Menschen” hätten an der Kundgebung am Brandenburger Tor teilgenommen, zu der “BSW-Gründerin Sahra Wagenknecht und andere prominente Mitstreiter wie der Schauspieler Dieter Hallervorden, der Musiker Peter Maffay und der Rapper Massiv aufgerufen hatten”. Die Polizei habe 12.000 Teilnehmer “gezählt”, die Veranstalter 20.000. Alle hätten einen generellen Waffenlieferstopp in Kriegsgebiete sowie Friedensverhandlungen gefordert, “sowohl im Nahen Osten als auch in der Ukraine”.
Die Nachrichtensendung zitierte sogar die inzwischen zur Verkörperung des Bösen aufgeblasene BSW-Chefin Wagenknecht einigermaßen korrekt: “Auch wir verurteilen das schreckliche Massaker der Hamas und die Geiselnahmen.” Nichts davon rechtfertige aber, “zwei Millionen Menschen im Gazastreifen, die Hälfte davon Kinder, wahllos zu bombardieren, zu ermorden, auszuhungern und zu vertreiben”. Ähnlich hielt es das ZDF. Trotzdem versteckten die öffentlich-rechtlichen Hauptkanäle viel Propaganda im Detail.
Die Tagesschau verkündete zwar, dass die Organisatoren eine Videobotschaft des britischen Musikers Roger Waters übertrugen, versahen seine Person allerdings mit dem Etikett “der umstrittene Pink-Floyd-Mitbegründer”. Das Wort Völkermord setzte sie geflissentlich in Anführungsstriche, erklärte aber immerhin, dass Völkermordforscher der israelischen Führung diesen ebenfalls vorwerfen. Während das ZDF sogleich ausgiebig die Verlautbarungen des Täters herunterrasselte. Die Inhalte der Reden der Protagonisten blieben fast vollständig im Dunkeln. Und die übertragene Videobotschaft des jüdisch-israelischen Soziologen Moshe Zuckermann verschwiegen sie alle, auch Die Zeit, die taz, die Berliner Morgenpost und andere.
Spott und persönliche Angriffe
Die sich für liberal haltende Zeit versuchte, die Protagonisten mit Hohn und Spott zu verunglimpfen. Unter dem Titel “Die wilde Wagenknecht-Connection” verzichtete sie zwar auf jegliche inhaltliche Auseinandersetzung, schlug aber umso kräftiger auf die BSW-Gründerin und den 90-jährigen Hallervorden (denen es angeblich nur darum gehe, “wieder Aufmerksamkeit zu bekommen”) persönlich ein. Die Demo-Teilnehmer stellte das Blatt sämtlich ins Schwurbel-Eck, gespickt mit Vokabeln wie “Frieden” in Anführungsstrichen, “antisemitisch”, “schnulzigen Songs”, “AAAABER” und mehr.
Den belegbaren ukrainischen Kult um den Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera tat Die Zeit wie Roger Waters’ private Verschwörungstheorie ab. Den live übertragenen Völkermord in Palästina behandelte sie wie eine Erfindung irgendwelcher Untergrund-Antisemiten, und Zitate aus den Reden riss sie aus dem Zusammenhang, um sogleich böswillige Motive zu unterstellen und noch eine Schippe Hohn obendraufzupacken.
Die Berliner Morgenpost wartete mit einer derartigen Keule gleich in der Überschrift auf: “Gegendemonstranten verspotten Wagenknecht” – obgleich es das wohl Irrelevanteste an der ganzen Veranstaltung war, dass maximal zwei Dutzend Schwenker von Israel-, Ukraine- und persischen Schahflaggen auf der anderen Seite des Tors mutmaßlich Parolen grölten, die bei der Demo gar nicht ankamen. Und laut der taz sei “der Versuch, Nahost mit der Ukraine zu verknüpfen, missglückt”. Nun, erstens hat niemand beides in der Sache miteinander “verknüpft”, zweitens richten sich bekanntlich Friedensdemos gegen jeden Krieg – und so kamen tatsächlich auch andere Kriege zur Sprache.
Eindrücke: Formiert sich mehr Widerstand?
Die Teilnehmerzahl ist tatsächlich schwierig zu schätzen. “Wenn der Platz voll ist, sind es über 15.000”, versicherte ein erfahrener Journalistenkollege der kleinen Berliner Tageszeitung junge Welt. Er war brechend voll, zumal ich später auf der Suche nach der Gegendemo auch auf der anderen Tor-Seite viele Palästina- und Friedensbanner entdeckte. Erst später bemerkte ich, dahinter versteckt, ein Grüppchen der chinesischen Falun-Gong-Sekte sowie einige Personen mit einer Flagge des persischen Schahs und einer israelischen Fahne. Zwei weitere Personen, mutmaßlich auf dem Weg zu ihnen, trugen eine weitere Israel- sowie eine ukrainische Fahne.
