Alexandroupolis ist eine kleine griechische Hafenstadt, elf Kilometer von der türkischen Grenze und etwa 80 Kilometer Luftlinie vom Bosporus entfernt. Vor einigen Tagen besuchte ein US-Senator, der Vorsitzende des Ausschusses für Außenpolitik, Robert Menendez, das Städtchen. Und goss dort ein wenig Öl in den zwischen Griechenland und der Türkei glimmenden Schwelbrand.
Zwei Reporter der New York Times (NYT), die den Senator vermutlich begleitet haben, benannten den Grund für das plötzliche Interesse an diesem Ort:
“Der schläfrige Hafen Alexandroupolis in Nordostgriechenland hat eine immer bedeutendere Rolle bei der Verstärkung der Präsenz des US-Militärs in Osteuropa eingenommen, und das Pentagon transportiert enorme Arsenale über ihn, für das, was es die Bemühung nennt, die russische Aggression einzudämmen. Dieser [Material-]Fluss hat nicht nur Russland verärgert, sondern auch die benachbarte Türkei, was unterstreicht, wie der Krieg in der Ukraine Europas wirtschaftliche und diplomatische Beziehungen neu formt.”
Was allerdings weder die New York Times noch die griechische Presse erwähnen, ist die Tatsache, dass von Alexandroupolis aus der Bosporus nah genug liegt, dass er beispielsweise mit den weitreichenden Raketen der HIMARS-Raketenwerfer erreicht werden kann; was eine indirekte militärische Kontrolle über diese Wasserstraße ermöglichen würde, die weder Russland noch der Türkei genehm sein kann. Im Mai, das erwähnt die NYT, verletzten türkische Kampfflugzeuge den Luftraum über der Stadt.
Schon vor Beginn der russischen Militäroperation hatte sich die Menge des in Alexandroupolis angelandeten US-Militärmaterials vervierzehnfacht – auf 3.100 Stück. Militärmaterial sei in diesem Zusammenhang “ein alles umfassender Begriff, den das Pentagon für allerlei Arten Ausrüstung gebraucht, von Panzern bis Munition”, so die NYT. Und weiter:
“Dieses Jahr wurde diese Zahl bereits erreicht.”
Anschließend erwähnt die Zeitung dann noch die Aussage von US-Vertretern, die erklärten, die Rüstungsgüter seien nur für US-Militäreinheiten bestimmt, die in Ost- und Nordeuropa stationiert seien, nicht für die Ukraine.
“Wir haben den Hafen in den Mittelpunkt dynamischer militärischer Einsätze verwandelt”, sagte Andre Cameron zur NYT, der für die Logistik des US-Militärs im Hafen zuständig ist. Und ebendieser Mann schildert dann, die örtliche Regierung würde darauf hoffen, dass sich Alexandroupolis im Gefolge des US-Militärs zu einem Handelshafen für Bulgarien, Rumänien und sogar die Ukraine entwickeln könnte.
In einem Interview mit der griechischen Zeitung Kathimerini nach seinem Besuch in Alexandoupolis hat der oben erwähnte US-Senator dann gegen die Türkei ausgeteilt. Weil kurz zuvor Meldungen durch die türkische wie die griechische Presse gingen, dass die Türkei weitere Exemplare der russischen S400 erwerben wolle. Er sagte:
“Ich bin sehr besorgt über Berichte, dass die Türkei weitere Käufe des russischen S400-Raketenverteidigungssystems tätigen will, eine Lieferung, die eine weitere klare Verletzung der US-Sanktionen darstellt, die durch das Gesetz zur Bekämpfung der Gegner Amerikas durch Sanktionen verordnet sind. Zwischen den fortgesetzten antagonistischen Verletzungen des griechischen Luftraums und der Verzögerung des Prozesses zur Aufnahme von Schweden und Finnland in die NATO hoffe ich ernstlich, dass die Türkei ihren Kurs ändert und ihrer Verantwortung gegenüber der Verteidigungsgemeinschaft nachkommt, indem sie in der Region der konstruktive Partner ist, der sie, wie wir alle hoffen, sein kann.”
Das war eine Drohung mit der Verhängung von US-Sanktionen gegen die Türkei. Gleichzeitig erklärte Menendez, er werde die Lieferung US-amerikanischer F16 an die Türkei verhindern.
Der US-Senator sagte außerdem, er habe mit dafür gesorgt, dass die griechische Armee bei ihrer Modernisierung unterstützt werde und Griechenland Förderung beim Ausbau erneuerbarer Energien erhalte (die in Griechenland vor allem aus Windkraftanlagen besteht, die die Bevölkerung der meisten Gebiete ablehnt). Im Hinblick auf die Streitigkeiten zwischen Griechenland und der Türkei, deren Grund zurzeit vor allem ein Gasfeld vor der türkischen Küste ist, stellte sich Menendez auf die griechische Seite.
