Von Platon Gontscharow
In letzter Zeit häufen sich die Dokumentationen im öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramm über den sogenannten Operationsplan Deutschland (siehe beispielsweise hier, hier und hier). Es wäre naiv zu glauben, dies diene nur der sachlichen Information des Bürgers über diese Angelegenheit und nicht auch (oder sogar hauptsächlich) dazu, sich an den Gedanken zu gewöhnen, Deutschland als Aufmarschgebiet der NATO zu betrachten.
Der Operationsplan Deutschland ist ein geheimes Dokument der Bundeswehr, das in seiner ersten Fassung angeblich 1.000 Seiten umfassen soll und an dem den Angaben der Bundeswehr zufolge kontinuierlich weitergearbeitet wird. Laut der Bundeswehr geht es um Heimatschutz, den Schutz verteidigungswichtiger Infrastruktur und die nationale territoriale Verteidigung in den Dimensionen Land, See, Luft, Weltraum sowie Cyber- und Informationsraum.
Eine besonders große Bedeutung hat – auch in der öffentlichen Debatte – die “Drehscheibe Deutschland“, also die Rolle der BRD als Truppenaufmarschgebiet der NATO, bevor es Richtung Osten zur Verteidigung der NATO-Ostflanke geht (“Verteidigung” aus der Sicht der NATO). Im Rahmen des Host Nation Support kommt Deutschland schon aufgrund seiner geostrategischen Lage die Aufgabe zu, die anlandenden NATO-Truppen während ihres Aufmarschs zu versorgen und ihren Weitertransport an die Ostflanke zu gewährleisten.
Zur Vernetzung von Militär und zivilen Stellen (die im Ernstfall die Hauptlast des Aufmarsches tragen würden) hat die Bundeswehr insgesamt 16 Landeskommandos in den Bundesländern eingerichtet. Da der Operationsplan Deutschland geheim ist, erfährt man nur bröckchenweise Einzelheiten aus den Medien. Aber auch diese kleinen Informationssplitter lassen aufhorchen.
Eine der jüngsten Veröffentlichungen im deutschen Fernsehen ist ein BR24-Interview von Chefredakteur Christian Nitzsche mit dem “Vater” des Operationsplans Deutschland, Generalleutnant André Bodemann. Zu der gefährlichen Manipulation des Zuschauers in Richtung Kriegstüchtigkeit, die einen Krieg wieder denkbar erscheinen lässt, dem Aufbau eines russischen Bedrohungsszenarios und dem Sympathiewerben der Bundeswehr um die Mitte der Gesellschaft (“General auf dem Sofa”) hat Marcus Klöckner von den NachDenkSeiten schon Erhellendes geschrieben.
Man könnte als besondere Skurrilität höchstens noch die Szene “General mit Herz und Kompass” hinzufügen (Minute 18:17), in der Bodemann eine sentimentale Geschichte aus seinem Afghanistaneinsatz erzählt und das Geschenk eines US-amerikanischen Kameraden hervorholt, einen Kompass mit einem eingravierten Spruch von regelrechter Poesiealbumsqualität. Natürlich wird auch die Friedensliebe der Bundeswehr hervorgehoben.
Aber in diesem Artikel soll es um etwas anderes gehen. Bereits Klöckner ist aufgefallen, wie sehr Bodemann betont, dass man sich formaljuristisch nicht im Kriege befinde (noch nicht, möchte man fast ergänzen), aber auch schon lange nicht mehr im Frieden. Klöckner deutet das als Mittel zum Aufbau eines Bedrohungsgefühls beim Bürger (und das ist es sicher auch). Es spielt aber noch etwas anderes bei diesen Formulierungen eine Rolle, nämlich ein juristischer Sachverhalt.
Es gibt genau zwei Stellen, an denen sich vermuten lässt, dass sich Bodemann verrät und seinem mutmaßlichen Ziel, dem Einlullen des Bürgers, nicht nachkommt: Zum einen ist es laut Bodemann für die Aktivierung der Aufmarschpläne nicht notwendig, dass bereits Kämpfe im Baltikum (oder anderswo an der NATO-Russland-Grenze) stattgefunden haben. Bodemann zufolge könnte der Aufmarsch als Drohkulisse gegen Russland schon dann eingesetzt werden, wenn Russland große, von der NATO als bedrohlich empfundene Manöver (Minute 1:34) an seiner Westgrenze durchführe (ein dreister Gedanke, wenn man bedenkt, dass die NATO fast ständig Manöver direkt vor der Nase der Russen durchführt!) oder wenn nachrichtendienstliche Indizien für einen russischen Aufmarsch sprächen – zum Beispiel die Verlagerung von Blutkonserven (Minute 2:31) in die russischen Grenzregionen (dass die Russen Blutkonserven auch aus Angst vor einem Überfall verlagern könnten, dieser Gedenke kommt dem Generalleutnant der Bundeswehr anscheinend nicht).
