Eine Analyse von Sergei Sawtschuk
Die russischsprachigen Erben der Sowjetunion wünschen sich Ende Dezember üblicherweise gegenseitig ein gutes neues Jahr und neues Glück. Der Autor weiß nicht genau, ob diese Tradition im Ausland bekannt ist, aber eine Gruppe russlandfeindlicher Länder hat sich bemüht, ein Glück zu schaffen, das in dem völligen Verzicht auf russische Energieressourcen bestanden hätte. Das mit dem Glück ist jedoch so eine Sache …
Die Energiewirtschaft kennt keine Feiertage. Auch in der Silvesternacht waren russische Energietechniker im Einsatz, um die Häuser warm zu halten und Millionen von Glühbirnen zwischen Petropawlowsk-Kamtschatski und Kaliningrad festlich blinken zu lassen. Ihre Vorgesetzten ruhten auch nicht: Sie bilanzierten das vergangene Jahr.
So äußerte sich am letzten Tag des Jahres der Chef von Gazprom zu den offiziellen Zahlen des Gasmonopolisten. Das Hauptaugenmerk der Gazprom-Führung habe, so Alexei Miller, der dramatischen Wende im Export gegolten. Es stellte sich heraus, dass auf Wunsch der chinesischen Seite die Erdgaslieferungen an den östlichen Nachbarn nicht nur vor dem Zeitplan, sondern auch über dem vertraglichen Limit lagen. Mit anderen Worten: Am Ende des Jahres war die Liefervereinbarung übertroffen.
Der europäische Markt in der Hand der USA
Beginnen wir mit dem Unangenehmen, nämlich dem Rückgang der Lieferungen in die EU-Länder und andere Länder des “kollektiven Westens”. Die Exporte dorthin gingen zum Jahresende um rekordverdächtige 46 Prozent zurück und beliefen sich per 31. Dezember 2022 auf 100,9 Milliarden Kubikmeter. Das Jahr 2021 hatte Gazprom noch mit der Exportleistung von 185 Milliarden Kubikmetern abgeschlossen, und 2020 mit 174,9 Milliarden Kubikmetern. Der größte Rückgang der Lieferungen betraf die EU-Staaten, die ihre Bezüge von russischem Erdgas im Durchschnitt um das Zweieinhalbfache reduziert haben.
Natürlich konnte ein solcher Ausfall nicht ohne Auswirkungen auf die Fördermengen bleiben. Es ist bekannt, dass sie im vergangenen Jahr um beeindruckende 20 Prozent zurückgingen und noch 412,6 Milliarden Kubikmeter betragen hatten. An dieser Stelle möchten wir indes ausdrücklich klarstellen, dass dies die Gesamtfinanzpläne nicht durcheinander gebracht hat, insbesondere im Bereich abgeführter Steuern. Der Economist veröffentlichte Zahlen, aus denen hervorgeht, dass Russland einen Haushaltsüberschuss von 220 Milliarden Dollar erzielt hat – doppelt so viel wie im Jahr zuvor. Dies geschah vor dem Hintergrund kritischer Schwankungen bei den Energiepreisen und einer gestiegenen Nachfrage, die alle Sanktionsbemühungen des Westens zunichte machte.
Objektiv betrachtet ist jedoch nicht alles wolkenlos und rosig. Wie der Volksmund sagt, bleibt ein heiliger Platz nie leer: Anbieter von Flüssiggas (LNG) aus den USA drängten kurzerhand in die russische Marktnische. Wenn sich die derzeitigen Trends fortsetzen, könnte der Anteil unseres Gases auf den europäischen Märkten bis 2023 um ein weiteres Viertel sinken, und der Anteil der USA wäre dann doppelt so hoch wie der Russlands. Es ist nicht so, dass dies eine Katastrophe wäre: Wir verlieren “nur” unseren historischen Markt, eine stabile Quelle von Devisenzuflüssen und ein gewichtiges Druckmittel in geopolitischen Fragen. Das heißt, Washingtons Operation, die Weltmärkte für Energieressourcen und Einfluss umzuverteilen, läuft im Moment ganz gut. Und es besteht kein Zweifel daran, dass die schlauen Jungs jenseits des Ozeans diesen Hebel in vollem Umfang nutzen werden.
