Von Dagmar Henn
Im Bereich Wirtschaft kann man sich nur verwundert die Augen reiben – eine realistische Sicht auf die strategische Lage ist nicht zu finden. Dazu sollte man vielleicht erst die grundlegenden Umstände skizzieren.
Die Frage einer sicheren und bezahlbaren Energieversorgung ist nach wie vor nicht gelöst; die Probleme, die in den vergangenen Jahren eine ganze Abwanderungs- und Schließungswelle ausgelöst haben, müssten von einer verantwortlichen Regierung angegangen werden. Gleiches gilt für die in manchen Bereichen tatsächlich fehlenden Arbeitskräfte; hier sind die entscheidenen Fragen vielfach (in Pflege oder in der Logistik) ungenügende Ausbildungsbereitschaft und zu schlechte Bezahlung. Natürlich wirkt bei den meisten arbeitskraftbezogenen Fragen auch die Wohnungsproblematik mit, zu hohe Mieten oder teils sogar gar nicht verfügbare Wohnungen.
Die seit mehr als zwei Jahrzehnten sehr stark exportorientierte Industrie läuft gerade Gefahr, in den Handelsauseinandersetzungen zwischen den USA und China zwischen die Fronten zu geraten; nachdem Russland als Exportmarkt bereits verloren ist und die USA, wie erfolgreich auch immer, unter Präsident Donald Trump auf eine Rückholung industrieller Produktion setzen, würde ein politisch bedingter Verlust Chinas die Absatzmöglichkeiten auf den europäischen Binnenmarkt beschränken. Der aber ist, wenn man die zunehmende Fragilität der EU betrachtet, ebenfalls nicht dauerhaft gesichert, und man kann nicht davon ausgehen, dass die europäischen Nachbarn, wenn ihre eigene Wirtschaft in der Krise steckt, sonderlich Wert darauf legen, die deutsche Industrie der eigenen vorzuziehen.
Eine Abkehr von der Exportorientierung, also eine Kräftigung des deutschen Binnenmarkts, könnte das zumindest teilweise abfangen. Aber die zu geringen Lohnsteigerungen der letzten 30 Jahre haben diesen Binnenmarkt weitgehend ausgetrocknet; die Automobilindustrie beispielsweise sieht sich gerade bei den Jüngeren einem fallenden Anteil von Führerscheinbesitzern gegenüber; jene, die sich schon die Finanzierung des Führerscheins nicht leisten können, fallen auch als Kunden für die Automobilindustrie aus. Derartige selbst geschaffene Engpässe gibt es an vielen verschiedenen Punkten; eine Wiederbelebung des Binnenmarkts hätte also teilweise Voraussetzungen, die über die Erhöhung der Löhne hinausgehen.
Der Koalitionsvertrag ist von jeglicher Einsicht in diesem Bereich weit entfernt.
“Wir bleiben eine offene und international orientierte Volkswirtschaft, stärken den europäischen Binnenmarkt, schließen neue Handelspartnerschaften und sichern unsere Lieferketten ab.”
Das mit den Lieferketten kann man getrost vergessen, wenn die Haltung gegen China weiter fortgesetzt wird. Und diese Formulierung ist eine Absage an eine Stärkung des deutschen Binnenmarkts, wenn auch verklausuliert.
Es sollen “durch strukturelle Reformen Wachstumskräfte” freigesetzt und der Wohlstand für alle gemehrt werden.
“Hierzu werden wir unter anderem Investitionen, Innovationen und Wettbewerb fördern, Steuern, Abgaben und Energiepreise senken, Arbeitsanreize verbessern, die Dekarbonisierung unterstützen, Bürokratie zurückbauen und eine aktive Handelspolitik betreiben.”
Energiepreise senken und Dekarbonisierung unterstützen? Da wird kein Schuh draus. Denn die “Dekarbonisierung” bliebe, selbst wenn es den Verlust günstiger russischer Rohstoffe nicht gäbe, ein Preistreiber bei der Energie.
“Wir etablieren Deutschland als KI-Nation. Das bedeutet massive Investitionen in die Cloud- und KI-Infrastruktur sowie in die Verbindung von KI und Robotik.”
Super. Wenn man sich nicht an chinesische Modelle hält, die etwas weniger Energie verbrauchen, sind KIs Energiefresser. Ohne eine grundsätzliche Stabilisierung der Energieversorgung wird das nichts. Außerdem sollte man dabei berücksichtigen, dass vielfach das zeit- und arbeitskraftaufwendige Training einer KI in Ländern wie Indien erfolgt, was auch bedeutet, dass der Arbeitsplatzeffekt dort, wo die Rechneranlage physisch steht, gering ist und damit selbst die Löhne, die in diesem Bereich anfallen, nicht in den deutschen Binnenmarkt fließen.
