Von Bernhard Loyen
Im Leitfaden für die Mitarbeiter des Springer-Verlags steht wörtlich, bis in die Gegenwart verinnerlichend in der Webseitenrubrik “Was uns ausmacht” unter Punkt 2 das unverrückbare, nicht zu diskutierende Arbeitsmotto: “Wir unterstützen das jüdische Volk und das Existenzrecht des Staates Israel”. Punkt 3 lautet: “Wir befürworten das transatlantische Bündnis zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Europa”. Am 26. Mai lautete die Bild–Schlagzeile daher löblich seitens eines verantwortlichen Herrn Kriegl umgesetzt:
“Trump attackiert Putin: ‘Er ist völlig verrückt geworden'”
Und nun? Trumps Wankelmut an Äußerungen ist bekannt und gefürchtet. Man könnte bei der Pressestelle, mit Springer-Kontakten nach Washington ins Oval Office, doch mal anfragen, ob er das nicht auch von Benjamin Netanjahu denkt ‒ macht aber keiner. Die Jüdische Allgemeine titelte Anfang Mai:
“US-Präsident Donald Trump ist angeblich vom israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu enttäuscht.”
Die Enttäuschung bezog sich aber nicht auf das tägliche Gaza-Massaker Israels, anders sollte man es nicht benennen, sondern auf Tel Avivs Gesprächsstrategie mit Saudi-Arabien und dass “Trump verärgert darüber sei, dass Netanjahu und sein Team angeblich US-Beamte zu militärischen Maßnahmen gegen das iranische Atomprogramm gedrängt haben sollen”. Auch auf seiner Social-Media-Plattform Truth Social nicht eine Äußerung zu den Gaza-Grausamkeiten.
Friede Springer, ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende des Verlags und Vorstandsvorsitzende der gemeinnützigen Axel Springer Stiftung, war bekannterweise “freundschaftlich”, also beratend, mit Ex-Kanzlerin Angela Merkel verbunden. Diese ist wiederum nachweislich verantwortlich für die mentalen Gewissenshandschellen der deutschen Politik und Medien. Das erdachte, weggeworfene Schlüsselwort heißt: “Staatsräson”. Merkel formulierte ‒ wer war wohl der “Ideengeber”? ‒ am 18. März 2008 vor der Knesset, dem israelischen Parlament, folgende schicksalshaften Worte für die deutsche Gesellschaft:
“Ich danke allen, dass ich in meiner Muttersprache heute zu Ihnen sprechen darf. Ich spreche zu Ihnen in einem besonderen Jahr. Denn in diesem Jahr 2008 feiern Sie den 60. Jahrestag der Gründung Ihres Staates, des Staates Israel […] Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar. Und wenn das so ist, dann dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben.”
“Niemals verhandelbar”, also das Gegenteil von lautem, vernehmbaren Widerspruch und Kritik, lautet daher die unsägliche Rechtfertigung für das bleierne Schweigen in der Politik und den Medien hinsichtlich der zurückliegenden und andauernden Abgründe der Ereignisse im Gazastreifen. Dass null Komma null zu vernehmen ist von den ansonsten so mitteilsamen und aufrichtigen Demokraten aus der Medien-, Film- und Kunstszene ‒ geschenkt. Ihre Namen sind so weit bekannt, ihre dehnbare Aaligkeit, das sich der Macht anbiedernde Dasein, kann auch weiterhin nur verachtet werden.
“Ich will nicht über die Taten der Hamas reden, will mich nicht hinstellen und mit einer kühlen Distanz, die gelogen wäre, und einer vorgeblichen Expertise, die ich nicht besitze, die Lage analysieren.”#Israel#Palestinehttps://t.co/7QxamSCEHX
— Sarah Bosetti (@sarahbosetti) November 1, 2023
Wenige Wochen vor der Rede von Merkel titelte der Deutschlandfunk:
“Warum die Amerikaner Auschwitz nicht bombardiert haben”
Anlässlich des damaligen Gedenktages im Bundestag “für die Opfer des Nationalsozialismus hat der USA-Experte Christof Mauch die Militärstrategie der Amerikaner im Zweiten Weltkrieg verteidigt”, so der Artikel. Weiter heißt es:
“Statt die Konzentrationslager oder die Zuwege dahin zu bombardieren, hätten militärische Ziele im Vordergrund gestanden. Auch sei eine präzise Bombardierung in den Vierzigerjahren noch gar nicht möglich gewesen.”
