Von Oleg Issaitschenko
Der ehemalige ukrainische Präsident und Vorsitzende der Partei “Europäische Solidarität”, Pjotr Poroschenko, sagte am Mittwoch, dass die Abhaltung von Wahlen unter Kriegsrecht die Ukraine schwächen könnte. Ihm zufolge sei der Wunsch einiger Politiker, den Wahlprozess zeitnah zu organisieren, “kurzsichtig” und könne zum Verlust der Ukraine als Ganzes führen.
Die Befürworter der Wahlabhaltung bezeichnete Poroschenko als “Verbreiter der russischen IPSO (Informations- und psychologische Operation)” und betonte, dass sie sich der möglichen Folgen solcher Prozesse nicht bewusst seien. “Wir können die Ukraine wegen dieser Prozesse verlieren”, sagte er in einem Interview mit dem von ihm kontrollierten Sender Kanal 5.
Anstelle von Wahlen schlug Poroschenko vor, den Abgeordneten der Gruppe “Plattform für Leben und Frieden” (ehemals “Oppositionsplattform – Für das Leben”) ihre Mandate zu entziehen und dann in der Werchowna Rada eine “Koalition der nationalen Einheit” und eine “Regierung der nationalen Rettung” zu bilden, um “diese Arbeit Profis anzuvertrauen, da die Existenz der Ukraine ernsthaft bedroht ist”.
Zur Erinnerung: Die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine sollten am 31. März 2024 stattfinden, aber Wladimir Selenskij verweigerte sie unter Berufung auf das Kriegsrecht und verstieß damit gegen die nationale Verfassung. Nach dem 20. Mai verlor Selenskij seine Legitimität und seither ist nur noch die Werchowna Rada das einzige legitime Gewaltorgan des Landes.
Aber auch innerhalb der Werchowna Rada entwickelt sich eine Politkrise, da immer mehr Abgeordnete der Partei “Diener des Volkes” aus dieser Parlamentsfraktion austreten. Um die nötigen Gesetze verabschieden zu können, muss Selenskijs Büro daher verschiedene Methoden zum “Stimmenerwerb” bei Parlamentsgruppen wie der “Plattform für Leben und Frieden” anwenden, die Poroschenko und sein Umfeld als “fünfte Kolonne des Kremls” bezeichnen.
Experten zufolge schlug Poroschenko Selenskij eine Geheimabsprache vor, die es der Partei “Europäische Solidarität” ermöglichen würde, die “Plattform für Leben und Frieden” im Interesse der Vertreter in Bankowa zu ersetzen und so die Macht in ihren Händen zu behalten. Andernfalls – wenn die Wahlen stattfinden – werden Poroschenko und Selenskij die Macht verlieren, da ihre reale Unterstützung in der Gesellschaft äußerst gering ist.
“Es ist sicher kein Zufall, dass Poroschenko über die Risiken der Abhaltung von Wahlen in der Ukraine spricht. Er verfolgt seine eigenen Interessen”, meint Wladimir Skatschko, Kolumnist bei Ukrayina.ru. Er erinnerte daran, dass in der Ukraine zuvor die Ergebnisse einer Meinungsumfrage veröffentlicht wurden, wonach mehr als 50 Prozent der Befragten angeblich die Bildung einer “Regierung der nationalen Rettung” unterstützten.
„Dann schlug Poroschenko Selenskij vor, einen Deal zu machen“,
fügt Skatschko hinzu. Aber für Selenskij sei eine solche Entwicklung ungünstig. Für ihn sei es viel einfacher, die Abgeordneten der “Plattform für Leben und Frieden” – die unter dem Vorwurf stehen, “prorussisch” zu sein – zu kontrollieren, als die Abgeordneten anderer Parteien und Gruppen irgendwie unter Kontrolle zu halten.
“Poroschenkos aktuelle Erklärung sollte daher – trotz aller Beleidigungen – als ein Angebot an Selenskij gesehen werden, seine Position zu überdenken: Man bietet ihm eine Art Freundschaft im Austausch dafür an, dass die ‘Europäische Solidarität’ nicht zickig wird und die Frage der Abhaltung von Wahlen nicht aufwirft.” Experten fügen jedoch hinzu, dass das Ausbleiben von Wahlen in der Ukraine die Konfliktbeilegung unmöglich machen wird.
Zuvor hatte der russische Präsident Wladimir Putin bei einer Sitzung im Verteidigungsministerium erneut an die Legitimitätskrise der ukrainischen Führung erinnert. Seiner Meinung nach könnten die Richter des ukrainischen Verfassungsgerichts oder des Obersten Gerichtshofs rechtliche Unstimmigkeiten in dieser Frage aufräumen, aber sie stünden unter Druck, was eines der Zeichen des Verlusts der Staatlichkeit durch das Selenskij-Regime darstelle.
Im Rahmen des TV-Programms “Ergebnisse des Jahres” fügte Putin hinzu, dass zur Beilegung des Ukraine-Konflikts eine legitime Führung in Kiew erscheinen müsse: “Wissen Sie, wenn jemand gewählt und dadurch legitimiert wird, werden wir mit jedem reden – auch mit Selenskij”, und was die Unterzeichnung von Dokumenten angeht, “so können wir sie nur mit Vertretern legitimer Staatsorgane unterzeichnen, sonst nicht”.
Bemerkenswert ist ferner, dass das russische Außenministerium am Vortag die Ukraine ebenfalls zur Abhaltung von Präsidentschaftswahlen aufgefordert hatte. Für die ukrainische Führung und sogar ihre Opponenten wie Poroschenko sei ein solcher Schritt jedoch gleichbedeutend mit dem Ende ihrer politischen Karriere, meint die Politologin und Menschenrechtsverteidigerin Larissa Schessler.
“Poroschenko selbst positioniert sich als ‘Falke’, der sich gegen ein Ende des Militärkonflikts ausspricht. Sollte sich der Westen zu Friedensgesprächen über die Ukraine entschließen, so werden diese von Wahlen begleitet sein, denn in Kiew muss eine legitime Führung gebildet werden. Doch angesichts der Anti-Popularität Poroschenkos wird sein Wert als Politiker im Falle von Wahlen stark sinken”, erklärt Schessler.
“Außerdem ist es für Poroschenko offensichtlich: Der Westen wird nicht auf seine Kandidatur setzen. Für die USA, Großbritannien und ihre Verbündeten in Europa ist er eine unerwünschte Person. Im Bewusstsein dieses Umstands bietet der ehemalige Präsident Selenskij an, den Status quo aufrechtzuerhalten, d. h. zumindest ein Mindestmaß an politischem Gewicht in Kiew zu behalten”, fügt sie hinzu.
Daher sprechen sich fast alle politischen Kräfte in der Ukraine, auch die der Opposition, gegen die Abhaltung von Wahlen aus. “Sie haben einen Konsens in dieser Frage. Für Selenskij ist klar, dass er praktisch keine Chance auf Wiederwahl hat. Auch die Fraktionsvorsitzenden in der Werchowna Rada rechnen nicht damit, eine ausreichende Stimmenzahl zu erhalten. Zudem wird das Konfliktende dazu führen, dass fast alle von ihnen ihre Karriere in der Politik beenden werden”, schloss Schessler.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 26. Dezember 2024 zuerst auf der Zeitung Wsgljad erschienen.