Zum anderen macht Bodemann deutlich, dass dieser Aufmarsch stattfinden könne, während noch rein rechtlich Friedenszustand in der BRD herrscht – also ohne, dass durch den Deutschen Bundestag mit Zweidrittelmehrheit der Spannungsfall ausgerufen worden wäre (Minute 3:31), der die Notstandsgesetzgebung (mit erheblichen Einschränkungen für das Leben der Bürger) auslöst (die noch schärfere Stufe wäre dann der Verteidigungsfall). Bodemann ist also der Ansicht, der NATO-Aufmarsch gen Osten, der die Interessen der deutschen Bürger erheblich tangiert, bedürfe nicht der Zustimmung des Bundestages. Der Generalleutnant sagt es nicht direkt, aber Entscheidungsträger dürfte dann der Bundeskanzler sein, der einem entsprechenden NATO-Ersuchen stattgibt. Ähnlich wie bei der Entscheidung über die Taurus-Lieferungen, die letztendlich der Kanzler allein treffen kann.
Und das eben scheint Bodemanns Problem bei der Ausarbeitung des Operationsplanes gewesen zu sein (und deshalb dieses Herumreiten auf den – noch – nicht formaljuristisch herrschenden Kriegszustand): Wie setzt er die Interessen der NATO in der deutschen Gesellschaft vorrangig durch, solange der Spannungs- oder Verteidigungsfall noch nicht ausgerufen ist (denn dazu braucht es ja eine Zweidrittelmehrheit des Bundestags)? Erst dann würden ja die Notstandsgesetze greifen. Man möchte aber ja schon vorher an der Ostflanke der NATO aufmarschieren. Natürlich nur zur “Abschreckung”, zur “Friedenssicherung”. Mit allen Einschränkungen, die dies für die Deutschen, die unfreiwilligen NATO-Gastgeber der Drehscheibe Deutschland, zur Folge hätte.
Offensichtlich ist es dem Team um Bodemann aber gelungen, dieses durchaus heikle Problem zufriedenstellend zu lösen. Denn Bodemann verkündet (Minute 15:56), dass während des großen Lokführerstreiks im Januar und März des vergangenen Jahres die nicht im Streik befindlichen Lokführer primär für die gleichzeitig stattfindende NATO-Übung eingesetzt worden seien, erst in zweiter Linie für den zivilen Bahnverkehr.
Dies ist nur ein (noch recht harmloses) Beispiel. Es lässt sich nur vermuten, dass noch weitere Einschränkungen für das zivile Leben im geheimen Operationsplan Deutschland vorgesehen sind – und das alles anscheinend, ohne dass eine Zustimmung des Bundestages für das Eintreten des Operationsplanes vorgesehen ist. Man könnte fast schon von einem potenziellen Putsch von Militär und Kanzler gegen die Rechte des deutschen Volkes sprechen. Wenn die oben genannte Befürchtung korrekt ist, könnten die Bürger noch so sehr die NATO-kritischeren BSW oder AfD ins Parlament wählen – solange der Kanzler Friedrich Merz heißt und seine Kanzlermehrheit besitzt, könnten er (oder sein Verteidigungsminister) den Operationsplan Deutschland auslösen. Eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages würde ja nicht benötigt.
Womöglich rekurrieren Bodemann und sein Team auf Artikel 80a (3) GG? Ein Artikel wie auf die NATO und ihre Ansprüche an Deutschland zugeschnitten. Eigentlich ist er für den Bündnisfall (also wenn ein NATO-Staat angegriffen wurde) gedacht, aber wer weiß? Vielleicht will man ihn auch zu einem Abschreckungsaufmarsch nutzen? Der Bundestag könnte zwar diese Maßnahmen wieder aufheben, die Drehscheibe Deutschland wäre dann allerdings schon angelaufen – mit allen Folgen, die das mit sich brächte. Aber all das sind Spekulationen, solange der Operationsplan Deutschland nicht offengelegt ist. Womöglich setzt man bei der Bundeswehr auch einfach auf die normative Kraft des Faktischen. Wer wird sich denn noch beschweren können, wenn die entsprechenden Fakten erst einmal geschaffen sind? Sicher ist nur eines: Nach eigener Aussage glaubt Generalleutnant Bodemann, den Bundestag für die Verwirklichung seines Plans nicht zu benötigen.
Wie wenig im Falle des Eintretens des militärischen Ernstfalls ein Zivilistenleben noch wert wäre, hat uns kürzlich dankenswerterweise der neue Kommandeur des Landeskommandos Baden-Württemberg, Kapitän zur See Michael Giss, klargemacht. Da die Bundeswehrkrankenhäuser für die verletzten Soldaten nicht ausreichen würden, müssten sich auch die Patienten der zivilen Krankenhäuser auf eine priorisierte Behandlung des Militärs einstellen. Konkret heißt es in dem Interview mit Giss (und ich zitiere es, weil es man fast gar nicht glauben mag):
“Und da muss man sich darauf einstellen, dass der schwer verwundete Soldat zuerst behandelt wird, der Blinddarm-Patient später. Auf diese Aspekte muss man die Bevölkerung so vorbereiten, dass sie es versteht.”