Die präzise Bombardierung von deutschen Groß- und Kleinstädten war dann wiederum möglich (?). Nachweislich, laut Herrn Mauchs Ausführungen im Deutschlandfunk-Interview, erreichten “erste Informationen die Amerikaner und die Briten im Jahr 1942, als ein deutscher Industrieller namens Eduard Schulte mittels des Jüdischen Weltkongresses in Genf berichtet hat, dass Millionen von Juden in den von den Nazis im Osten besetzten Gebieten vernichtet und entsprechende Apparate aufgebaut würden”. Vieles aus jener Zeit verschwand in den Tiefen der Geheimdienste, daher empfehle ich für interessierte Leser das mehr als erkenntnisreiche Buch von Gaby Weber “Drei Kreise des Abgrunds“. Es behandelt die frühzeitige enge Kooperation der jungen Bundesrepublik Deutschland mit dem Staat Israel in den 1950er und 1960er Jahren.
Im vergangenen Jahrhundert gab es eben kein X und Truth Social. Das Thema “Gaza-Verbrechen” wird dabei auf der Plattform “der Guten”, Bluesky, auffällig ‒ wenn irgendwie möglich ‒ vermieden.
Zur Klarstellung:
Nein, ich fordere nicht die Bombardierung Israels oder die der gesperrten und kontrollierten Zufahrtswege nach Gaza. Das Sterben der verbleibenden Menschen, der vor allem Kinder, Jugendlichen und Frauen, muss jedoch endlich und zeitnah ein Ende haben. Die Bilder dieses (un)menschlichen Abgrunds sind diesmal täglich sichtbar. Dazu Fernseh- und Radioberichte. Eine vermeintliche argumentative “Unkenntnis” ist unglaubwürdig.
Nein, ich vergleiche das Agieren Israels nicht mit der industriellen Ermordung von sechs Millionen Juden ‒ zur aktuellen Diskussion eines Genozids seitens Israels etwas später.
Die brutale und unbarmherzige Gegenwart des fortdauernden Vernichtungsfeldzugs Israels in Gaza sorgt nun in dem bis dato betonierten Fundament der willkürlich verordneten “Staatsräson” für kleine Risse. So titelt der Berliner Tagesspiegel am 26. Mai (Bezahlschranke):
“‘Ein Offenbarungseid’: Michael Wolffsohn kritisiert Staatsräson-Vorstoß von Antisemitismusbeauftragtem. Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, sieht in der deutschen Staatsräson in Bezug auf Israel ‘keine Rechtfertigung für alles’. Der Historiker Michael Wolffsohn weist diese Lesart zurück.”
Der Artikel der FAZ (Bezahlschranke) lautet:
“Humanitäre Lage in Gaza: ‘Das kann nicht deutsche Staatsräson sein’.”
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung antwortet auf die Frage, ob das Vorgehen Israels “antisemitisch” und “als Genozid” bezeichnet werden könnte:
“Selbstverständlich darf man das Vorgehen der israelischen Regierung hart kritisieren und fragen, ob es mit dem Völkerrecht vereinbar ist. Das ist nicht antisemitisch. Aber der Begriff Genozid ist höchst problematisch. Dafür müsste Israel nachgewiesen werden können, dass die Palästinenser im Gazastreifen vorsätzlich aus ethnischen Gründen getötet werden, also weil sie Palästinenser sind. Das ist nicht der Fall. Ziele der israelischen Armee sind die Bekämpfung von Hamas-Terroristen, die die eigene Zivilbevölkerung als Schutzschilde missbrauchen, sowie die Befreiung der israelischen Hamas-Geiseln. Von Genozid zu sprechen, ist antisemitisch, weil es Israel als Ganzes dämonisiert und zur Entgrenzung führt.”
Wäre “Geiselhaft-Genozid” für Herrn Klein weniger problematisch? Zum Thema “Staatsräson”, dem Schweigen im deutschen Medienwalde, moniert Klein im Interview:
“Ich plädiere sehr dafür, ehrlicher über den Begriff Staatsräson zu diskutieren, genauso wie über das Wort Existenzrecht. Beide Begriffe sind für das deutsche Staatsverständnis und das Verhältnis zu Israel existenziell, aber sie sind auch unscharf und erschweren dadurch die Debatte […] Die Palästinenser auszuhungern und die humanitäre Lage vorsätzlich dramatisch zu verschlimmern, hat nichts mit der Sicherung des Existenzrechts Israels zu tun. Und es kann auch nicht deutsche Staatsräson sein.”
