Von Olga Samofalowa
Die deutsche Wirtschaft schrumpft bereits das zweite Jahr in Folge. Nach einem Rückgang von 0,3 Prozent im Jahr 2023 folgte 2024 ein Abschwung um 0,2 Prozent im wirtschaftlich bedeutsamsten europäischen Land.
“Deutschland erlebt die längste Stagnationsphase seiner Nachkriegsgeschichte”, sagt Timo Wollmershäuser, Wirtschaftswissenschaftler vom Ifo-Institut in München, gegenüber der Financial Times.
In der Tat verzeichnete Deutschland seit dem Beginn der Pandemie kein nennenswertes Wirtschaftswachstum mehr. Die Industrieproduktion liegt mehr als zehn Prozent unter ihrem Höchststand, und die Arbeitslosigkeit befindet sich wieder im Aufwind, nachdem sie auf ein Rekordtief gesunken war.
Die Bundesbank geht davon aus, dass sich die Stagnation in Deutschland in diesem Jahr fortsetzen wird. Sie prognostiziert ein Wachstum von nur 0,1 Prozent und warnt davor, dass ein Handelskrieg mit den USA zu einem weiteren Jahr der wirtschaftlichen Schrumpfung führen wird. Der designierte US-Präsident Donald Trump kündigte an, umfassende Zölle von bis zu 20 Prozent auf alle Importe zu erheben.
Für diesen Wirtschaftsrückgang gab es viele Gründe. Dazu gehören sowohl die Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie von 2020 und die Energiekrise von 2021/2022 als auch der Handelskrieg mit den USA und China. Aber warum genau erging es der deutschen Wirtschaft im Vergleich zu anderen europäischen Ländern am schlechtesten?
Dies liegt daran, dass Deutschland die wirtschaftliche Führungsrolle in der Europäischen Union innehatte und diese auf einer starken Industrie beruhte, deren Produkte in der ganzen Welt sehr gefragt waren. Alle oben genannten Ereignisse trafen genau die Industrie.
Jaroslaw Kabakow, Leiter der Strategieabteilung bei der Investmentfirma “Finam”, sieht eine der Ursachen der Probleme in der sogenannten “Corona-Krise”:
“Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie setzten die Wirtschaft des Landes aufgrund seiner starken Verflechtung mit der Weltwirtschaft weiterhin unter Druck.”
Pawel Sewostjanow, ordentlicher Staatsrat der Russischen Föderation und Dozent am Lehrstuhl für politische Analyse und soziale und psychologische Prozesse der Plechanow- Wirtschaftsuniversität, führt weitere Ursachen an:
“Deutschland hat eine komplexere exportorientierte Wirtschaftsstruktur, vor allem in der Automobil- und Maschinenbaubranche, was es anfällig machte. Zweitens traf der Verlust der russischen Energieressourcen Deutschland härter, da seine Industrie bei der Produktion stark von billigem Gas und Öl abhängig war. Erhebliche Folgewirkungen hatte die Energiekrise. Die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie nahm ab, denn die Unternehmen standen im Konkurrenzkampf mit Unternehmen aus Ländern mit niedrigeren Energiekosten auf der Verliererseite.”
Zwischen 2021 und 2022 stiegen die Gaspreise jeden Monat an und sprangen schließlich schon Ende 2021 von 300 bis 400 US-Dollar pro tausend Kubikmeter auf 2.000 US-Dollar. Die Chemie- und Düngemittelindustrie, die viel Energie benötigt, stellte ihre Produktion sofort ein. Nach ihnen begannen auch andere Industrien, ihre Produktion zu reduzieren und stillzulegen. Bei einer solchen Preisdynamik war es rentabler, die Produktion einzustellen, als mit Verlust zu arbeiten. Zum Vergleich: In den USA und Russland lagen die Gaspreise bei 100 US-Dollar pro tausend Kubikmeter.
Angesichts von Gaspreisen in Höhe von mehreren tausend Euro waren die deutschen Waren auf dem ausländischen Markt einfach nicht konkurrenzfähig. Es kam zu Produktionsverlagerungen ins Ausland. “Einige deutsche Unternehmen veranlassten aufgrund der niedrigeren Gas-, Energie- und Arbeitspreise eine Produktionsverlagerung in die USA und nach Indien”, sagt Kabakow. Damit konnten die USA die von ihnen angestrebte Rückkehr der Produktion in ihr Land verwirklichen.
Auch die deutsche Autoindustrie konnte dem Wettbewerb nicht standhalten. Kabakow dazu:
“Hinzu kommt, dass die deutsche Wirtschaft durch den Handelskrieg mit China und den Übergang zu Elektroautos unter doppeltem Druck auf die deutsche Automobilindustrie stand.”