Robotik ist ein Bereich, in dem die deutsche Position noch ziemlich gut ist, das wäre also tatsächlich sinnvoll. Da liegt das Problem eher darin, dass ein noch ausgeprägterer Einsatz in der verbliebenen Industrie sozial zu zerstörerische Folgen hätte und den deutschen Binnenmarkt noch weiter schwächen würde – die existierenden Modelle vollautomatischer Fabriken, die Adidas schon vor Jahren gebaut hatte, haben sich seither nicht weiter verbreitet.
Die Hoffnungen ruhen auf Start-ups und Wagniskapital. Da muss man zumindest einmal anmerken, dass proportional der Bedarf für Risikokapital höher ist, weil die Kreditvergabe deutscher Banken weitaus restriktiver ist als in anderen Ländern; sprich, es wird schon Wagniskapital für Projekte benötigt, die andernorts von gewöhnlichen Geschäftsbanken finanziert werden. Aber das Problem auch für Start-ups ist der Binnenmarkt. Jede Ware braucht Käufer, und je schwächer der Binnenmarkt ist, desto schwerer wird es, ebendiese Käufer zu finden. Wenn es aber erforderlich ist, von vornherein andere Märkte ins Visier zu nehmen, dann wäre es einfacher, gleich an anderem Ort anzufangen.
Die Klimaideologie wird mehr oder weniger vollumfänglich fortgesetzt. Da soll “Wasserstoffwirtschaft” betrieben werden – dabei hat schon die Erzeugung von Wasserstoff das Problem, dass für einen Liter Wasserstoff neun Liter Wasser benötigt werden; der Leitungstransport von Wasserstoff hat weit schwierigere Voraussetzungen als der Transport von Erdgas, weil das Molekül deutlich kleiner ist. “Das Wasserstoffkernnetz muss deutschlandweit die industriellen Zentren anbinden, auch im Süden und Osten Deutschlands.” Na, dann viel Spaß. Das riecht eher nach Infrastrukturinvestitionen ohne praktischen Nutzen, ähnlich wie die von der Ampel gebauten LNG-Terminals.
“Die Abwanderung energieintensiver Unternehmen aufgrund unterschiedlicher Klimaschutzstandards (Carbon Leakage) wollen wir verhindern.”
Das geht nur auf eine Art und Weise – indem man diese Klimaanforderungen in die Tonne tritt. Aber genau dazu ist diese Koalition nicht bereit; schließlich wurde gerade erst die Klimaneutralität bis 2045 ins Grundgesetz geschrieben. Das bedeutet, ganz nebenbei, dass jeder Umweltverein XY (also so was wie die Lobbytruppe Deutsche Umwelthilfe) ganz entspannt Maßnahmen, die “Klimaschutzstandards” auf wettbewerbstaugliches Niveau zu senken, gerichtlich torpedieren kann.
“Wir wollen CBAM unbürokratischer und effizienter machen. (…) Sollte ein effektiver Carbon Leakage-Schutz über den CBAM nicht gelingen, werden wir die Wettbewerbsfähigkeit für exportorientierte Branchen weiterhin über die kostenfreie Zuteilung von Zertifikaten regeln.”
Wie praktisch, dass diesen Absatz kaum jemand versteht. CBAM, das ist das Kürzel für den Karbonzoll, den die EU eingeführt hat. Der aber natürlich allerlei importierte Rohstoffe verteuert, die in Deutschland weiterverarbeitet werden. Und die Lösung? Subventionen aus Steuermitteln, so, wie bei den Energiepreisen auch (in dem Fall etwas besser verdeckt, weil die “kostenfreie Zuteilung” ein Verzicht auf Einnahmen ist. Und ob das dann beihilferechtlich gut geht?). Dumm nur, dass die zur Verfügung stehenden Steuermittel durch das Einkommen der Bevölkerung ziemlich eng begrenzt sind; schließlich ist die Umsatzsteuer schon lange der größte Brocken der Steuereinnahmen, was aber die Finanzkraft des Staates zu einem abgeleiteten Wert ausgerechnet des ausgedörrten Binnenmarkts macht …
“Die Stahlindustrie ist von zentraler strategischer Bedeutung für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Wir werden sie erhalten und zukunftsfähig machen und sie bei ihrer Umstellung der Produktionsprozesse auf dem Weg zur Klimaneutralität unterstützen.”
Nun, auch hier wieder: Unter diesen Bedingungen ist eine Erhaltung nur mit massiven Subventionen möglich. Denn wie man es dreht und wendet, die Erzeugung von Stahl wird ein energieintensiver Vorgang bleiben. Das ist durch die physikalischen und chemischen Prozesse bei der Umwandlung vom Eisenerz zum Stahl vorgegeben.
