Von Juri Mawaschew
Die Mehrheit der türkischen Bürger (29 Prozent) unter der erwerbstätigen Bevölkerung im Alter von 18 bis 29 Jahren würde für die wichtigste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), stimmen, wenn morgen Parlamentswahlen stattfinden würden. Dies geht aus einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ank-Ar hervor. Diese Zahlen sehen wie ein Urteil aus – wenn nicht über Präsident Recep Tayyip Erdogan, so doch über seine regierende konservativ-nationalistische Koalition, die Volksallianz.
Denselben Daten zufolge sind 15,9 Prozent der Wähler in der genannten Altersgruppe bereit, für die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu stimmen. Die nationalistische Partei des Sieges liegt mit 12,8 Prozent auf dem dritten Platz. Gleichzeitig waren 14,5 Prozent der jungen Menschen unentschlossen, was ihre Partei angeht, oder gaben an, dass sie einfach nicht zur Wahl gehen würden. Die Umfrage wurde vom 4. bis 8. April durchgeführt.
Die Situation bei anderen Altersgruppen verheißt jedoch nichts Gutes für Erdogan und seine Koalition. Eine andere soziologische Umfrage von Anfang April, die ebenfalls von Ank-Ar durchgeführt wurde, deutet darauf hin, dass die Mehrheit der türkischen Bevölkerung die Opposition unterstützt. Der Unterschied zwischen der Opposition und der Regierung beträgt fünf Prozentpunkte – 26,2 Prozent gegenüber 20,9 Prozent. Die extrem prokurdische Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker (DEM) liegt mit 8,4 Prozent der Stimmen auf den ersten drei Plätzen.
Seit der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu durch türkische Sicherheitsbeamte am 19. März und dem Beginn der Massenproteste ist fast ein Monat vergangen. In dieser Zeit haben sich die Proteste zur Unterstützung eines, wenn auch populären, Politikers zu etwas Größerem entwickelt. Vor unseren Augen nimmt eine andere Türkei Gestalt an, und der politische Aktivismus der Gegner Erdogans hat längst eine Wertedimension angenommen. Wir haben es mit einem echten Bürgerkrieg zu tun, dessen Ausgang noch gar nicht absehbar ist.
Außerdem besteht der starke Eindruck, dass diese Konfrontation allmählich bestimmte regionale Konturen annimmt. So wird Imamoglu vor allem von den Küstenregionen der Republik unterstützt, Erdogan dagegen von den Regionen im Inneren Anatoliens. Diese Feststellung ist jedoch auch nicht ganz richtig, denn eine Reihe anatolischer Regionen unterstützt ebenfalls den inhaftierten Oppositionellen Imamoglu. Dafür unterstützen sieben Schwarzmeerregionen Erdogan. Und das schmerzlichste Bild für die Regierung zeichnet sich im äußersten Osten der Türkei ab, wo die ethnischen Kurden, die in den Nullerjahren die Regierungspartei unterstützten, nun zunehmend für die Opposition sind.
Übrigens waren es die Kurden, die sich bei den Kommunalwahlen 2024, die die Regierung kläglich verlor, lautstark zu Wort meldeten. Damals gingen sie auf die Straße, um gegen den Ausschluss der kurdischen Kandidaten aus dem Wahlkampf durch die Regierung zu protestieren. Das Ausmaß der Aktionen im vergangenen Jahr erschütterte Ankara so sehr, dass hinter den Kulissen viele Politiker und Experten die Aussichten des türkisch-irakischen Wirtschaftskorridorprojekts “Entwicklungspfad” infrage stellten. Schließlich sollte die Route vom südirakischen Hafen Al Faw nach Europa durch die von türkischen Kurden dicht besiedelte Osttürkei verlaufen.
Um das Ausmaß des “Kurdenproblems” zu verstehen, genügt es zu wissen, dass es allein in der Türkei zwischen 18 Millionen (nach offiziellen Angaben) und 30 Millionen Kurden gibt. Bei einer Gesamtbevölkerung des Landes von 85 Millionen Menschen ist das also durchaus ein beachtlicher Anteil. Die Angaben variieren deshalb so stark, weil sich viele Kurden, um Probleme zu vermeiden, als Türken eintragen, aber als Kurden leben, denken und vor allem auch wählen. Zudem haben wir noch nicht die Kurden berücksichtigt, die buchstäblich “jenseits des Flusses” leben – im Iran (10 bis 12 Millionen), im Irak (8 bis 8,5 Millionen) und in Syrien (2,5 bis 3,6 Millionen). Und sie alle träumen von einem eigenen, unabhängigen Staat.
Deshalb besteht auch heute noch kein Zweifel daran, dass die politische Zukunft der Türkei weitgehend von der Gunst der Kurden gegenüber dem einen oder anderen gegnerischen Lager bestimmt wird. Die Kurden sind der leidenschaftlichste Teil des Landes. Die Tatsache, dass der berüchtigte “Friedensprozess” mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Jahr 2015 von der Regierung unter dem Einfluss eben jener türkischen Nationalisten abgebrochen wurde, mit denen der Präsident auch heute noch verbündet ist, spielt in diesem Zusammenhang gegen Erdogan. Ohne die Nationalisten hat Erdogans AKP keine Mehrheit im Parlament, und Erdogan hat seit 2015 noch nie ohne ihre Unterstützung für das Präsidentenamt kandidiert.
Natürlich haben die Kurden dies immer im Hinterkopf. Sie erinnern sich auch daran, dass ihr charismatischer Politiker Selahattin Demirtas 2016 gerade deshalb inhaftiert wurde, weil konservative Wähler (und nicht nur die kurdischer Herkunft) bereit waren, gegen Erdogan zu stimmen, lange bevor Imamoglu auftauchte. Vor dem Hintergrund einer Reihe von Militäroperationen in Syrien, die auf die Unterdrückung der syrischen Kurden abzielen, ist es für die derzeitige Führung schwierig, im entscheidenden Kampf um die Macht mit der Gunst der türkischen Kurden zu rechnen.
In all dieser Zeit hat Erdogan den wichtigsten “Elefanten im Raum” nicht erkannt: Die Menschen gehen nicht nur aus Sympathie für Imamoglu und die Republikanische Volkspartei gegen ihn auf die Straße. Unter den Demonstranten finden sich nicht selten desillusionierte, ehemalige Anhänger der Regierung. Es handelt sich um dieselbe neue städtische Schicht, die vor der Hyperinflation alles “Papa Erdogan” zu verdanken hatte. Noch wichtiger ist, dass die Opposition in den Augen der Menschen mit einer echten Alternative zum verrotteten Establishment in Verbindung gebracht wird. Und dieser Eindruck des Volkes gegenüber der herrschenden Klasse wird durch die lauten Worte von US-Präsident Donald Trump gegenüber Erdogan nur noch verstärkt:
“Ich liebe und respektiere diesen Mann.”
In gewisser Weise erweist Trump Erdogan mit diesen Eingeständnissen einen Bärendienst. Schließlich ist die antiamerikanische Stimmung in der Türkei seit der US-Invasion im Irak im Jahr 2003 groß. Lob aus Washington ist in der türkischen Politik ein Einwegticket, es ist das schlimmste Manko und ein schwarzer Fleck auf der weißen Weste – insbesondere für die Konservativen, deren Unterstützung Erdogan einst schätzte.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst am 23. April 2025 auf der Website der Zeitung Wsgljad erschienen.
Juri Mawaschew ist ein russischer Orientalist. Er ist Direktor des Zentrums für das Studium der neuen Türkei.
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