Von Wolfgang Bittner
Nachdem in den deutsch-russischen Beziehungen einige Jahre lang Tauwetter eingetreten war und eine zunächst noch blasse Sonne des Friedens und der Prosperität die dunklen Wolken durchdrungen hatte, herrscht aufgrund des Krieges in der Ukraine seit dem 24. Februar 2022 wieder akuter kalter Krieg, der rasch in einen heißen Krieg übergehen kann. Nach wie vor werden existenzgefährdende Aggressionen geschürt, Russland wird permanent provoziert, und es sieht nicht danach aus, dass diese Jahrhunderttragödie bald ein Ende findet und sich die Völker Europas wieder auf ihre Gemeinsamkeiten besinnen. Derzeit ist das Gegenteil der Fall: Starke zentrifugale Kräfte und divergierende politische Vorstellungen führen immer mehr zu Auseinandersetzungen, auch innerhalb der europäischen Staaten.
Ein Europa souveräner Staaten
Im Gespräch ist erneut ein eigenständiges Europa souveräner Staaten (das sogenannte Europa der Vaterländer), also eine Abwendung von der US-affinen Politik, die zu ruinösen Verhältnissen geführt hat. Mit gigantischer Aufrüstung und einer Stärkung der NATO beginnen zu wollen, zeugt davon, wie verkorkst die Situation ist. Denn der von den USA geführte Nordatlantikpakt hat sich in den vergangenen Jahren von einem Verteidigungsbündnis zu einem Aggressionsbündnis entwickelt, das sich anmaßt, global im Sinne des monopolaren Anspruchs der USA zu agieren.
Um der Selbständigkeit Europas willen das Hauptaugenmerk auf das Projekt einer europäischen Armee zu richten, erscheint ebenso verfehlt. Im Rahmen der NATO würde eine solche Armee letztlich den US-Militärs unterstehen, die dann uneingeschränkten Zugriff auf europäische Kampfeinheiten für ihre Interventionskriege hätten. Und außerhalb der NATO würde, nachdem die Briten aus der EU ausgeschieden sind, die Atommacht Frankreich dominieren.
Es geht um viel Wesentlicheres, nämlich um eine Neubesinnung und Neuordnung Europas. Und das lässt sich nicht in der neoliberalen Diktatur, mit der es die Bevölkerung zu tun hat, durchsetzen, nicht mit diesem Brüsseler Wasserkopf und den dort die Politik mitgestaltenden US-Netzwerken und etwa 12.000 Lobbyvertretungen, nicht in der herrschenden Aufrüstungshysterie, der wirtschaftlichen und militärischen Interventionspolitik und den Austeritätsvorgaben, die ärmere Länder in den Ruin treiben.
Dabei ist für die Neuordnung Europas, in der es nicht nur um Ökonomie, Technologie oder Militär gehen kann, eine Beteiligung Russlands unabdingbar. Denn ohne Russland wird es ein friedliches, prosperierendes Europas nicht geben. Insofern müssen sich alle Bemühungen der nächsten Zeit auf Vertrauen schaffende Maßnahmen, Verhandlungen und eine Aussöhnung mit Russland richten. Dazu gibt es fortschrittliche Bestrebungen in ganz Europa. Die entscheidende Frage wird sein, ob den Bekundungen Taten folgen und wie dieses zerrüttete Europa, wäre es dann unabhängiger, künftig gestaltet werden sollte.
Europäische Kultur
Umso wichtiger ist es, sich auf Gemeinsamkeiten zu besinnen, die die Völker Europas verbinden, und zwar unabhängig vom Willen und der Propaganda nationalistisch gesinnter Kreise. Diese Gemeinsamkeiten finden sich in der Kultur. Denn der geistig-kulturelle Austausch war niemals nur regional oder national beschränkt oder ideologisch eingeengt. Es gab Epochen in Europa, in denen die Grenzen durchlässiger waren als in unserer jüngsten Vergangenheit.
