Von Dagmar Henn
Praktisch, dass die meisten Leser, denen in den Mainstream-Medien gerade eine “Studie zu Kommunalparlamenten” präsentiert wird, die vermeintlich überprüfen soll, ob die “Brandmauer” zur AfD noch steht, von Kommunalpolitik ebenso wenig Ahnung haben wie davon, welche Daten statistisch tatsächlich aussagekräftig sind. Nur deshalb kann die Tagesschau beispielsweise jubeln:
“Anträgen der AfD wird in deutschen Kommunalparlamenten in rund 81 Prozent der Fälle nicht zugestimmt.” Und dann beklagen, in den “ostdeutschen Landkreisen zeigt die Brandmauer dagegen mehr Risse”, weil dort bei 26,9 Prozent der AfD-Anträge andere Parteien zugestimmt hätten.
Fangen wir einmal damit an, was an dieser Studie mangelhaft ist. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass bei Anträgen aus der Opposition, dort, wo die Kommunalpolitik entsprechend parteipolitisch organisiert ist, in der Regel selten eine andere Partei zustimmt, außer es gäbe ein mehr oder weniger fest etabliertes Bündnis. Die erste Schwäche liegt schon einmal darin, dass einfach nur die Anträge der AfD betrachtet und der Umgang mit ihnen im Sinne der “Brandmauer” interpretiert wird.
Insgesamt wurden für die Studie die Protokolle von 10.053 Sitzungen in Kreistagen und Stadträten im Zeitraum von 2019 bis 2025 ausgewertet. Die Protokolle von Gemeinderäten wurden nicht ausgewertet, weil sie meist nicht digital zugänglich sind und außerdem nur das Gesamtergebnis von Abstimmungen erfassen. In diesem Zeitraum wurden von Vertretern der AfD insgesamt 4.968 Anträge gestellt.
Nun wäre der erste erforderliche Schritt, um überhaupt eine “Brandmauer”-Hypothese überprüfen zu können, gewesen, insgesamt auszuwerten, wie jeweils mit Anträgen aus den “Regierungsfraktionen” und den übrigen verfahren wird. Also einen allgemeingültigen Wert zu finden, der für Anträge von Mehrheits- und für jene von Minderheitsvertretern gilt. Nur, wenn dieses Ergebnis von jenem für die Vertreter der AfD abweicht, gäbe es überhaupt eine Grundlage, sich mit der Umsetzung einer “Brandmauer” genauer zu befassen.
Übrigens kenne ich dieses Spiel von zwei Seiten. Als ich in den Münchner Stadtrat kam, gab es ein ähnliches Verhalten auch gegenüber der Linken. Auf der anderen Seite gab es damals im Münchner Stadtrat auch einen Vertreter einer NPD-Liste ‒ der allerdings beschränkte sich auf plakative Anträge, was bedeutet, es gab keinerlei Risiko, dass sie Zustimmung finden.
Das Problem: Selbst in Kommunen, die einen finanziellen Spielraum besitzen (und München hatte ihn damals), sind die meisten zu behandelnden Vorlagen Vorgänge, die ihren Ursprung in der Verwaltung haben. Wenn Schulen renoviert werden müssen, beispielsweise. Oder die Verwaltung eine neue Software braucht. Es gibt nun einmal Vorschriften, ab welcher Summe Ausgaben nicht mehr von der Verwaltung beschlossen werden können, sondern dem Stadtrat vorgelegt werden müssen. Aber in sehr vielen Fällen ist daran nichts, worüber noch viel zu entscheiden wäre (auch wenn es sich sehr eigenartig anfühlt, wenn man das erste Mal binnen Minuten über 40 Millionen für eine Schulsanierung abstimmt). Das ergäbe übrigens eine weitere Kennzahl: Wie hoch ist der Anteil der einstimmig getroffenen Entscheidungen?
Aber es gibt ja nicht einmal die Gesamtzahl der behandelten Anträge. Eine Liste, die gewissermaßen die Aktivität der verschiedenen Parteien auf diesem Gebiet wiedergibt, existiert nicht. Also besagt die Zahl von 4.968 Anträgen erst einmal nicht mehr, als dass im Schnitt in jeder zweiten betrachteten Sitzung ein Antrag der AfD vorlag. Nein, auch das besagt nicht wirklich viel. Denn wenn man die Sitzungen aller Kreistage und Stadträte auswertet, reicht das vom Landkreis Lüchow-Dannenberg mit 46.815 Einwohnern bis zur größten deutschen Stadt, München, mit 1,5 Millionen (Berlin und Hamburg sind Länder, keine Kommunen). Selbst bei den Landkreisen reicht die Spanne bis zur Region Hannover mit 1.138.943 Einwohnern.