Als die Meldung der TASS über die Lieferung weiterer S400 an die Türkei durch die türkische Presse ging, führte das zu einem vorübergehenden Absturz der türkischen Börse. In Wirklichkeit, so heute die türkische Zeitung Cumhuriyet, handele es sich nicht um eine zweite Lieferung, sondern um den zweiten Teil des Vertrags aus 2017, der die Herstellung von Komponenten des Flugabwehrsystems in der Türkei vorsah, wofür sehr langwierige Verhandlungen erforderlich gewesen seien.
Nun gibt es neben Zypern, dem Gasfeld und dem US-Interesse an einer möglichen Kontrolle des Bosporus noch einen weiteren Hintergrund, den man nicht vergessen sollte – den US-initiierten Putschversuch gegen Erdoğan im Juli 2016. Der war seinerseits der Grund für das Verlangen nach S400. Dennoch will die Türkei, die versucht, sich zwischen Russland und der Ukraine als Vermittler zu etablieren – was im März am Eingreifen von Boris Johnson scheiterte – in Bezug auf die Getreidetransporte aus ukrainischen Häfen aber erfolgreich war, 40 F16-Flugzeuge von den USA erwerben.
In der türkischen Presse wird Menendez als ein Politiker charakterisiert, der “enge Beziehungen sowohl zur griechischen als auch zur armenischen Lobby hat.” Nach Aussage einer weiteren türkischen Zeitung sei der Verkauf der Flugzeuge, gegen den sich Menendez wendet, bereits auf einem NATO-Gipfel von US-Präsident Biden zugesagt worden. Andererseits wird durchaus angedeutet, dass die möglichen Gegner, vor denen die Beschaffung der S400 schützen soll, die Vereinigten Staaten selbst sind. Nachdem sich in der jüngeren Geschichte gleich mehrere von den USA betriebene Putsche und Putschversuche finden, ein nachvollziehbarer Wunsch.
Ursprünglich ist es aber Griechenland, das die engeren Beziehungen nach Russland hatte. Die Bereitwilligkeit, mit der Orte wie Alexandroupolis sich vom US-Militär nutzen lassen, hat weit mehr mit der katastrophalen wirtschaftlichen Lage in Griechenland zu tun, dessen Tourismussektor sich von Corona nach wie vor nicht erholt hat. Tatsächlich dürfte der wirkliche Hintergrund für den Besuch des US-Senators aber die Entscheidung über die Zukunft des Hafens Alexandroupolis sein: Der Hafen soll verkauft werden, und zwei der Bieter sind – dem widmet die NYT gleich mehrere Absätze – griechische Geschäftsleute mit engen Verbindungen nach Russland (nicht zu vergessen, dass der Hafen von Piräus, der größte Griechenlands, bereits vor Jahren an chinesische Investoren ging).
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat sich mittlerweile zur Frage der S400 geäußert, in seiner Rede bei der Abschlusszeremonie der Offiziere der Akademie für Gendarmerie und Küstenwache: “Wenn jemand immer noch unsere Innovationen in der Rüstungsindustrie kritisiert, obwohl er den militärischen Aufbau in Griechenland sieht, heißt das, er hat seinen strategischen Blick verloren,” sagte er mit Blick auf die türkische Opposition. Dabei warf er Griechenland vor, es habe 41.000 Flüchtlinge an der Grenze sterben lassen wollen, die die Türkei gerettet habe. Gleichzeitig erklärte Erdoğan, er erwarte gute Nachrichten vom Bohrschiff Abdulhamid Han, das gerade vor der türkischen Küste (also gegenüber der griechischen Inseln) nach Erdgas bohrt.
Die Mischung ist toxisch. Beide Staaten, Griechenland wie die Türkei, wären dringend auf die Erträge aus besagten Gasfeldern angewiesen; die griechische Regierung reagiert auf die Bedrohung durch die vielfach größere Türkei durch ein engeres Bündnis mit den USA, die die Aufrüstung Griechenlands finanzieren. Die Vereinigten Staaten wiederum hätten liebend gern ein Standbein in der Nähe des Bosporus, um diesen kontrollieren zu können; was gleichzeitig eine reale Bedrohung für die souveränen Interessen Russlands wie der Türkei darstellt. Menendez hat mit seinem Auftreten in Griechenland die beiden Nachbarländer einander nicht näher gebracht, sondern weiter auseinander.
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