Von europäischer Kultur ist also die Rede, und wer davon spricht, meint für gewöhnlich die in den europäischen Ländern gepflegte Literatur, Musik, Malerei, Bildhauerei, Architektur usw. Dazu gehören im weitesten Sinne auch die Achtung der Menschenrechte, das Bildungswesen, Wohnbedingungen oder Essgewohnheiten, ja sogar Verkehrswesen, Kranken- und Altenversorgung oder der Umgang mit Strafgefangenen. Das alles nennen wir Kultur, die sich über die Jahrhunderte entwickelt hat.
Die europäische Kultur gründet sich vor allem auf vier Säulen. Erstens: die griechische Philosophie und Humanitas; zweitens: römische Zivilisation und römisches Recht in Verbindung mit den germanisch-keltischen Einflüssen; drittens: die christliche und jüdische Religion und viertens: in jüngerer Zeit die Französische Revolution mit ihrer Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Solidarität sowie die darauf beruhenden sozialen Ideen und Visionen. Übrigens hatte die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 bereits Vorgänger in Korsika und in Polen, was heute kaum noch bekannt ist.
Die Ursprünge dessen, was wir heute allgemein als unveräußerliche und unentziehbare Menschenrechte bezeichnen, lassen sich wiederum auf die Naturrechtsgedanken der Antike wie auch auf die alten Volksrechte im europäischen Raum zurückführen. Diese Grundrechte und Grundsätze, die sich später unter anderem in der englischen Magna Charta Libertatum von 1215 sowie in der Habeas-Corpus-Akte von 1679 manifestiert haben, wurden auch für die amerikanischen Freiheitsrechte übernommen.
Wie aber konnte sich eine gemeinsame europäische Kultur in einem so zerklüfteten Gebilde wie dem mittelalterlichen Europa entwickeln, fragen wir uns heute. Und übersehen dabei, dass der kulturelle Austausch in früheren Jahrhunderten zeitweise wenigstens so intensiv und problemlos vonstattenging wie im 21. Jahrhundert in der Epoche nach der vorübergehenden Beendigung des Kalten Krieges, der Europa jahrzehntelang in feindliche Lager gespalten hatte. Solche Grenzüberschreitungen und ihre Bedeutung für die Literatur, Kunst und Wissenschaften können nicht hoch genug eingeschätzt werden; das gilt für vergangene Jahrhunderte, aber auch für die heutige Zeit, in der wir seit der von den USA oktroyierten Sanktionspolitik und dem inszenierten Krieg in der Ukraine einen epochalen Rückschritt erleben.
Grenzüberschreitungen
Noch 2001 sagte der russische Präsident Wladimir Putin in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag – das war damals noch möglich: “Kultur war immer unser gemeinsames Gut und hat die Völker verbunden.” Russland ist das größte Land Europas, das wird zurzeit systematisch verdrängt und gerät allmählich in Vergessenheit. Zwischen den westeuropäischen Ländern und Russland gab es jahrhundertelang intensive Handelsbeziehungen, kulturellen und wissenschaftlichen Austausch. Was wäre die europäische Kultur ohne die russische Literatur, Kunst, Musik, ohne das russische Theater? Ich nenne nur die Schriftsteller und Dichter Tolstoi, Dostojewski, Tschechow, Gorki, Puschkin und Jewtuschenko, die Maler Jawlenski, Malewitsch und Repin (ich habe sofort die Wolgatreidler vor Augen), die Musiker Prokofjew, Schostakowitsch und Tschaikowski (ich höre die Nussknacker-Suite). Puschkin las Goethe, Goethe las Puschkin, bis heute wird in Russland Heinrich Heine verehrt, und Beethoven widmete der Zarin Elisabeth seine Polonaise Op. 89, wofür ihm zum Dank eine großzügige Zuwendung gewährt wurde. Zar Peter I. arbeitete 1697 inkognito auf einer niederländischen Werft, um die Techniken des Schiffsbaues zu erlernen, und Albert Lortzing verfasste nach dieser historischen Episode das Libretto für seine Oper “Zar und Zimmermann”.
