Von Wladislaw Sankin
Michael von der Schulenburg ist ein Mann von Welt. Er kann auf viele Jahrzehnte als hoher Beamter auf diplomatischen und friedensbildenden UN- und OSZE-Missionen weltweit zurückblicken: in Haiti, Pakistan, Iran und im Irak, in Syrien, Afghanistan, Sierra Leone. Er hat Dutzende Konflikt-Schauplätze bereist und weiß aus eigener Erfahrung nicht nur, welche Traumata Kriege in den Gesellschaften hinterlassen, sondern auch, wie man bei den Konfliktparteien Ressentiments überwindet und nach Lösungen sucht.
Er hat gelernt, dass Friedensicherung nach den Prinzipien der UN-Charta das oberste Gebot jedes politischen Handelns sein sollte. Für ihn ist es keine Floskel aus einem langweiligen Vortrag zur Anwendung des Völkerrechts. Das ist mit Blut und Leiden erkaufte Wahrheit, deren Zeuge er war. Im Jahre 2017 fasste er seine Erfahrungen im Buch “Frieden schaffen: Die Rettung des Nationalstaats und die Rettung der Vereinten Nationen” (auf English erschienen) zusammen.
Nun ist der pensionierte UN-Diplomat Mitglied des EU-Parlaments. Gewählt wurde der 76-Jährige nach einer BSW-Liste. Dabei ist er kein Mitglied der Partei. Ins Parlament kam er mit einem klaren Ziel: die Friedensagenda zur Sprache zu bringen – eben das, was ihm zufolge dort völlig fehlt. Über seine Erfahrung, die er seit Beginn der Legislaturperiode in diesem Gremium gesammelt hat, berichtete der Politiker in einem Impulsvortrag und bei einer abschließenden Diskussion bei der Eurasien Gesellschaft in Berlin.
Die Veranstaltung lief unter dem Titel “Sieben Gründe, warum 2025 kein gutes Jahr für die EU sein könnte”. In seinem Vortrag, der in freier Rede gehalten wurde, brachte der Referent immer wieder sein Staunen zum Ausdruck, wie unterirdisch die politische Kultur in der EU derzeit ist. Es ist keine Übertreibung, wenn man “unterirdisch” sagt. Von der Schulenburg selbst beschrieb die Mehrparteienmehrheit im EU-Parlament in einem NDS-Artikel als ein Haufen hasserfüllter, kriegslüsterner Betonköpfe. Es sei für ihn schmerzhaft, die täglichen Reden dieser Leute anzuhören:
“Ich frage mich dann: Was für ein Monster haben wir mit der EU erschaffen?”
Zwei-Drittel der Resolutionen des Parlaments beträfen andere Länder und Regionen, sagte von der Schulenburg vor dem Publikum. In der Regel handele es sich um anmaßende Stellungnahmen und Sanktionsdrohungen. So eine Hass-Sprache habe er in keiner Konflikt-Region der Welt erlebt, beklagte der Politiker, der während seiner einminütigen Rede-Beiträge von anderen Abgeordneten jedes Mal mit Zwischenrufen gestört und als Putin-Marionette beschimpft wurde. “Die Zivilisation der Europäer ist am Boden”, stellte er fest.
Das Absurde dabei sei, dass bei dem ausgesprochenen Transatlantismus der tonangebenden EU-Anführer Ursula von der Leyen, Manfred Weber oder Marie-Agnes Strack-Zimmermann (alles Deutsche übrigens) Brüssel nach Trumps Amtsantritt ein “Vasall ohne Herr” bleibe. Transatlantisch und großmannsüchtig. Die EU sei wie besessen von Großmachtträumen und möchte den Krieg in der Ukraine für ihre Erweiterung nutzen, wie etwa Preußen im deutsch-französischen Krieg 1870/71 bei der deutschen Reichsgründung. Vom Friedensprojekt der EU sei nichts übrig geblieben, beklagte der Redner.