Das Publikum der Friedensdemo war in jeder Hinsicht bunt durchmischt, sowohl vom Alter als auch von der Herkunft her. Neben Fahnen und Transparenten mit Friedenstauben und Antikriegssprüchen, die an die alte (bereits recht vergreiste) Friedensbewegung erinnerten, wehten Kufiyas (Palästinensertücher) und Palästinaflaggen. Die vom Selbstverständnis her marxistische Zeitung junge Welt verteilte kostenlos ihre Exemplare, viele Flyer mit Botschaften gegen Unterdrückung sowie für Frieden und Völkerverständigung gingen um.

Jünger, bunter, multikulturell
Hervorhebenswert ist vor allem die starke migrantische Beteiligung: Menschen jeder Herkunft, Kultur und Hautfarbe demonstrierten zusammen, und das ist definitiv ein Novum für die Friedensbewegung, die zuletzt arg gealtert war. So war auch der Altersdurchschnitt sehr viel geringer, als bei Veranstaltungen dieser Art noch vor ein paar Jahren. Auffällig war darüber hinaus ein hoher Frauenanteil, viele Kinder und Jugendliche, was nur zum Teil an der Beteiligung von Palästina-Solidaritätsgruppen herrührte.
Die von den “Leitmedien” vielfach verunglimpften Reden auf der Bühne empfand ich allerdings noch immer als zu wenig kämpferisch und viel zu sehr darauf bedacht, (ohnehin erwarteten) böswilligen Gegenwind aus dem Mainstream zu vermeiden. Um es konkreter zu machen: Die klassischen Vorabbekenntnisse à la “Wir verurteilen Putins Angriffskrieg” bis “Hamas ist eine böse Terrororganisation” fehlten nicht, wurden aber von den meisten Medien vorhersehbarerweise als “gar nicht so gemeint” verspottet. Man hätte darauf verzichten können.
Bitte etwas selbstbewusster!
Dazu noch ein paar persönliche Gedanken: Erstens trägt es nicht zum Ziel der Demo, dem Frieden, bei, allein schuldige Bösewichte zu verorten. Das entspricht nie der komplexen Realität und kann nicht Grundlage zum Verhandeln sein. Das betrifft auch die Hamas: So sehr man ihre Ideologie und einzelne Taten verurteilt, ist sie doch Teil des palästinensischen Widerstands. Die seit Jahrzehnten brutal unterdrückten Palästinenser haben ganz grundsätzlich ein solches Recht auf Widerstand gegen den laut Völkerrecht illegal agierenden, schwere Menschenrechtsverletzungen begehenden Besatzerstaat.
Hier hilft ein Blick in die Geschichte: Auch die versklavten Afrikaner in den US-amerikanischen Südstaaten begingen im 19. Jahrhundert Massaker an ihren weißen “Herren” und deren als Zivilisten geltenden Familien. Niemand käme deswegen heute auf die Idee, damit die Sklaverei zu rechtfertigen oder sie als Grund für die Aufstände der Unterdrückten zu leugnen. Genau das betreiben aber deutsche Moralapostel bezüglich der israelischen Besatzung, deren Praxis nicht nur in Gaza, sondern auch im Westjordanland immer genozidaler wird. Die Friedensbewegung sollte nicht mehr über jedes Stöckchen derer springen, die sie hassen.
Auftakt für weitere Demos
Die Kundgebung am Samstag könnte ein Meilenstein für eine neu erstarkende, jüngere Friedensbewegung sein. So sollen bis zum 3. Oktober an mehreren Orten weitere Aktionen stattfinden, zum Beispiel am 20. September im bayerischen Grafenwöhr, dem voraussichtlichen Stationierungsort neuer US-Raketen, am 27. September in Berlin unter dem Motto “All Eyes on Gaza – Stoppt den Genozid” und am 3. Oktober unter dem Slogan “Nie wieder Krieg” in Stuttgart und Berlin.
Ob gerade eine neue, starke Friedensbewegung entsteht und aufsteht, muss sich noch zeigen. Noch sind viele Gruppen gespalten, nicht zuletzt durch Medienkampagnen, auf welche Teile der alten Bewegung oft ziemlich allergisch reagieren, anstatt sich mit Blick auf die Sache selbstbewusst auf Widersprüche einzulassen. Ein geschlossener Aufstand ist angesichts der brenzligen Lage aber nötiger denn je. Anders werden die einflussreichen Kriegstreiber in Deutschland nicht aufzuhalten sein.
Mehr zum Thema – Propaganda: Wie der WDR die Kölner Friedensdemo zu einem Gewaltevent umdichtet