
Von Dagmar Henn
Teil l
Die norwegische Studie “Europes Choice” (Europas Wahl) lieferte nach ihrem Erscheinen auf Englisch zahlreiche Schlagzeilen in Deutschland. Die zentrale Behauptung, es sei letztlich billiger, den Krieg in der Ukraine weiter zu finanzieren, wurde begeistert in den Leitmedien verbreitet. Die Voraussetzungen, unter denen dieses Papier zu diesem – reichlich tollkühnen – Ergebnis kommt, wurden aber nicht genauer betrachtet, geschweige denn hinterfragt. Wo käme man denn da hin, schließlich ist Norwegen ein NATO-Partner. Ganz nebenbei einer, der beträchtlich vom Ukraine-Konflikt profitiert hat, aber …
Es lohnt sich jedenfalls durchaus, dieses Produkt genauer zu betrachten. Denn das, was am Ende als Ergebnis verkauft wird, beruht auf einer Unzahl fragwürdiger Prämissen. Was bei den Erstellern der Studie kein Wunder ist. Der eine ist das staatliche Norwegische Institut für Internationale Angelegenheiten (NUPI), parlamentsfinanziert und dem Bildungsministerium unterstellt; der andere ist Corisk, ein privates Beratungsunternehmen, das Erlend Bollman Bjørtvedt gehört, Geld unter anderem von der Soros-Stiftung erhält und die letzten Jahre über vorrangig von Studien zu Sanktionen und Sanktionsumgehungen lebte. Nun, jemand, dessen Geschäft auf den Sanktionen beruht, ist da nicht notwendigerweise neutral. Weitere Beteiligte waren die norwegische Militärakademie und das statistische Amt Norwegens. Aber solche Details gehören zumindest in Deutschland schon lange nicht mehr zum Umgang mit solchen Papieren.
Die Überschrift “Europas Wahl” beruht auf zwei Szenarien, die angeblich durchgerechnet werden. Beide Szenarien sind unscharf; das eine wird als (teilweiser) russischer Sieg, das andere als (teilweise) ukrainischer Sieg beschrieben. Mal abgesehen davon, wie realistisch die zweite Variante überhaupt ist, angesichts der Tatsache, dass der Ukraine das Personal ausgeht – die Variante “russischer Sieg” beinhaltet nur ein Vorrücken bis zum Dnjepr und eine dann erzwungene “Friedensregelung auf für Russland günstiger Grundlage”.
Also gleich zu Beginn wird eine Wahl eröffnet, die in dieser Weise nicht wirklich existiert. Wenn man 95 ukrainische Brigaden ausrüsten könne, mit bis zu 2.500 Kampfpanzern, acht Millionen Drohnen, bis zu 3.000 Artilleriegeschützen und Raketen mit einer Reichweite von mehr als 300 Kilometern, dann könne die ukrainische Armee, so die Behauptung (und hier spielt der Herr von der norwegischen Militärakademie eine Rolle), eine derart überlegene Kampfkraft entwickeln, dass sie sogar ukrainisches Gebiet zurückerobern könne. Nebenbei: Dieses “ukrainische” Gebiet wurde zu großen Teilen schon im Jahr 2014 von der dortigen Bevölkerung aus der Ukraine gelöst.
Das wäre gar nicht teuer, erklären die norwegischen Herren, das würde die Staaten der EU nur 0,9 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts kosten, hielte sich also im Rahmen. Das ist jedoch nur die “Unterstützung für die Ukraine”; gleichzeitig wird aber im selben Papier auch eine weitere Beschleunigung der Aufrüstung verlangt, die es auch nicht umsonst gibt. Als Vergleich für die Kosten, die vermeintlich bei den beiden Szenarien anfallen, werden dann die Pandemie und die Bankenrettung angeführt – mehr oder weniger in dem Tenor, das sei ja schließlich auch gegangen; unter Verkennung der Tatsache, dass jede weitere derartige Runde von schlechteren Voraussetzungen ausgeht.
Gar nicht enthalten ist die Variante einer kompletten Niederlage der Ukraine bis zu einem Zerfall des vorhandenen Staats. Auch ein russischer Durchmarsch bis zur westlichen Grenze ist nicht Teil der Überlegungen. Relevant ist einzig, ob das Ergebnis “für Russland günstig” ist. Und es gibt genau eine Aussage, die die Realität widerspiegelt:
“Wenn für beide Seiten der Zugang zu und die Nutzung von Ressourcen gleich bleibt, wird sich der Konflikt schrittweise auf Szenario 1 zubewegen, in dem Russland militärisch siegt oder die Ukraine zu Friedensbedingungen drängt, die russische Kerninteressen sichern.”