Wir werden auf die Folgen der europäischen Entscheidung zurückkommen, aber lassen Sie uns jetzt gemeinsam mit den Energiemanagern nach Osten schauen.
Die Sonne geht im Osten auf
Russland hat zwei laufende Erdgaslieferverträge mit der VR China. Der erste betrifft die Pipeline “Power of Siberia” mit einer Kapazität von 38 Milliarden Kubikmetern jährlich, die voraussichtlich 2025 erreicht wird.
Im Februar 2022 wurde ein weiteres Abkommen über die Lieferung von Gas aus den fernöstlichen Feldern geschlossen. Demnach soll Gazprom an die chinesische CNPC 25 Jahre lang jährlich zehn Milliarden Kubikmeter Gas aus den Feldern Kirinskoje und Juschno-Kirinskoje auf dem Schelf von Sachalin exportieren. Die 1.800 km lange Gaspipeline Sachalin – Chabarowsk – Wladiwostok wurde eigens zu diesem Zweck gebaut. Sie führt in die chinesische Provinz Heilongjiang und dann weiter nach Jilin, Liaoning und Peking. Niemand machte einen besonderen Hehl daraus, dass das Gas aus dem Fernen Osten dem Energiebedarf der chinesischen Hauptstadt selbst und der Metropolregion, einem der größten und am dichtesten besiedelten Ballungsräume der Welt, dienen soll.
Ein paar bemerkenswerte Fakten, die unsere trockene Schilderung um eine gehörige Portion Verschwörungstheorie und einen Hauch von Kriminalerzählung bereichern:
Das Gaskondensatfeld Juschno-Kirinskoje hat nachgewiesene Reserven von 611 Milliarden Kubikmetern Gas und ist Gazproms wichtigste Reserve im Fernen Osten. Es ist so bedeutend, dass es nach seiner Entdeckung im Jahr 2010 sofort als wichtigste Rohstoffbasis für die Versorgung Europas angesehen wurde. Dafür war man bereit, bei Bedarf ein Verflüssigungsterminal zu bauen.
Von insgesamt 22 Bohrungen am Standort sind 14 Produktionsbohrungen, die sofort für die Förderung der begehrten Kohlenwasserstoffe nutzbar sind. Schon lange vor dem Beginn der Militäroperation in der Ukraine stand fest, dass die Ausbeutung des Feldes im Jahr 2023 beginnen soll. Nach allem, was inzwischen auf den Energiemärkten passiert ist, war dies entweder ein glücklicher Zufall, oder eine sehr kluge Planung.
Tatsache Nummer zwei ist, dass das Feld Juschno-Kirinskoje seit 2015 unter technischen Sanktionen der USA steht, die die Bereitstellung von High-Tech-Ausrüstung verbieten. Diese Sanktionen wurden nur wenige Monate nach dem Staatsstreich in der Ukraine verhängt, das Land mit Waffen vollgepumpt und mittels Anstachelung der Russophobie auf einen direkten militärischen Zusammenstoß mit Russland vorbereitet. Wenn man solche “Zufälle” entdeckt, beginnt man unwillkürlich, in die Tiefen des geopolitischen Schachspiels vorzustoßen. Dorthin, wo dieses Spiel auf Dutzenden von Ebenen mit einer Tiefe von Schritten auf Jahre hinaus gespielt wird. In diesem Fall sieht es ganz danach aus, als wollten die USA uns von Anfang an in einen langwierigen, erschöpfenden militärischen Konflikt stürzen und Reserveprojekte, die die europäischen Märkte ersetzen könnten, verhindern.
Doch kehren wir zum schnöden Zahlenwerk zurück: Die Exportverluste von Gazprom haben sich 2022 auf 85 Milliarden Kubikmetern ausgebliebener Verkäufe nach Europa summiert. Dem steht die Aussicht auf eine Erhöhung der Lieferungen nach China um 48 Milliarden gegenüber, wobei diese Zahl noch nicht erreicht ist.