Das ist ein ziemlicher Unterschied. Die ganze Bevölkerung von Lüchow-Dannenberg passt in den zweitgrößten Münchner Stadtbezirk, Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt, mit 50.081 Einwohnern. Ob man sich zufällig in der Wirtschaft begegnet oder schon miteinander zur Schule gegangen ist, ist sehr abhängig von diesen Zahlen, entscheidet aber darüber, ob das “Brandmauer”-Spiel einen privaten Preis fordert oder nicht.
Die Zahl der Anträge, die gestellt werden, gleich von welcher Partei, hängt sehr von der Größe der Gebietskörperschaft ab. Es wird in der Studie zwar angemerkt, dass es “in den kreisfreien Städten Leipzig, Magdeburg und Schwerin” deutlich mehr Anträge gewesen seien ‒ aber dass diese Zahl zu einem guten Teil etwas mit der Größe des Ortes zu tun hat, wird nicht erwähnt. Nun gut, die “Kooperationen” werden prozentual gemessen…
Es ist auch schwierig, “Kooperation” zu bewerten, wenn nicht klar ist, worum es bei den Anträgen überhaupt geht. Nehmen wir einmal ein unschuldiges kommunalpolitisches Lieblingsthema: Schultoiletten. Das gibt meist Aufmerksamkeit der Lokalpresse und Sympathien. Wer aber den entsprechenden Antrag stellt, der fordert, die Toiletten in Schule x wieder benutzbar zu machen, hängt meist einzig davon ab, wer zufällig Eltern kennt, deren Kinder in besagte Schule gehen, die sich darüber beschweren. Klar, in Großstädten kann man auch damit Spielchen treiben, beispielsweise den gleichen Antrag hinterherschicken, in etwas anderer Formulierung, aber ist das wirklich sinnvolles politisches Handeln? Nein, das ist eher nur dummer Zirkus, was natürlich jeder Kommunalpolitiker weiß, weshalb man derartige Verhaltensweisen sparsam einsetzt.
Nun schauen wir einmal auf das, was die Studie vermeintlich wissen will: wieweit in den Kommunalvertretungen mit der AfD kooperiert wird. Es geht um die Zahl der Zustimmungen zu AfD-Anträgen aus anderen Parteien. Dabei stimmten insgesamt in 990 Fällen Vertreter anderer Parteien einem Antrag der AfD zu. In 304 Fällen waren das mehr als zehn Prozent der Nicht-AfD-Vertreter, woraus die Studie eine “starke Kooperation” macht. Spitzenreiter ist dabei Sachsen-Anhalt mit 57 Fällen einer “starken Kooperation”.
Das Problem: Auch die Größe von Kreistagen unterscheidet sich deutlich. Die Kreistage in Sachsen sind deutlich größer als die in Sachsen-Anhalt. Der Salzlandkreis in Sachsen-Anhalt hat für 189.125 Einwohner 54 Kreisräte, der Landkreis Nordsachsen für 197.741 Einwohner aber 80 Kreisräte. Im ersten Fall beträgt die Zahl der Nicht-AfD-Kreisräte 45, im zweiten 64 Kreisräte. Im Salzlandkreis hat die AfD 16, in Nordsachsen 20 Prozent der Kreisräte. In Nordsachsen außerdem elf, im Salzlandkreis sieben Vertreter der Freien Wähler, die von der “Brandmauer” ohnehin nichts haben.
Aus rein mathematischen Gründen ist das in Kreisen mit einem kleineren Anteil an AfD-Vertretern schwerer ‒ im Rhein-Sieg-Kreis sind es vier AfD-Vertreter auf 86 Kreisräte, es gibt also 82 Nicht-AfD-Vertreter. Die Schwelle für die besagten zehn Prozent liegt damit bei acht, die Zahl der relativ ungebundenen “Sonstigen” liegt aber nur bei sechs, von denen einer von der Piratenpartei und drei von der Linken sind, und so etwas wie die Freien Wähler ist gar nicht vertreten. Die Schwelle hat, mit oder ohne “Brandmauer”, eine ganz andere Qualität. Was besagt also die besonders ausgewiesene “starke Kooperation” wirklich?
