Eine Analyse von Wassili Stojakin
Was wird mit der Ukraine geschehen, wenn Wladimir Selenskij etwas zustößt? Diese Frage wird plötzlich von Politico Europe aufgeworfen. Der Unterüberschrift enthält eine vielversprechende Schlussfolgerung: Es würde “die ukrainischen Streitkräfte eines ihrer wertvollsten Aktivposten berauben.”
Dort heißt es weiter:
“Selenskijs Status als Symbol dessen, was der Westen als gerechten Kampf ansieht, seine Fähigkeit, seine Verbündeten so lange anzubetteln und zu beschimpfen, bis er seinen Willen bekommt, seine Bereitschaft, sich schamlos zu den angesagtesten politischen Fototerminen und zu Reden in Parlamenten zu begeben – mit all dem hat er sich die sprichwörtliche Zielscheibe auf die Stirn gemalt.”
Das soll wohl eine Andeutung irgendeiner Aktion seitens Russlands sein. Und verständlicherweise eine rührselige Beschwörung der gemeuchelten Katze der Skripals.
Weiter in diesem Text werden dann Experten zitiert, allen voran Adrian Karatnycky, ein leitender Forscher am Eurasischen Zentrum des Atlantic Council (in der Ukraine wird allgemein angenommen, dass er ein freier Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes ist). Seiner Meinung nach werde im Falle von Selenskijs Tod alles recht einfach sein: Ruslan Stefantschuk, der Vorsitzende der Rada, werde die Führung übernehmen. In der Praxis jedoch werde das Land dann vom Leiter des Präsidentenbüros, Andrei Jermak, Außenminister Dmitri Kuleba, Verteidigungsminister Alexei Resnikow und Oberbefehlshaber Waleri Saluschny geführt werden.
Der Autor verweist auch auf einen Artikel, der “von den Wissenschaftlern Benjamin Jones und Benjamin Olken für das US-amerikanische National Bureau of Economic Research (NBER) über die Auswirkungen von 59 Attentaten auf Staatsoberhäupter zwischen 1875 und 2004 auf Institutionen und Krieg geschrieben wurde.” Daraus sei zu entnehmen:
“Morde an Autokraten führen zu bedeutenden Veränderungen in den Institutionen eines Landes, Morde an Demokraten hingegen nicht.”
Ein ziemlich unverblümter Hinweis darauf, dass der Westen mit der Ukraine auch ohne Selenskij zurechtkommen würde…
Medien der US-Regierung: Kommen auch ohne Selenskij zurecht – vielleicht sogar besser als mit ihm
Risiken, die ein urplötzliches Ableben Selenskijs birgt, betreffen in der Tat weniger die Ukraine selbst als vielmehr die öffentliche Meinung im Westen, die dazu neigt, Selenskij als einen “Präsidenten des Weltfriedens” zu sehen. Im Allgemeinen kann man den Schlussfolgerungen von Politico zustimmen. Die Ukraine ist tatsächlich eine “Demokratie” in dicken Anführungszeichen – in dem Sinne, dass sie nicht von den Menschen regiert wird, die angeblich gewählt wurden, um sie zu regieren. In einer Demokratie ist ein Machtwechsel nicht gleichbedeutend mit einem Politikwechsel. Was wir in der jüngsten Geschichte der Ukraine wiederholt erlebt haben, als sich “pro-russische” Kandidaten als nicht weniger stramm nationalistisch erwiesen im Vergleich zu den offen russophoben Kandidaten.
Übrigens sind auch die von Karatnycky genannten Personen natürlich nicht die letzten Entscheidungsträger. Diese Leute sind nie über Selenskijs Studio “Kwartal 95” hinausgewachsen. Und der viel beschworene Resnikow wirkt, verglichen mit Selenskij, in noch weitaus größerem Maße wie ein echter Clown als Selenskij selbst.
Die Ukraine wird heute von einer informellen Verwaltung regiert – zusammengesetzt aus einer Reihe von Botschaftern, Vertretern ausländischer Geheimdienste und westlicher Unternehmen (wobei die USA, das Vereinigte Königreich und Polen die führende Rolle spielen), sowie aus verschiedenen ukrainischen wirtschaftlich-politischen Gruppen. Dieses ganze System wird in einem dynamischen Gleichgewicht gehalten. Und man kann nicht einmal sagen, dass die Vertreter des Westens immer und in jeder Sache das letzte Wort haben – die ukrainischen Akteure haben ein großes Maß an Freiheit und alle Möglichkeiten, virtuos die Widersprüche ihrer Partner zu bespielen.
Selenskijs Funktion ist eher die eines Schiedsrichters zwischen diesen Gruppen – doch es gibt allen Grund zu der Annahme, dass er dabei sehr schlecht abschneidet. Seine Beseitigung hätte daher in der Tat nur geringe Auswirkungen auf den Regierungsprozess im Lande.