Die Autoproduktion in Deutschland wurde so teuer und unrentabel, dass der deutsche Autokonzern Volkswagen zum ersten Mal in seiner 87-jährigen Geschichte gezwungen war, Betriebe aus Wirtschaftlichkeitsgründen zu schließen. Gleich drei Werke sind davon betroffen. Darüber hinaus entschied sich der Konzern zum ersten Mal seit 30 Jahren für Entlassungen und verstieß damit gegen die eigenen arbeitsvertraglichen Bestimmungen, die Entlassungen bis 2029 untersagten.
Nach eigenen Angaben ist der Konzern nicht in der Lage, 500.000 Autos pro Jahr zu verkaufen, was der Kapazität von zwei Werken entspricht. Die Autoverkäufe in Europa gingen nach der Pandemie um zwei Millionen Stück zurück. Der russische Markt hätte die Situation zwar kompensieren können, aber die westlichen Autohersteller beraubten sich selbst dieses Absatzmarktes.
Wie für alle deutschen Betriebe besteht das Hauptproblem für VW natürlich in den stark gestiegenen Betriebskosten und der sinkenden Rentabilität. Die Ursache dafür ist wiederum der Preisanstieg für Energieressourcen nach der Beendigung der Erdgaslieferungen aus Russland und die allgemeine Umstrukturierung des Energiemarktes in Europa. Deutschland war nicht nur der größte Abnehmer russischen Gases, sondern zahlte auch den niedrigsten Brennstoffpreis, was dem Land wirtschaftliche Präferenzen verschaffte. Nun muss es LNG auf einer gemeinsamen Grundlage und zu einem höheren Preis erwerben.
Darüber hinaus verzichtete Deutschland auf die ebenfalls billige Kernenergie und stellte auf erneuerbare Energiequellen um. Aber wenn es keine Wind- und Sonnenenergie gibt, steigt der Energiepreis sofort an.
Zum Verständnis: Im April 2020 kostete der Strom in Deutschland noch 17 Euro pro Megawattstunde, dann begann der Preis stetig zu steigen und erreichte im August 2022 einen Rekordwert von 470 Euro. Das war ein kolossaler Schlag für die gesamte deutsche Industrie. Danach sanken die Preise auf 80 Euro. Aber das ist immer noch viel: viermal so viel wie im Jahr 2020.
Die Preise können jeden Moment wieder auf Rekordniveau steigen. Genau das geschah am Anfang dieses Jahres: Am 15. Januar 2025 stiegen sie während der Spitzenzeiten auf dem Gasgroßhandelsmarkt auf 377 Euro pro Megawattstunde. Der Grund dafür ist, dass bereits die dritte windstille Periode anbrach und es keine preisgünstige Atomstromerzeugung gibt. Der Gasverbrauch nahm zu, aber dafür muss man jetzt viel bezahlen.
Die hohen Stromkosten treffen ausnahmslos jedes Industrieunternehmen. Die Autoindustrie ist nur ein Paradebeispiel.
Deutschland verzeichnet im zweiten Jahr einen Negativrekord an Unternehmensinsolvenzen im Lande. Jaroslaw Kabakow sagt dazu:
“Der Hauptfaktor, der zum Anstieg der Zahlungsausfälle und Insolvenzen deutscher Unternehmen führte, ist die Straffung der Geldpolitik durch die EZB. Ein Jahrzehnt niedriger Zinsen in Europa schuf eine Unternehmenslandschaft, die bei den derzeitigen Kreditzinsen nicht existenzfähig ist. Bürokratie und Arbeitskräftemangel sind auch für die deutsche Wirtschaft zu einem Bremsfaktor geworden. Staatliche Verfehlungen wie unzureichende Investitionen in die Infrastruktur und zögerliche Reformen auf dem Arbeitsmarkt verschärfen die Situation. Politische Instabilität erhöht die wirtschaftliche Unsicherheit.”
Kabakow zufolge unterscheiden sich die Prognosen für Deutschland für das Jahr 2025: Es sind sowohl eine Stagnation als auch ein Wachstumsszenario denkbar, vorausgesetzt die Preise stabilisieren sich und die Staatsinvestitionen steigen. Angesichts der aktuellen Politik scheint jedoch das erste Szenario am wahrscheinlichsten zu sein, sagt er.
Zur Wiederherstellung eines stabilen Wachstums müsse Deutschland in Infrastruktur und Innovation investieren, Subventionen mit Fokus auf die lokale Produktion ausschütten und den Arbeitsmarkt reformieren. Ohne Strukturreformen laufe Deutschland Gefahr, seinen Status als führende EU-Wirtschaft zu verlieren, so Kabakow abschließend.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 16. Januar 2025 zuerst auf der Seite der Zeitung Wsgljad erschienen.
Mehr zum Thema ‒ Wie das Ausbleiben von russischem Gas Europa verändern wird