Von Kirill Strelnikow
Als sich die schwere Tür hinter dem Assistenten schließt, starrt der ältere Deutsche mit den Schlappohren auf das reifbedeckte Hartgummitelefon. Das Telefon bleibt spöttisch stumm. Und irgendwo in der Entfernung verklingt das nächtliche Läuten der Rathausglocken über der Stadt.
Mit kalten Fingerspitzen nimmt der Mann den Hörer ab und wählt eine bekannte Nummer. Das Freizeichen. Ein weiteres und noch eins.
– Hallo?
– Wladimir?
Pause. Knistern in der Telefonleitung.
– Olaf, ich habe dir schon alles gesagt. Warum rufst du noch mal an?
– Du hast mir das Wichtigste nicht gesagt, Wladimir. Das ist ungerecht. Es ist grausam.
– Ich weiß nicht, was du damit meinst.
– Wladimir, das ist doch dumm. Warum stellst du dich so an? Wir haben dir wehgetan. Wir wollen dir noch mehr wehtun. Wir werden nicht aufhören, Wladimir. Kapierst du das?
– Nein. Doch, ich verstehe. Ihr werdet nicht aufhören. Ist das alles? Es tut mir leid, ich bin müde und habe morgen viel zu tun.
– Wladimir, um Himmels willen …
Kurze Pieptöne. Der Wind heult düster hinter dem trüben Glas.
So ungefähr könnte das nächste Telefonat des deutschen Bundeskanzlers Scholz mit Wladimir Putin ablaufen. Am Freitag äußerte sich Scholz gegenüber dem deutschen Portal T-Online zu einem eventuellen nächsten Telefongespräch. Ihm zufolge “ist Putin in der Ukraine auf ganzer Linie gescheitert”, doch er wolle “ein weiteres Gespräch mit dem russischen Präsidenten führen”.
Doch warum soll man den Besiegten anrufen, wenn es vollkommen ausreichen würde, einen Boten mit dem Text des Kapitulationsdokuments zu entsenden? Und warum sollte man sich dazu überwinden, wenn das vorherige Gespräch “unangenehm” war?
Im August 2023 veröffentlichte die Zeitung Bild Einzelheiten aus einem Gespräch zwischen Olaf Scholz und Emmanuel Macron, das unmittelbar nach dem Beginn der militärischen Sonderoperation in der Ukraine und dem Telefonanruf von Scholz bei Putin stattfand.
“Etwas beunruhigt mich mehr als die Verhandlungen: Putin beschwert sich nicht über die Sanktionen. Ich weiß nicht, ob er das in dem Telefongespräch mit Ihnen getan hat. Aber er hat die Sanktionen nicht einmal erwähnt”, sagte Scholz.
Der französische Präsident erwiderte:
“Bei mir auch nicht.”
Putins Schweigen ist ebenso beredt wie die düsteren Nachrichten, die aus Europa und der ganzen Welt kommen.
Politico zitiert erschütternde Daten, die vom Zentrum für Energie- und Luftreinheitsforschung Helsinki (CREA) bestätigt wurden: Seit dem Beginn der militärischen Sonderoperation in der Ukraine hat die EU mehr als 200 Milliarden Euro für die Beschaffung russischen Erdöls und Erdgases ausgegeben.
Euroexperten räumen ein, dass trotz der voraussichtlichen Einstellung des Gastransits durch die Ukraine zum 1. Januar 2025 und der von der EU verhängten weiteren Beschränkungen, einschließlich eines Embargos für Rohölimporte auf dem Seeweg, “ernsthafte Schlupflöcher bestehen bleiben und die Käufe einiger Brennstoffe weiter zunehmen”. Darüber hinaus verweisen europäische Beamte in ohnmächtiger Wut auf die Unwirksamkeit der von der EU festgelegten Preisobergrenze für russisches Erdöl.