Gleichzeitig wird sie zu einer Veränderung der öffentlichen Meinung führen, sowohl in der Ukraine als auch im Westen, aber man sollte sich davon nicht allzu viel versprechen. Nicht Selenskij, sondern die antirussische Propaganda eint die Ukraine heute. Sein Tod hätte einen gewissen erzieherischen Effekt, den man aber nicht überschätzen sollte. Die meisten ukrainischen Politiker und Beamte sind ohnehin bereits daran gewöhnt, unter extremen Gefahren zu leben. Etwas ganz anderes wäre es, wenn seine Karriere vor einem Gericht (sei es ein ukrainisches, russisches oder internationales) enden würde.
Eine viel interessantere Frage ist, aus welch heiterem Himmel sich eine der führenden westlichen Publikationen auf einmal so sehr für die physische Existenz des ukrainischen Präsidenten interessiert. Die Bedrohung für ihn scheint momentan auf keinen Fall größer als zuvor. Zumindest nicht vonseiten Russlands. Eher noch im Gegenteil.
Man könnte annehmen, dass es nur um den Erfolg der ukrainischen Offensive und/oder der terroristischen Aktivitäten der Ukraine auf russischem Gebiet geht. So nach dem Motto “Sollte Russland anfangen, auf dem Schlachtfeld zu verlieren, dann…” Russland ist zwar meilenweit davon entfernt, aber das ist ja nicht einmal ein Thema – ein solcher Zusammenhang wird im Westen einfach unter den Tisch fallen gelassen.
Ja, was ist denn dann Sache? Die Sache ist offenbar die, dass das Thema eines Ablebens des Herrn Selenskij an sich nur minimal mit den Schritten der russischen Seite verbunden ist. Die Bedrohung für Selenskijs Leben ging von Anfang an eher von seiner Leibgarde aus, die von westlichen Sicherheitsdiensten kontrolliert wird. Es ist auch nichts Persönliches dabei – sondern es ist lediglich trocken festzuhalten, dass, wenn die wahren Herren des Landes der Meinung wären, dass Selenskijs Tod für sie von Vorteil wäre, sie ihn sofort beseitigt hätten.
Nun hat sich aber nach dem NATO-Gipfel die Lage gerade dem Punkt gefährlich genähert, an dem der Westen Selenskij nicht mehr braucht. Genauer gesagt haben alle die Schnauze gestrichen voll von seinen Versuchen, den Westen zu zwingen, in seinem Interesse zu handeln. Denn auch wenn Selenskij, der etwa um Panzer bettelt, für das innenpolitische Spiel von Nutzen sein kann (worüber Biden allerdings nicht gerade erfreut sein dürfte), so ist Selenskijs immergleiche und immer dreister daherkommende Forderung, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, eine Bedrohung für die bestehende Weltordnung. Ja, wo kämen wir denn hin? Sollen irgendwelche “weißen Neger“, nur weil sie sich momentan auf die öffentliche Meinung im Westen berufen können, etwa bestimmen, wer Mitglied der NATO und der EU sein wird und wer nicht?
Ganz zu schweigen davon, dass der Ukraine-Konflikt an sich den Westen von dessen Konfrontation mit China ablenkt, und Selenskijs unnachgiebige Haltung es dem Westen unmöglich macht, wenigstens zu irgendwelchen Bedingungen – also ganz gleich wie sie sein mögen – aus dem Konflikt auszusteigen. Selenskij hat die sprichwörtlichen “rote Linien” überschritten und sollte bestraft werden. Das ist es wohl, worauf der Politico-Text wahrscheinlich hindeutet.
Natürlich werden die USA versuchen, dies auf möglichst “demokratische” Weise zu bewerkstelligen. Zum Beispiel wird Selenskij bei den kommenden Wahlen im März nächsten Jahres einfach gegen den “richtigen” Kandidaten (sagen wir etwa, Saluschny, aber die Person spielt keine Rolle) verlieren. Oder er verlässt einfach das Amt des Präsidenten, wie er es bereits bei seiner Wahl versprochen hat.
Aus rechtlicher Sicht sind Wahlen während des Kriegsrechts jedoch unmöglich, und Selenskij hat folglich alle Möglichkeiten, die Wahlen zu torpedieren, ohne gegen das Gesetz zu verstoßen. Und einfach das Gesetz zu brechen und sich selbst zum Präsidenten auf Lebenszeit zu ernennen, ist ihm ebenfalls durchaus zuzutrauen.
Und in dieser Situation ist es wirklich leichter, ihn zu beseitigen. Ist das allerdings nicht mit Risiken verbunden? Nun, just eben darum geht es in diesem Artikel, Politico gibt ja grünes Licht: Da wird schon nichts schiefgehen.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.
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