“Wir werden Deutschland zum weltweit innovativsten Chemie-, Pharma- und Biotechnologiestandort machen.”
Pharma und Biotechnologie, das könnte vielleicht funktionieren. Chemie? Noch einmal energieintensive großtechnische Anlagen, und der Abwanderungsprozess der chemischen Industrie ist bereits voll im Gange. Wird dieser Zustand irgendwo erwähnt? Seine Ursachen?
Aber kommen wir zum Kern der Industriepolitik, der Automobilindustrie. Hier gibt es ein klein wenig Einsicht – Strafzahlungen wegen der Flottengrenzwerte sollen abgewehrt werden, und man will sich etwas mehr Zeit für die Umstellung der Lkw-Flotte auf Elektro geben (die bis heute noch nicht funktioniert). Doch die Ausrichtung auf Elektromobilität bleibt bestehen; die Aussage zum Stichpunkt Ladeinfrastruktur ist jedoch vorsichtshalber vage:
“Den flächendeckenden Ausbau von Pkw- und Lkw-Ladeinfrastruktur treiben wir voran und erhöhen die Förderung.”
Im Koalitionsvertrag der Ampel waren vollmundig eine Million Ladestationen versprochen worden. Insgesamt wurden jedoch nur 161.700 errichtet, also nur 16,1 Prozent. Schon an diesem Punkt ist die ganze E-Auto-Fantasie völlig unrealistisch. Aber die MiniKo steht mit Rechnen und Physik ebenso auf Kriegsfuß wie die Ampel. Mit anderen Wunschvorstellungen sieht das nicht anders aus: “Wir machen Deutschland zum Leitmarkt für autonomes Fahren und werden mit den Ländern Modellregionen entwickeln und mitfinanzieren.” Da müsste zuerst das Datennetz überall verfügbar und bis zur nötigen Belastbarkeit ausgebaut sein. Nicht umsonst hat VW seine Forschungsabteilung in diesem Bereich nach China verlegt.
“Wir stehen für eine konsequente Ausrichtung aller [Energie-]Bereiche auf Bezahlbarkeit, Kosteneffizienz und Versorgungssicherheit.”
Wir erinnern uns an die Pläne der Energieagentur, man solle doch industrielle Produktion dann anschalten, wenn Wind und Sonne genug Strom liefern … Klar war das auf der einen Seite ein Beleg für das völlige Fehlen jeder Ahnung von Industrieproduktion, aber auf der anderen Seite bildete es das ab, was auf der angestrebten Grundlage möglich ist – jedenfalls keine kostensichere Energieversorgung für die Industrie. Und die Vorstellung, dann eben in allen möglichen Bereichen diese Kosten wieder durch Subventionen zu senken, die sich wie ein roter Faden durch den Koalitionsvertrag zieht, ist volkswirtschaftlich eine Illusion, weil sie nur Geld von der einen in die andere Tasche befördert, also nur die Adresse jener ändert, die für die Kosten aufkommen müssen, aber die Entstehung dieser – völlig unnötigen – Kosten nicht beeinflusst.
Ja, kleine Ansätze von Vernunft lassen sich finden. Die Stromsteuer soll gesenkt werden. Auch im Bereich Luftverkehr wird das gestrichen, was über die EU-Anforderungen hinausgeht. Und in Bezug auf die Gebäudeenergievorgaben findet zumindest das statt, was längst hätte passieren müssen: “Die nationalen Gebäudeeffizienzklassen im GEG werden wir mit unseren Nachbarländern harmonisieren.” Wenn man das konsequent umsetzen würde, könnte man sich auch eine Nachfolge für das Heizgesetz ganz schenken – die Anforderungen an die Gesamtmenge der Gebäude erfüllt Deutschland nämlich schon längst. Aber da steht natürlich die “Klimaneutralität” im Weg.
Wenn die letzten Jahre eines gezeigt haben, dann, dass alles Gerede von “Resilienz” bezogen auf die Wirtschaft leeres Geschwätz bleibt, sofern nicht der Binnenmarkt wiederbelebt wird. Damit würden sich die Probleme bei der Renten- wie der Krankenversicherung übrigens gleich mit erledigen. Aber nirgends in dem Papier ist zu lesen, dass der Zusammenhang zwischen Arbeitseinkommen, Binnenmarkt und Sozialversicherungen sowie das Risiko einer extrem exportorientierten Wirtschaft überhaupt verstanden wird, und geopolitisch wird weiter alles getan, um die deutsche Industrie zu schrotten. Nun, da wird geliefert, was erwartet werden konnte: Ampel light.
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