In einem Interview mit der Washington Times räumte der ehemalige stellvertretende US-Außenminister James Glassman ein: “Obwohl der Westen ein ausgeklügeltes Sanktionssystem zur Bestrafung Russlands entwickelt hat, sind die Schlupflöcher und Lücken in diesem System offensichtlich.” Glassman zufolge seien ganze Sektoren der russischen Exporte nach Europa und in die Vereinigten Staaten von den Sanktionen überhaupt nicht betroffen, wobei die EU einige Arten von Sanktionen aufgehoben oder verschoben habe. Außerdem kämen regelmäßig “schockierende” Fakten ans Licht, etwa die Tatsache, dass Eisenhüttenwerke mit russischer Kapitalbeteiligung in einigen europäischen Ländern und in den USA weiter betrieben würden.
Auch Alle Dorhout, der niederländische Botschafter in der Ukraine, teilt Glassmans Kummer und stellt unverblümt fest, dass Sanktionen gegen Russland per se nicht vollständig und absolut sein können:
“Wir arbeiten daran, die Sanktionen immer wieder zu verschärfen, aber wir sind uns bewusst, dass es immer gewisse Umwege geben wird.”
Trotz der lautstarken Ankündigung härterer Sanktionen “haben einige US-Partner ihren Handel mit Russland erheblich ausgeweitet”, berichtet die New York Times. Indien und die Länder am Persischen Golf tätigen weiterhin Rekordkäufe von russischem Erdöl, während die europäischen Länder “die Sanktionen nicht einhalten oder nicht einhalten wollen”.
Nach Angaben von Bloomberg stiegen die Gaspreise in Europa im vergangenen Jahr in der Erwartung von Lieferkürzungen und sich rasch erschöpfenden Gasspeicherreserven um 48 Prozent (und um ein Vielfaches mehr seit Beginn des Sanktionskriegs). Die Erdgaslieferverträge für das nächste Jahr verteuern sich und der Preiskampf mit Asien nimmt zu, sodass das Auffüllen der Gasreserven vor der nächsten Heizperiode kostspielig werden wird. Keiner weiß, wie es weitergeht, aber alle bereiten sich auf das Schlimmste vor.
Die Kälte der leeren Geldbörsen erreicht auch die Herzen der Europäer.
Vor kurzem veröffentlichte das britische Umfrageunternehmen YouGov interessante Ergebnisse einer Umfrage, die in sieben europäischen Ländern (Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Schweden, Dänemark und dem Vereinigten Königreich) durchgeführt wurde. Trotz der Slogans “Bis zum letzten Ukrainer!”, “Europäische Zwerge – zur Verteidigung der Europahütte!” und dergleichen vermitteln sie ein wahres Bild der Stimmung in der Bevölkerung:
- die Unterstützung für die Ukraine in Westeuropa ist stark zurückgegangen;
- die Mehrheit der Befragten befürwortet nun ein auf dem Verhandlungswege ausgehandeltes Konfliktende mit Russland;
- in vier von sieben Ländern würde eine Mehrheit der Befragten eine Friedenslösung in diesem Konflikt vorziehen, selbst wenn dadurch Russland die Kontrolle über einige Teile des ukrainischen Territoriums behalten würde.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sagte kürzlich, Europa habe in diesem Konflikt bereits eine Niederlage erlitten, obwohl es dies natürlich bestreitet:
“Es gibt eine neue Realität, vor allem an der Frontlinie – jeder erkennt das und sieht, was dort passiert. Russland beginnt an der Frontlinie. Es bewegt sich vorwärts – langsam, aber unaufhaltsam. Die EU hat diesen Krieg verloren.”
Viktor Orbán als direkter Mensch spricht einfach das aus, was jedem in Europa klar ist: Russland gewinnt nicht nur an der Front, sondern auch im Kampf um die Geldbeutel und die Herzen der Europäer.
Und wenn das jedem klar ist, wird Putin seine Zeit nicht damit verschwenden, über das Offensichtliche zu diskutieren – er hat Besseres zu tun.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 29. Dezember 2024 zuerst bei RIA Nowosti erschienen.
Mehr zum Thema – EU-Sanktionen um die “Schattenflotte” nützen bestenfalls den USA