Im Grunde müsste man auch noch historische Zahlen heranziehen. Schließlich gab es weitere Fälle von “Brandmauern”, lange vor der AfD. Es war in der Bundesrepublik beispielsweise einmal verpönt, Anträgen der Grünen zuzustimmen, dann Anträgen der Linken… ist das wirklich politisch motiviert oder ist das einfaches Konkurrenzverhalten, in dem der Neuling erst einmal weggebissen wird? Auch das ließe sich nur feststellen, wenn es eine bedeutende Abweichung zwischen den Ergebnissen im Zusammenhang mit der AfD und denen anderer “Kandidaten” für eine derartige Stellung gäbe.
Nein, das wird alles nicht betrachtet. Stattdessen wird die Bedeutung des unterstellten Verhaltens aufgeblasen:
“Würde man die kommunale Ebene bei der Politik zur Stabilisierung der Demokratie nicht berücksichtigen, bedeutete dies, dass von den rund 205.000 gewählten deutschen Parlamentariern rund 200.000 keine besondere politische Verantwortung tragen müssen, um die Demokratie zu stabilisieren.”
Die “Brandmauer” stabilisiert die Demokratie? Da müssen aber die Kommunalpolitiker gegen ziemlich viele Schultoiletten stimmen, um das wieder auszugleichen, was so ein Bundestagscoup wie der mit der Billionenschuld an Demokratie destabilisiert hat. Abgesehen von der doch recht kühnen Hypothese, die als historische Begründung herangezogen wird: dass die Kooperation der demokratischen Parteien auf kommunaler Ebene die Macht der Nazis in Deutschland vorbereitet habe. Was zum einen die Tatsache übergeht, dass die gesamte Zeit der Weimarer Republik im Grunde ein eingefrorener Bürgerkrieg war, und zum anderen, dass die letztlich entscheidenden Faktoren die Position der deutschen Industrie und die Bereitschaft der besagten demokratischen Parteien war, die Nazis zu hofieren, weil sie die Kommunisten fürchteten. Sie haben schließlich, mit Ausnahme der SPD, dem Ermächtigungsgesetz samt und sonders zugestimmt, als die Folterkeller schon längst eingerichtet waren. Man könnte das kurz so zusammenfassen ‒ auch da wurde eine Brandmauer gezogen, dummerweise nur nicht da, wo es gebrannt hat.
Interessant ist jedoch, wer diese Studie erstellt hat, die so begeistert in der Presse aufgenommen wurde. Es ist das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), ein außeruniversitäres Institut ‒ mit einer beeindruckenden Zahl von 350 Mitarbeitern.
“Gegründet wurde das WZB 1969 auf Initiative von Bundestagsabgeordneten der CDU/CSU und der SPD. Zuwendungsgeber sind der Bund (75 Prozent) und das Land Berlin (25 Prozent).”
So ganz unabhängig würde ich das nicht nennen. Insbesondere nicht bei einem Thema, das aktuell ständig im politischen Alltag instrumentalisiert wird ‒ eine grundsätzliche Kritik am Konzept der “Brandmauer” oder ein realistischerer Ansatz mit entsprechendem Ergebnis wäre sicher weniger medienwirksam. Die Autoren? Wolfgang Schroeder war fünf Jahre lang Staatssekretär im Arbeitsministerium Brandenburg ‒ ein Sozialdemokrat, der als Referent beim Vorstand der IG Metall angefangen hat. Daniel Ziblatt ist ein US-Politikwissenschaftler. Der Dritte (und bei weitem jüngste), Florian Bochert, ist mit einem Studium in Harvard und einem Master an der (privaten) Hertie School sicher kein Kind armer Eltern, aber sowieso nur die studentische Hilfskraft der beiden Professoren. Nein, in dieser Umgebung ist nichts zu erwarten, an dem man sich irgendwie stoßen könnte.
Erst recht, wenn man dann die Überschriften betrachtet, mit denen man auf dieser Grundlage bedacht wird. “Die Brandmauer ist löchrig”, heißt es quer durch die Presselandschaft, von ntv über Focus zu Stern und den diversesten Lokalzeitungen. Nirgends wird auch nur überprüft, wie tragfähig die Daten dieser Studie sind ‒ relevant ist nur das Schlagwort. Brandmauer. So, wie daneben die eigentlich relevanten Fragen verschwinden, hat man fast das Gefühl, da könnte vom ganzen Land schon nichts mehr übrig sein, da steht sie noch einsam in der Landschaft, als vergessenes Heiligtum: die Brandmauer.
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