von Gert Ewen Ungar
Ausgangspunkt der aktuellen und daraus folgenden Entwicklungen ist die ökonomische Schwäche der Sowjetunion in den Achtzigerjahren. Dies löste nach diversen Machtwechseln den Umbau und eine Transparenzoffensive in der Sowjetunion aus, die schließlich die Grundlage für eine mögliche deutsche Wiedervereinigung bildete. Die Wiedervereinigung ist zunächst ausschließlich dem guten Willen der Sowjetunion zu verdanken.
Es gab im Rahmen der Wiedervereinigung das Versprechen, dass sich die NATO nicht nach Osten ausdehnt. Das wird in Deutschland vielfach geleugnet, aber es hilft nichts, das Versprechen wurde gemacht. Es ist gut dokumentiert. Aber selbst wenn es nicht gemacht worden wäre, hätte sich unmittelbar die Frage gestellt, ob die Ausdehnung der NATO mit all den bisherigen internationalen Verträgen kompatibel ist. Denn all die relevanten Verträge von der Schlussakte von Helsinki über die Charta von Paris bis hin zu den Dokumenten der Vereinten Nationen legen als Standard fest, dass einzelne Länder ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Länder erhöhen dürfen. Gegen diesen Grundsatz wurde vom Westen, der NATO und auch der EU immer und immer wieder verstoßen.
Während der Fokus der Argumentation hierzulande vor allem auf die Unverrückbarkeit der nationalen Grenzen gelegt wird, bleibt die massive Verschiebung der Bündnisgrenzen unerwähnt. Dabei wird übersehen, dass das eine mit dem anderen Hand in Hand geht. Die Unversehrtheit der Landesgrenzen wird bedingt durch eine unveränderten Sicherheitsarchitektur. Ist diese nicht mehr gegeben, gibt es notwendigerweise Erschütterungen, die zur Grenzverschiebung führen können. Der völkerrechtswidrige Überfall der NATO auf Jugoslawien, der letztlich zur Abspaltung des Kosovo geführt hat, ist dafür der Präzedenzfall.
Was letztlich zum Zerfall der Sowjetunion geführt hat, ist bis heute im Detail ungeklärt. Wichtig zu verstehen ist, dass die ökonomische Krise nicht ausschlaggebend für den Niedergang der Sowjetunion war. Sie hätte überwunden werden können. Ausschlaggebend war eher mangelnder politischer Wille.
Zweifelsfrei fest steht dagegen, dass der Zerfall einschneidende Konsequenzen hatte. Grenzen wurden quer über den eurasischen Kontinent neu gezogen. Über Nacht fanden sich Menschen, die eben noch in den Grenzen ihres Landes lebten, als Fremde in einem neu gegründeten Staat wieder. Mit der Sowjetunion zerfiel nahezu zeitgleich der Warschauer Pakt. Russland zog seine Truppen zurück. Die aus der DDR abgezogenen Soldaten kehrten in ein Land zurück, das sich schnell und stark wandelte, ihnen nur wenig Sicherheit bieten konnte.
Der Freudentaumel der Wiedervereinigung in Deutschland verdeckte für die Westdeutschen, was ihr Gefühl von Sieg und Überlegenheit überhaupt ermöglicht hatte: der Verzicht der Russen auf Wohlstand, Einfluss und Macht. Die Ostdeutschen hingegen bekamen zügig einen Eindruck davon, was die Wiedervereinigung eigentlich war: eine feindliche Übernahme. Die Wiedervereinigung ist bis heute nicht vollendet und wird es wohl auch niemals werden.
Der Wiedervereinigung liegt ein historisch oftmals begangener Denkfehler zugrunde: Westdeutschland meinte, die DDR habe verloren und sich deshalb zu fügen. Eine tatsächlich kooperative Zusammenarbeit hat es nie gegeben. Noch heute sind nahezu alle zentralen Positionen in der Administration, bei Gerichten und Behörden auf dem Gebiet der ehemaligen DDR mit Westdeutschen besetzt. Das materielle Eigentum der DDR wurde weit unter Wert verscherbelt, das intellektuelle nahezu komplett zerstört. Dieser Skandal wurde bis heute nicht aufgearbeitet.
Mit dieser Übernahme der DDR aus einer Siegermentalität heraus ist eine Sollbruchstelle entstanden, an der im Fall einer tiefgreifenden Krise die Bundesrepublik auseinander brechen wird. Die DDR existierte gut 40 Jahre, aber ihre ehemaligen Landesgrenzen sind auf der sozioökonomischen Landkarte der Bundesrepublik auch über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer deutlich sichtbar. Jener der Wiedervereinigung zugrunde liegende Denkfehler wiederholte sich auf europäischer Ebene. Die Sowjetunion galt als besiegt, ihr Nachfolgestaat Russland hatte sich den westlichen Regeln zu beugen.