Man könnte natürlich fragen, was denn daran schlecht sei; schließlich war das Ziel Russlands nie, die Ukraine zum Bestandteil eines russischen Militärbündnisses zu machen, sondern nur, sie nicht in der NATO zu sehen. Selbst eine Mitgliedschaft in der EU wurde zumindest früher nicht abgelehnt, auch wenn die Militarisierung derselben diese Position allmählich ändert.
In der verbliebenen Ukraine, so die Behauptung der Norweger, würde die Demokratie erodieren, es bestünde ein Risiko der Rückkehr zur Oligarchie und weitverbreiteter Korruption, und “eine Umkehr der Bewegung hin zu Demokratisierung und Transparenz”. Außerdem würde das wirtschaftliche Stagnation auslösen.
Ökonomisch eine interessante Sicht auf ein Land, das sein gewöhnliches Budget nur noch mit Spenden aufrechterhalten kann. Die gesamte wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine nach 1992 ist ein einziger Abstieg, mit einem fast völligen Verlust der früher vorhandenen technologischen Fähigkeiten. Wer die Verhältnisse in der Ukraine auch nur ein bisschen beobachtet hat, weiß, dass da nicht mehr viel Demokratie verloren gehen kann, da ohnehin alle Oppositionsparteien bereits verboten sind, und was die Korruption betrifft, ist der zuletzt aufgedeckte Fall nur die Spitze des Eisbergs. Auf welcher Grundlage in dem ruinierten – und völlig überschuldeten – Land da eine Wirtschaft wachsen soll, wird nicht genauer ausgeführt. Es wird nur behauptet.
Auf jeden Fall aber soll das Szenario 1 zu einer Welle von zusätzlich sechs bis elf Millionen ukrainischen Flüchtlingen führen. Wohlgemerkt, die Hypothese selbst geht davon aus, dass der Konflikt zugunsten Russlands beendet ist. Es gibt selbst in der EU keinerlei Rechtsgrundlage, Ukrainer, die nach Ende des Konflikts in die EU drängen, überhaupt hineinzulassen, denn auch für subsidiären Schutz fehlt dann jede Grundlage. Und auch wenn die Ukraine spätestens seit dem Jahr 2014 nicht mehr souverän war – die Ukrainer haben es mit sich machen lassen, sie ließen und lassen sich verheizen, sie dulden eine Regierung, die sich mit fremdem Geld die Taschen füllt und dafür den Krieg braucht. Welchen Grund gäbe es, da nicht die Grenzen zu schließen und zu erklären, sie könnten die Suppe, die sie sich eingebrockt haben, auch auslöffeln?
Tatsächlich sehen unsere Norweger eine Gefahr in den Kosten dieser angeblich zu erwartenden Flüchtlinge und in der dadurch ausgelösten Destabilisierung der “Empfängerländer”; formuliert nur als Risiko eines zunehmenden “Populismus”, ohne die einfache Wahrheit auszusprechen, dass die Bevölkerung in kaum einem europäischen Land auf noch mehr Ukrainer versessen ist. Nun, entscheidend sind die Grenzen zu Ungarn, Polen und Rumänien. Wenn klar ist, dass in Deutschland und in Polen keine weiteren Ukrainer akzeptiert werden, dürften diese Grenzen ziemlich schnell geschlossen werden. Wie gesagt, nach einem Ende der Kriegshandlungen gibt es keinen humanitären Grund mehr.
Die ökonomische Wirklichkeit in den Ländern, in die es sie dann ziehen soll, taucht auch nur angedeutet auf. Die Kosten für diese zusätzlichen Flüchtlinge blieben hoch bis zu ihrer Integration in den Arbeitsmarkt. Aber das könne Zeit benötigen, “teilweise wegen der ungewissen wirtschaftlichen Bedingungen in den Gastländern”. So kann man es auch nennen. Eine hübsche Formulierung für den Elefanten im Raum: den wirtschaftlichen Niedergang der EU-Länder, vor allem Deutschlands, dank der EU-Sanktionen gegen Russland. Denn dieser Punkt taucht in der Berechnung nicht auf. Da wird zwar abgezählt, was all die Panzer und Geschütze kosten würden, um “ukrainische Überlegenheit” zu erreichen, aber die Verluste an Wirtschaftswachstum, die durch die Sanktionen und die daraus resultierenden hohen Energiekosten ausgelöst wurden, bleiben außen vor.