Wie viel Gehirnwäsche wird nötig sein, damit die Bevölkerung akzeptiert, dass es bei der Behandlung im Krankenhaus nicht mehr nach Schwere des gesundheitlichen Notfalls gehen wird, sondern nach militärischem Status? Ist so viel Gehirnwäsche überhaupt möglich, dass ein Elternpaar klaglos die Zurückstufung seines Kindes mit Blinddarmdurchbruch zugunsten eines verwundeten NATO-Soldaten hinnehmen wird? Giss glaubt offenbar daran, dass dies möglich ist. Vielleicht hat er Recht. Im Zweifelsfall dürfte vermutlich das (bisher noch fiktive) Elternpaar gar nicht erst erfahren, warum sein schwer krankes Kind so lange auf die Operation warten muss.
Beim Eintreten des Operationsplanes Deutschland müssten während des Aufmarsches gen Osten 800.000 NATO-Soldaten innerhalb von zwei Monaten durch die Drehscheibe Deutschland geschleust werden, so der auskunftsfreudige Giss. Deutschlands Straßen wären dann dicht, als Zivilist dürfe man dann nicht mehr mit dem privaten Auto die Autobahn benutzen. Und der Militärexperte Frank Kuhn vom Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt geht in der Hessenschau-Sendung zur “Zeitenwende” sogar davon aus, dass bei der Bahn sowohl der Personenverkehr als auch der zivile Güterverkehr zugunsten des Militärs zum Erliegen kämen (Minute 13:20).
Man mag sich kaum ausmalen, was das für die Versorgung der Bevölkerung mit allen notwendigen Lebensmitteln heißen würde. Der fürsorgliche Giss rät der Bevölkerung schon mal zum Preppen. Denn was ist, wenn die Bäckereien eines Landkreises plötzlich Tausende Soldaten der US-Army zusätzlich versorgen müssen (Minute 12:00)? Und die Straßen dicht sind? Auch in anderer Hinsicht würden wichtige Ressourcen zur Versorgung der durchziehenden NATO-Truppen abgezogen: So wären zum Beispiel die Blaulichtorganisationen (also beispielsweise das Deutsche Rote Kreuz) für die medizinische Betreuung des Militärs verantwortlich (und eben nicht der Sanitätsdienst der Bundeswehr, der zu diesem Zeitpunkt schon im Osten an der russischen Grenze stünde), so Bodemann in einem früheren Interview (Minute 1:56). Es ist logisch, dass diese Organisationen währenddessen der deutschen Bevölkerung nicht zur Verfügung stehen – oder nur in eingeschränktem Maße.
Bisher sind dies alles nur Befürchtungen und Vermutungen. Der Operationsplan Deutschland ist ja geheim. Man erfährt nur, dass Wirtschaft, Landratsämter, Kommunen und Blaulichtorganisationen auf den Tag X vorbereitet werden. Man geht also davon aus, diesen Plan eines vielleicht gar nicht so fernen Tages auch umzusetzen zu müssen. Deshalb ist es dringend notwendig, dass der Operationsplan Deutschland so weit wie irgend möglich offengelegt wird!
Gerade die Friedensbewegung sollte dringend auf eine Offenlegung pochen. Und Parteien, die sich als authentische Oppositionsparteien betrachten, sollten dieses Thema in den Debatten und in Anfragen immer wieder ansprechen. Parlament und Bevölkerung haben ein Recht darauf, zu erfahren, inwieweit ihre Rechte tangiert sind, wie sehr im Zweifelsfall in die Bürgerrechte eingegriffen wird und auf welchen rechtlichen Grundlagen diese Eingriffe genau beruhen.
Die Bürger sollten sich keinesfalls mit beruhigenden Erklärungen der für diesen Plan Verantwortlichen abspeisen lassen. Bodemann versichert zwar, in Deutschland würde dank der Planungen im Ernstfall ebenso wie jetzt in der kriegsgeplagten Ukraine das Leben weitergehen (ab Minute 17:30), mit Schule und geöffneten Geschäften, der Möglichkeit, ins Restaurant zu gehen oder mal einen Kaffee zu trinken – dass man sich darauf allerdings nicht unbedingt verlassen sollte, zeigen die Äußerungen von Landeskommandochef Giss.
Vor fast 60 Jahren kämpfte die Außerparlamentarische Opposition gegen die Einführung der Notstandsgesetze, weil sie sie als Gefahr für Demokratie und Grundrechte betrachtete. Es scheint, wir könnten heutzutage fast noch dankbar sein, wenn der Notstand im Ernstfall überhaupt ausgerufen würde. Denn dann wären die Einschränkungen der Bürgerrechte wenigstens rechtlich geregelt. Noch gefährlicher wäre für den Bürger eine rechtliche Grauzone, in der noch kein Krieg ist, die NATO aber bereits über das Land herrscht. Es ist höchste Eisenbahn. Ist die NATO erst Herrscher über unser Land, ist es zu spät.
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