Die faktische Marionettenregierung unter Boris Jelzin war dafür ebenso Ausdruck wie die neoliberale Schocktherapie, die verheerende Folgen für die russische Bevölkerung hatte. Der Lebensstandard der Mehrheit der Russen sank deutlich, während gleichzeitig die Oligarchenkaste entstand, die sich politischen Einfluss an allen demokratischen Strukturen vorbei sicherte. Diese Zeit erlebten die Russen in ihrer Mehrheit als Fehlentwicklung, die sich auf keinen Fall wiederholen darf. Das bedeutet aber auch, dass sich die westliche Hoffnung, nach Wladimir Putin werde es einen Wandel in der Beziehung zum Westen geben, nicht erfüllen wird. Eine Wiederannäherung an den Westen, bei dem der Westen Russland erneut seine Regeln diktiert, ist nicht im Interesse der russischen Gesellschaft.
Zurück nach Deutschland: Im Rahmen der Wiedervereinigung wurde den Deutschen von den europäischen Partnern die Zustimmung zum Euro abgetrotzt. Der Euro sollte das wieder groß gewordene Deutschland vor allem wirtschaftspolitisch domestizieren. Man fürchtete eine deutsche Dominanz. Die Angst vor Deutschland war nicht vollständig verschwunden – aus gutem Grund, wie sich zeigen sollte. Denn was als Kontrollinstrument gegenüber Deutschland gedacht war, wurde zum Kontrollinstrument Deutschlands über den Euroraum. In einem machtpolitisch genialen, für die EU aber verheerenden Schachzug gelang es dem deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble im Rahmen der globalen Finanzkrise von 2008, den Euro zum deutschen Machtinstrument zu machen. Deutschland diktierte fortan seine Regeln. Die europäischen Nationalstaaten befanden sich untereinander in einer ökonomischen Konkurrenzsituation, während sie in einer gemeinsamen Währung gefangen waren.
Diese Situation konnte das wirtschaftlich starke Deutschland für sich nutzen. Seit der Finanzkrise wird in der EU wirtschaftspolitisch ausschließlich Deutsch gesprochen. Deutschland gelang es zudem, zahllose bedeutende Posten in der EU mit Deutschen oder Personen zu besetzen, die bereit sind, deutsche Politik zu exekutieren. Diese Ausdehnung deutscher Macht über den Euroraum und die EU ist erkauft mit dem Verzicht auf wirtschaftlichen Erfolg der EU. Das Wachstum in der EU und im Euroraum bleibt niedrig. Der Euroraum ist seit 2008 in einer permanenten Krise. Die neoliberalen Konzepte, auf deren Durchsetzung und Einhaltung Deutschland besteht, garantieren einerseits die Durchsetzung deutscher Machtinteressen innerhalb der Währungsunion. Andererseits koppeln sie den Euroraum von der weltweiten wirtschaftlichen Entwicklung ab.
Gleichzeitig ist die EU auf Expansion angelegt. Mit zunehmender Expansion wird ihr antirussischer Charakter deutlich. Die Expansion der EU richtet sich direkt gegen die Interessen Russlands. Die Erweiterungsrunden der EU sind der klar erkennbare Versuch einer russischen Eindämmung. Besonderes Augenmerk soll daher noch mal auf das EU-Assoziierungsabkommen gelegt werden, dessen Unterzeichnung der Präsident der Ukraine Wiktor Janukowitsch im Jahr 2013 ablehnte. Das EU-Assoziierungsabkommen stellte die Ukraine vor die Wahl, sich zwischen der EU einerseits und Russland andererseits entscheiden zu müssen. Die Verweigerung seiner Unterschrift war aus der Sicht Janukowitschs folgerichtig, denn auch wenig russlandfreundliche Politiker wie der ehemalige Außenminister der USA Henry Kissinger warnten vor dem Abkommen. Es würde die Ukraine mit ihren unterschiedlichen Ethnien zerreißen.
Dessen ungeachtet unterstützte die deutsche Regierung den Putsch gegen Janukowitsch. Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle und sein Nachfolger im Amt Frank-Walter Steinmeier besuchten den Maidan, versicherten den Demonstranten ihre Unterstützung und drängten Janukowitsch zum Rücktritt. Ein grober Verstoß gegen internationales Recht – eine unmittelbare Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine. Janukowitsch wurde schließlich weggeputscht, die ukrainische Übergangsregierung unter Arseni Jazenjuk unterzeichnete das Assoziierungsabkommen, die Krim spaltete sich ab, und im Osten der Ukraine brach ein Bürgerkrieg aus.