Zwischen den europäischen Ländern und zwischen ihren Dichtern und Künstlern hat es immer einen regen kulturellen Austausch gegeben. Es ist kein Geheimnis, dass Johann Wolfgang von Goethe seinen “ultimativen Kick” während einer Italienreise erhielt. Und sein Drama “Faust” beruht auf einer Überlieferung, die erstmals 1587 in einem deutschen Volksbuch erschien und von einem Mann berichtet, der einen Bund mit dem Teufel eingeht. Das Vorbild dafür war augenscheinlich der Arzt und Gelehrte Paracelsus, 1493 in der Schweiz geboren, der in Österreich und Italien lebte und praktizierte. Auch der englische Dramatiker Christopher Marlowe (1564-1593) schrieb ein Stück über diese Thematik – den Pakt mit dem Teufel – schon lange vor Goethe.
Für viele Kulturschaffende gab es keine Grenzen. Der Nürnberger Bildhauer Veit Stoß zum Beispiel schnitzte von 1477 bis 1489 den bis heute bewunderten Altar in der Marienkirche in Krakau. Nikolaus Kopernikus wurde in Toruń (Thorn) geboren, und als er sich in Italien an der Universität einschrieb, wusste er nicht – so wird bekundet –, ob er seine Herkunft als Deutscher oder als Pole angeben sollte. Erasmus von Rotterdam pflegte einen umfangreichen Briefwechsel mit Geistesgrößen in ganz Europa, unter anderem mit Justus Decius, Berater des polnischen Königs Sigismund des Älteren in Krakau. Justus Decius (eigentlich Jost Ludwig Dietz) stammte aus dem Elsass, das damals zu Deutschland gehörte, und galt seinerzeit als eine der einflussreichsten Persönlichkeiten in Polen.
Friedrich Schiller wurde von den Ideen Jean-Jacques Rousseaus beeinflusst; der französische Philosoph Voltaire lebte eine Zeitlang am Hofe Friedrichs des Großen in Berlin; der schlesische Poet Andreas Gryphius – er lebte von 1616 bis 1664 und schrieb wunderbare schwermütige Gedichte – traf in Amsterdam den niederländischen Poeten Joost van den Vondel. Der Dichter Jakob Lenz und andere deutsche Dichter, Vorläufer der Romantik, gingen nach Polen und Russland. Heinrich Heine und Ludwig Börne emigrierten nach Paris, Georg Büchner floh – verfolgt von der hessischen Geheimpolizei – nach Frankreich und in die Schweiz, wo er mit 24 Jahren starb.
Der große polnische Dichter Adam Mickiewicz lebte jahrelang in Russland und in Frankreich, der englische Dichter Lord Byron in der Schweiz und in Italien. Dostojewski spielte Roulette im Baden-Badener Spielkasino, in Bad Homburg und in Paris. Tolstoi besuchte Schulen in Deutschland, um sich Anregungen für eine Schule in seinem russischen Dorf Jasnaja Poljana zu holen. Der spanische Kulturphilosoph Ortega y Gasset studierte in Deutschland und lebte seit dem Spanischen Bürgerkrieg unter anderem in Frankreich und den Niederlanden. Die berühmten deutschsprachigen Dichter Franz Kafka und Max Brod lebten in Prag, Franz Werfel und Karl Kraus in Wien. Der deutsche Schriftsteller Alfred Döblin reiste 1923 einige Monate durch Polen und hinterließ der Nachwelt seine hochinteressanten gesellschaftsanalytischen Aufzeichnungen “Reise in Polen”, die 1926 erschienen.