Wolffsohns Replik im Tagesspiegel lautet wörtlich auf die Ausführung im FAZ-Interview:
“‘Wie fast alle übersieht Felix Klein, dass die Hamas, wie weiland Hitler im Zweiten Weltkrieg, trotz der faktischen militärischen Niederlage bis zum letzten Palästinenser kämpft und somit für die humanitäre Katastrophe verantwortlich ist’, sagte er. ‘Nach Freigabe aller Geiseln und Niederlegung der Waffen durch die Hamas würde die ganze Welt – auch Israel – helfen, den Palästinensern endlich ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen’.”
Das Wort “Verhältnismäßigkeit” scheint dem Historiker aufgrund des anmaßenden Verweises auf das Dritte Reich irgendwie nicht mehr mental vorzuliegen. “Die Hamas kämpft” schon lange nicht mehr auf dem Boden Gazas. Im Januar hieß es, dass die UN auf Grundlage von Satellitendaten im Dezember [2024] schätzte, “dass 69 Prozent der Gebäude im Gazastreifen beschädigt oder zerstört wurden”. Ein Artikel von Amnesty International aus dem Dezember des Vorjahres mit dem Titel “Israels Genozid an den Palästinensern” informiert:
“Bereits im Januar 2024 waren etwa 84 Prozent der Gesundheitseinrichtungen, circa 57 Prozent der Wasserinfrastruktur und rund 62 Prozent aller Wohnhäuser im Gazastreifen, d. h. 290.820 Wohneinheiten, beschädigt oder zerstört. 05.12.2024.”
Die weiterhin existierende Zwickmühle der deutschen Politik, das Hadern und Rumgeeiere, spiegelt ein ZDF-Interview mit Armin Laschet, dem neuen Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, wider. Der CDU-Politiker wurde gefragt, ob Israel seiner Meinung nach gegen das Völkerrecht verstoße. Die Antwort lautete:
“Die humanitäre Hilfe muss dringend erhöht werden, es müssen Lebensmittel und Medikamente in den Gazastreifen hineingelassen werden. Mehr als bisher. Und wenn man das nicht tut, ist das ein Verstoß gegen das Völkerrecht.”
Aber nur dann? Der ZDF-Moderator war laut Bild-Artikel mit der Antwort nicht zufrieden. Dazu heißt es:
“Laschet war sichtlich sauer und sagte: ‘Es gibt Kritik [an Israel], es gibt Kritik auch aus Deutschland. Immer diese These, dass man in Deutschland Israel nicht kritisieren dürfe – wenn ich mich umhöre, im Parlament, auf den Straßen, da wird Israel ständig kritisiert’. Man müsse Fragen zum Völkerrecht erklären und könne diese nicht nur mit Ja oder Nein beantworten.”
Eindeutigkeit klingt anders. Am selben Tag meldete sich auch der Bundeskanzler zum Thema. So sagte Merz auf der Digitalkonferenz “re:publica” in Berlin:
“Die israelische Regierung darf nichts tun, was nun irgendwann [sic!] auch ihre besten Freunde nicht mehr bereit sind zu akzeptieren […] Ich verstehe offen gestanden nicht mehr, mit welchem Ziel die israelische Armee nun im Gazastreifen vorgeht. Die Zivilbevölkerung derart in Mitleidenschaft zu nehmen, wie das in den letzten Tagen immer mehr der Fall gewesen ist, lässt sich nicht mehr mit einem Kampf gegen den Terrorismus der Hamas begründen. Wir müssen das jetzt etwas deutlicher [sic!] sagen.”
“Etwas deutlicher” belegt dabei die Unglaubwürdigkeit seiner Aussage. Wer ist “wir”, die Bundesregierung? Warum erst “jetzt etwas deutlicher” werden, reichten zuvor nicht die Abertausenden von vor allem toten Kindern und Frauen für Herrn Merz aus, um eine unmissverständliche Kritik an seinem Kollegen aus Israel zu formulieren?
“An ihren Taten sollt ihr sie erkennen”, heißt es in der Bibel, die für die meisten Politdarsteller nachweislich nur noch zur Dekoration im heimischen Bücherschrank steht. Die einzige Frage lautet daher: Wie lange will die Bundesregierung noch mit ihrer Untätigkeit und dem mehrheitlichen Stillschweigen das mörderische Gaza-Massaker Israels weiter dulden und damit indirekt unterstützen?
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