Da reiben sich Berliner verwundert die Augen: Pünktlich zum russischen Nationalfeiertag, der am 4. November, dem Tag der Vertreibung der polnischen Besatzer aus Moskau im Jahr 1612, begangen wird, eröffnete am Donnerstag in der südsibirischen Stadt Kemerowo ein Nachbau des Denkmals für den sowjetischen Soldaten, dessen Original im Treptower Park zu sehen ist.
Dass der Berliner Befreier-Soldat nun einen Zwillingsbruder so weit im Osten hat, hat seine Gründe: Zum einen ist der Infanterist, der in den letzten Kriegstagen in Berlin ein deutsches Kind vor dem Tod rettete, und damit wohl den Schöpfer des Berliner Denkmals, Jewgeni Wutschetitsch, zu der weltbekannten Soldatenstatue mit Kind im Arm inspirierte, eine reale Person, die aus dem Gebiet Kemerowo stammte und auch nach dem Krieg dort lebte. Zum anderen fürchtet man in Russland angesichts des gegenwärtig um sich greifenden Hasses gegen Russen in Deutschland und Europa einen baldigen Abriss des Berliner Originals und will es zumindest mit einem Nachbau für die Nachwelt bewahren.
So ganz originalgetreu ist der sibirische Zwillingsbruder allerdings nicht: Inklusive Postament ist die Gesamtanlage in Kemerowo 37 Meter hoch, und damit sieben Meter größer geraten als das Mahnmal in Berlin (30 Meter). Hier wie dort ist das Postament begehbar und beherbergt je ein Mosaik, die sich aber voneinander unterscheiden: Während das Mosaik in Berlin die Rettung der europäischen Zivilisation durch das gesamte sowjetische Volk würdigt, ist das in Kemerowo “den Frauen und Männern des Kusbass” gewidmet.
Anders als in Berlin, wo Stalin-Zitate auf Stelen entlang der Hauptallee angebracht sind, wird der Gedenkkomplex in der russischen Großstadt durch Konstruktionen mit den Namen von 2.916 in der Region gebürtigen Männern und Frauen vervollständigt, die als Helden der Sowjetunion, Träger des Ruhmesordens oder Helden Russlands geehrt wurden. Entlang des 300 Meter langen Weges, der zu dem Denkmal führt, sind auch Stelen, die Namen sibirischer Militärverbände, Lazarette und der sibirischen Fabriken, die für die Front arbeiteten, installiert.
Das Projekt wurde von einer Gruppe von Kusbass-Architekten zusammen mit Fachleuten des Grekow-Ateliers des russischen Verteidigungsministeriums entwickelt. Die Nutzung der Urheberrechte an der Soldatenfigur genehmigte der Enkelsohn des berühmten Wutschetitsch, der wie dieser den Vornamen Jewgeni trägt. Die Bauarbeiten begannen am 1. Februar 2022 und haben rund neun Monate gedauert.
Vorbild für das Denkmal in Berlin wie in Kemerowo war der 1922 geborene und 2001 verstorbene Nikolai Iwanowitsch Massalow. Massalow kämpfte seit dem März 1942 in der Roten Armee, die Kriegspfade führten ihn von Brjansk über Stalingrad (wo er auf dem Mamajew-Hügel verwundet wurde) und Warschau nach Berlin. Der Oberbefehlshaber der 8. Gardearmee, Wassili Iwanowitsch Tschuikow, berichtete über seine Heldentat in der deutschen Hauptstadt wie folgt: Massalow sei als Fahnenträger des 220. Gardeschützenregiments am 30. April 1945 eine Stunde vor Beginn der Erstürmung des Berliner Regierungsviertels auf dem Weg in den Tiergarten gewesen. Als er an das Südufer des Landwehrkanals, der zu diesem Zeitpunkt Frontlinie war, kam, hörte er ein nach der Mutter rufendes Mädchen von der anderen Seite des Kanals. Trotz Maschinengewehrfeuers über die Potsdamer Brücke kroch Massalow an das andere Ufer und rettete das Mädchen aus der Feuerzone zwischen den Fronten.
Im Mai 1965 verlieh der Ost-Berliner Magistrat Massalow aus Anlass des 20. Jahrestags der Befreiung die Ehrenbürgerwürde. Diese entzog ihm 1992 der Senat von Berlin bei der Bestätigung der Ehrenbürgerschaften in der wiedervereinigten Stadt. Auch Proteste russischer Diplomaten gegen diesen Vorgang hatten damals nichts genutzt.
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