Dabei wäre eine denkbare Folge eines “russischen Siegs” eine Wiederaufnahme der russischen Energielieferungen und zumindest ein gewisses Wachstum auch in der EU. Aber diese Option wird gar nicht eingerechnet, obwohl Corisk doch geradezu auf Sanktionen spezialisiert ist.
Außen vor bleiben übrigens auch, das zumindest erklären die Autoren explizit, die aktuellen Rüstungshaushalte sowie die aktuellen Kosten, die durch ukrainische Flüchtlinge ausgelöst werden. Mit einer Ausnahme: In Szenario 2 soll es Einsparungen geben, weil die heute in der EU lebenden Ukrainer zurückkehren würden, wenn die Ukraine gesiegt hätte.
Nette Idee. Besonders überzeugend vor dem Hintergrund, dass all die Syrer, die angeblich vor der Regierung Assad geflohen sind und sich nichts sehnlicher wünschten als so etwas wie die aktuellen islamistischen Machthaber, immer noch in Deutschland sind, abgesehen von gerade mal um die 3.000, die bisher zurückgegangen sind. Auch die Ukrainer, zumindest in Deutschland, haben sich in Umfragen bereits dahingehend geäußert, dass sie eher nicht zurückwollen. Wenn also an diesem Punkt in diesem Szenario die Bundesregierung nicht eine ungewöhnliche Aktivität entwickelt, wird es nichts mit diesen “Ersparnissen”, und die wahren Kosten einer Verlängerung des Krieges werden eben nicht nur auch den Verlust an Wirtschaftskraft, der die EU-Länder trifft, sondern auch weiterhin die Kosten für die Flüchtlinge beinhalten.
Die nordeuropäischen Länder, so unsere Norweger, “werden im Durchschnitt ihre Unterstützung der Ukraine auf 2,4 Prozent ihres BIP” erhöhen müssen. Geben wir doch die realistische Zahl, die klassische deutsche Hausnummer: Der Bundeshaushalt pendelt um die zehn Prozent vom BIP. 2,4 Prozent sind also faktisch ein Viertel des Bundeshaushalts. Jeder vierte Euro an einen fremden Staat, und dann noch einmal so viel für Aufrüstung? Ernsthaft? Auch wenn Deutschland eine Kolonie der Ukraine wäre, wäre das dreist. Und das wollen diese Norweger als vernünftige Position verkaufen?
Richtig lustig wird es aber dann, wenn von Norwegen die Rede ist. Das soll jährlich, so die Berechnung, für einen ukrainischen Sieg im Zeitraum der vier Jahre bis 2029 bis zu 186 Milliarden norwegische Kronen oder umgerechnet mit den in der Studie dafür angesetzten 11,60 Kronen/Euro insgesamt 16 Milliarden Euro bezahlen. Allerdings: Im Gegensatz zum Rest der EU hat Norwegen keinen Verlust an BIP erlitten, weil es Erdgas und -öl verkauft. Ja, im Gegenteil, der norwegische Staatsfonds, in den diese Einnahmen fließen, hatte Rekordeinnahmen. Der Zuwachs betrug von 2021 bis 2024 – trotz eines Verlustes im Jahr 2022 – über 600 Milliarden Euro. Die Einnahmen aus Öl und Gas machen zwischen 20 und 25 Prozent des norwegischen BIP aus und fließen hauptsächlich in den Staatsfonds.
Im Verhältnis dazu sind die erwähnten 16 Milliarden Euro geradezu lächerlich. Oder deutlicher formuliert: Warum sollten zwei norwegische Institute eine Prognose liefern, die sich gegen einen Krieg ausspricht, der für Norwegen ein hervorragendes Geschäft darstellt? “Norwegen kann”, wird ganz stolz behauptet, “einen nennenswerten Teil des europäischen Beitrags zu einem ukrainischen Sieg in den nächsten vier Jahren finanzieren, ohne seine fiskalischen Regeln zu verletzen.” Angesichts der Tatsache, dass die zusätzlichen Einnahmen Norwegens ein Vielfaches dieses “nennenswerten Beitrags” darstellen, eine nur begrenzt tugendhafte Haltung.
Mehr zum Thema – Studie: Russischer Sieg bedeutet Finanzkollaps für die EU