Im “Dritten Reich” und während des Zweiten Weltkriegs emigrierten deutsche Schriftsteller und Künstler nach Schweden, zum Beispiel Kurt Tucholsky, Bertolt Brecht und Peter Weiss, oder nach England, zum Beispiel Alfred Kerr, Kurt Schwitters oder Sebastian Haffner. Deutsche und polnische Existenzialisten und Intellektuelle flohen vor dem deutschen Faschismus zuerst in die Niederlande und schließlich weiter nach Frankreich und Spanien. Und in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts flohen viele griechische Künstler vor dem griechischen Faschismus nach Deutschland, Frankreich und Polen. Später kamen zahlreiche Dissidenten aus den kommunistischen Ländern Osteuropas nach Westeuropa.
Aber auch viele Maler wechselten ihren Wohnsitz, so Chagall, Kandinsky und Jawlensky, die von Russland nach Frankreich und nach Deutschland gingen. Gauguin heiratete eine schwedische Frau. Der Bildhauer Brâncuși wanderte sogar zu Fuß von Rumänien nach Paris. Und auch der norwegische Maler Edvard Munch wandte sich nach Paris, ebenso wie der schwedische Dramatiker August Strindberg oder der berühmte polnische Komponist Frédéric Chopin. Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, emigrierte von Wien nach London.
Und schauen wir uns die Architektur an. Ganze Straßenzüge in Riga oder in Vilnius könnten ebenso in Lübeck stehen; in manchen Vierteln von Krakau oder Lemberg meint man in Wien oder in Prag zu sein; italienische Architekten wirkten in Deutschland, Frankreich, Russland oder Polen. In den Dombauhütten waren Baumeister aus vielen Ländern Europas vereinigt.
Alle diese Künstler, Schriftsteller, Dichter, Architekten und Gelehrten inspirierten sich gegenseitig, und insofern können wir von einer europäischen Kunst und Literatur, von einer europäischen Kultur sprechen. Jeder brachte seinen eigenen nationalen Charakter, seine Persönlichkeit ein, geprägt durch die regionale Kultur, durch lokale Eigenheiten, gesellschaftliche Verhältnisse, Landschaft, Folklore usw. Betrachten wir Chagall und sein Werk: In seinen Bildern spiegelt sich seine russisch-jüdische Kindheit. Oder Franz Werfel, den Autor jüdischer Herkunft, der in Österreich lebte, bevor er nach Frankreich und weiter in die USA emigrierte; er schrieb einen Bestseller über den katholischen Wallfahrtsort Lourdes in Frankreich.
Über die Jahrhunderte hat sich ein reger kultureller Austausch nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd entwickelt, in den die Länder eigene Impulse eingebracht und eine gemeinsame europäische Identität entwickelt haben, und zwar trotz unterschiedlicher Mentalitäten, politischer Strategien und kriegerischer Auseinandersetzungen. Allerdings ist festzustellen, dass dieser Prozess durch gezielte Einflussnahme aus den USA gravierend gestört ist. Eine künftige koordinierte Kulturpolitik sollte in der Lage sein, hier regulierend und bewahrend einzugreifen.
Resümee
Literatur, Musik, Malerei, bildende Kunst oder Architektur können Grenzen überschreiten, die Menschen hören und lernen voneinander, sie überwinden ihre Fremdheit. Da sind unendlich viele Möglichkeiten, Brücken zu bauen durch Kultur, die letztlich Grundlage für jede ökonomische oder technische Entwicklung ist. Das ist essenziell! Schriftsteller und Künstler überschreiten Grenzen, von denen es immer noch viel zu viele gibt, mit Leichtigkeit, und sie haben keine Probleme miteinander. Es gibt andere Verbindungen und Gemeinsamkeiten zwischen Menschen als die Nationalität.
Erstveröffentlichung auf NachDenkSeiten.
Der Schriftsteller und Publizist Wolfgang Bittner ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien das Sachbuch “Ausnahmezustand – Geopolitische Einsichten und Analysen unter Berücksichtigung des Ukraine-Konflikts”, Verlag zeitgeist 2023.
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