Eine Erklärung für das aggressive Verhalten liegt ihm zufolge in der Angst der Eliten vor einem eigenen Machtverlust. Sie wollten nicht wahrhaben, dass die Welt sich geändert habe, dass bis zu 90 Prozent der Weltbevölkerung eine andere Meinung zu Konflikten der Gegenwart habe, sei es im Gaza-Streifen oder um die Ukraine. In diesem Zustand der Realitätsverweigerung führe sich die Chefin der EU-Kommission Ursula von der Leyen wie eine Königin auf. Dabei könne die EU niemals ein einheitlicher Staat werden, so von der Schulenburg. Viel eher werde die EU in absehbarer Zukunft zerfallen.
Diese Zukunftsvision betrübt den Politiker allerdings keineswegs. Die Zukunft Europas sieht er in der Anlehnung an die BRICS-Staaten. Im Unterschied zu den westlichen Bündnissen pflege die BRICS eine ganz andere politische Philosophie und setze nicht auf militärische Gewalt und eine “regelbasierte Weltordnung” (“wobei keiner so richtig weiß, was sie bedeutet”), sondern auf die UN-Charta, die auf dem Nichteinmischungs-Prinzip und friedlichen Lösungsansätzen basiert.
Der Referent zeigte eine Weltkarte mit den meisten internationalen Konflikt-Herden seit 1992. Der Großteil von ihnen liege in der Reichweite Europas – Im Osten und Süden davon – und schneide es von Afrika und Asien ab. “Dabei brauchen wir Asien, allesamt Länder, die östlich von uns liegen: Russland, China, Indien”. Wenn europäische Länder ihr Dominanz-Denken, das sich sogar in der helfenden Tätigkeit in den ärmeren Ländern ausdrückt, aufgeben, bestehe auch für eine Chance auf einen Neuanfang in der multipolaren Welt. “Europas Schicksal wird sich in Asien entscheiden”, sagte er, denn diese Länder hätten auch ein Interesse an Frieden und Stabilität auf dem eurasischen Kontinent. “Außerdem lebt dort auch ein Großteil der Weltbevölkerung”.
“Das ist unser Krieg”
Zum Schluss der Fragerunde mit dem Publikum zeigte der Politexperte, wie die Anwendung der UN-Charta und auch der Charta von Paris des Jahres 1990 helfen, den Blick auf das Vorgehen Russlands im Ukraine-Konflikt komplett zu verändern. Er räumte ein, dass auch Russland mit dem Einmarsch in der Ukraine die UN-Charta verletzt habe, aber
“wenn die UN-Charta von allen Akteuren eingehalten worden wäre, wäre es zu diesem Krieg nicht gekommen”.
Die westlichen Staaten und Bündnisse hätten die UN-Charta viel öfter und konsequenter verletzt, angefangen mit der Kündigung von Abrüstungsverträgen über die Bombardierung Jugoslawiens bis zur Finanzierung des Staatsstreichs bei der Maidan-Revolte und der Duldung der Gewalt Kiews gegen die Donbass-Bevölkerung. Und dann, als im Dezember 2021 – zweieinhalb Monate vor dem Einmarsch – Russland gegenüber der NATO und den USA seine Sicherheitsbedenken äußerte,
“hätte man verhandeln müssen, allein wegen der Charta von Paris, die dazu verpflichtet, die Sicherheit des anderen zu respektieren. Aber das hat man nicht getan”.
Der Referent äußerte auch die Ansicht, dass der Krieg in der Ukraine, der laut dem Moderator Alexander Neu “dank Boris Johnson nun ganz offiziell als Stellvertreterkrieg der NATO gegen Russland bezeichnet werden darf”, für Russland existenziellen Charakter habe. Es gehe um den Zugang zum Schwarzen Meer und den Schutz der prorussischen Bevölkerung, das Gerede in der EU vom “imperialistischen Krieg Putins” sei Unfug, “das sagt nicht mal Trump, der die Schuld am Beginn des Krieges bei Biden und nicht bei Putin sieht”. Der Experte schlussfolgerte:
“Geschichtlich gesehen ist es unser Krieg und nicht Putins Krieg. Da bin ich mir ziemlich sicher.”
Hinweis: Der Video-Mitschnitt des Vortrags von Michael von der Schulenburg wird demnächst auf den Youtube-Kanälen der NachDenkSeiten und der Eurasien Gesellschaft erscheinen.
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