Gazprom-Chef Miller betonte, dass die Ausfuhren jetzt schon über die vertraglichen Normen hinausgehen. Der russische Gasriese ist bereit, seine Präsenz auf dem größten Markt der Welt, Asien, auszubauen, wo allein China jährlich mehr als 160 Milliarden Kubikmeter Erdgas kauft.
Im neuen Jahr ist damit zu rechnen, dass das Projekt “Power of Siberia 2” mit einer Kapazität von 50 Milliarden Kubikmetern jährlich auf den Weg gebracht und auch der Gastransit durch die Mongolei wieder aufgenommen wird. Ende 2021 berichtete die mongolische Nachrichtenagentur Montsame, dass die Machbarkeitsstudie für das Pipelineprojekt “Union East” zu diesem Zeitpunkt zu 70 Prozent abgeschlossen war. Auch hier können wir davon ausgehen, dass die Entwickler der Projektdokumentation inzwischen weitere Fortschritte gemacht haben und wir im neuen Jahr substanzielle Verhandlungen sehen werden. Der physische Bau der Fernleitung kann dann bereits 2024 beginnen.
Addiert man die obigen Zahlen, so erhält man die benötigten einhundertfünfzig Milliarden Kubikmeter Gas, die früher nach Europa gingen, wo jetzt die Amerikaner das Sagen haben. Natürlich sieht alles nur auf dem Papier glatt aus, und in der Praxis sind der Bau und der Start von Projekten dieser Komplexität und Länge mit verschiedenen Schwierigkeiten verbunden sein. Doch auch das ist kalkulierbar: Russland verliert schlimmstenfalls Geld bis zur Eröffnung der Ostrouten, während Europa dauerhaft zu einer sekundären Region wird, aus der die Produktion bereits nach Asien und in die USA abfließt.
Das “Glück”, das sich die Europäer schmieden
So etwa führte Bloomberg eine Umfrage unter Briten durch und stellte fest, dass sechs von zehn Inselbewohnern in diesem Jahr ihre Ausgaben für Geschenke deutlich reduziert haben. Vor einem Jahr kündigte die Bank of England eine Inflationsrate von zwei Prozent an, doch das Königreich ging mit dem Fünffachen dieses Wertes ins Jahr 2023. Erst neulich hat die British Ceramics Manufacturers Association, die eine breite Palette von Waren herstellt, erklärt, dass sie aufgrund des zehnfachen Anstiegs der Energiepreise gezwungen ist, die Produktion zu verringern. Viele Betriebe haben bereits damit begonnen, Personal abzubauen und erwägen den Gang in die Insolvenz.
Das deutsche Handelsblatt berichtet, dass die Stromkosten für Haushalte im neuen Jahr um 115 Prozent steigen werden. Und die österreichische Verteidigungsministerin Claudia Tanner warnt, dass es in Europa “garantiert” zu massiven Stromausfällen kommen wird. Und das ist nur die Presseschau eines einzigen Tages.
Gleichzeitig erklärt der stellvertretende russische Ministerpräsident Alexander Nowak, dass Russland die Rohölexporte notfalls erhöhen könne. Das US-Finanzministerium veröffentlicht zeitgleich ein Kommuniqué, in dem es ausdrücklich heißt, dass das im Ausland raffinierte russische Rohöl nicht unter die Sanktionen und die sogenannte Preisobergrenze fällt.
Es ist ein großes Spiel im Gange, bei dem sich die meisten Ereignisse gar nicht an der Front, sondern hinter den Kulissen der Weltpolitik abspielen. Die Ergebnisse werden sich in ein paar Jahren zeigen und das neue Gesicht der Welt bestimmen. Wie es aussehen wird, bestimmen Russland, die Vereinigten Staaten und China. Europa steht indes nicht mehr auf der Liste der Akteure.
Sergei Sawtschuk ist Kolumnist bei mehreren russischen Tageszeitungen. Dieser Artikel ist auf Russisch bei ria.ru erschienen.
Mehr zum Thema – Pipeline-Terror: Das 9/11 der wilden Zwanziger Jahre