Diese Ereignisse hängen zusammen und sind eine Folge auch der deutschen Einmischung. Der Destabilisierungsversuch durch die USA hätte für sich allein mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu den Effekten geführt, die er dann mit deutscher Unterstützung hatte. Der sich daran anschließende Versuch der Vermittlung durch Russland, die Initiierung der Minsker Abkommen und die sich daraus ergebende Vereinbarung Minsk 2 wurden von den Garantiemächten Deutschland und Frankreich aktiv hintertrieben und sabotiert.
Zuletzt hielt Außenministerin Annalena Baerbock die Umsetzung von Minsk 2 für die Ukraine für nicht mehr zumutbar und verdeutlichte damit, dass Deutschland nichts gegen den Rückzug der Ukraine aus dem völkerrechtlich bindenden Abkommen unternehmen werde.
Der Beschuss der Volksrepubliken Donezk und Lugansk nahm ab Januar zu, ein Sturm der Ukraine deutete sich an. Die Ukraine drohte mit dem Bau einer schmutzigen Bombe. Die Anerkennung der Republiken und der Einmarsch war vor diesem Hintergrund folgerichtig und erwartbar. Wer aber vor diesem Hintergrund behauptet, der Krieg sei Putins Krieg, leugnet den Vorlauf. Für diesen Krieg tragen Deutschland und die deutsche Politik über Parteigrenzen hinweg eine zentrale Verantwortung. Es ist der ungebrochene Geist expansiven Denkens der deutschen Politik, der hier seine destruktive Wirkung in Europa entfaltet hat.
Jetzt verkündet die EU die schnelle Aufnahme nicht nur der Ukraine, sondern auch Moldawiens und Georgiens in das Bündnis. Damit würde sich die EU von einem Wirtschaftsbündnis deutlich sichtbar zu einem vorrangig geostrategischen Projekt wandeln, das die Einkreisung Russlands betreibt. Der deutschen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist die Erweiterung der EU eine Herzensangelegenheit. Wirtschaftspolitisch wäre die Aufnahme dieser Länder natürlich eine Kamikaze-Mission.
Zur Durchsetzung ihrer expansiven Fantasien ist von der Leyen bereit, sowohl den ohnehin schon sinkenden Wohlstand der EU als auch die “Werte” der EU zu opfern. Denn was Demokratie und Freiheitsrechte angeht, sind die genannten Staaten weit von den bisherigen Anforderungen an einen Beitrittsstaat entfernt. Allerdings zeigen aktuelle Vorhaben der EU vor allem im digitalen Bereich, dass auch die Kommission sich immer weniger den eigenen Werten verpflichtet fühlt.
Wichtig zu verstehen ist, dass unter zunehmender deutscher Einflussnahme sich auch die EU wandelte. Sie dient immer deutlicher der Durchsetzung deutscher geopolitischer Machtinteressen und wandelt sich von einer wirtschaftspolitischen Allianz zu einem offen antirussischen Staatenbündnis.
Umrahmt wird dieses antirussische Engagement der EU und Deutschlands von den NATO. Die Aufkündigung wichtiger Rüstungskontrollverträge durch die USA hat die Sicherheitsarchitektur in Europa zerstört. Das transatlantische Bündnis bedient sich dem im deutschen politischen Establishment existierenden antirussischen Sentiment.
Der Wille der deutschen Politik, über Parteigrenzen hinweg in der Ukraine bis zum letzten Ukrainer zu kämpfen, gekoppelt an die Bereitschaft, alle wirtschaftlichen und kulturellen Verbindungen zu Russland zu zerschlagen, ist deutlich sichtbar. In der Konfrontation sind wir wieder dort angelangt, wo Deutschland 1945 aufzuhören gezwungen worden war.
Schon jetzt ist absehbar, wohin das führen wird. Die Grenzen in Europa werden wieder verschoben und neu gezogen. Die Ukraine wird absehbar geteilt. Aber auch in anderen Regionen Europas nimmt man die Entwicklungen in der Ukraine zum Anlass, über neue Grenzen nachzudenken. Polen und Rumänien erheben Anspruch auf Teile der Ukraine. Bulgarien möchte sich Teile Nordmazedoniens aneignen, in Bosnien-Herzegowina und anderen vormals jugoslawischen Republiken brechen Konflikte wieder auf und drohen auch dort die Region neu zu ordnen.
Für Europa als Ganzes wäre es aber vermutlich sinnvoll, im Rahmen einer neu zu entwickelnden Sicherheitsarchitektur für Europa über eine erneute Teilung oder zumindest umfassende Einhegung Deutschlands nachzudenken. Die letzten drei Dekaden haben deutlich gemacht, dass Deutschland, dem eine Rückkehr zur Größe erlaubt worden war, mit dieser Größe nicht verantwortungsvoll umzugehen in der Lage ist. Es fehlt dazu ebenso an historischem Bewusstsein wie auch beim aktuellen Personal an diplomatischer Kompetenz.
Die deutschen Großmachtfantasien existieren im deutschen politischen Establishment bis heute ungebrochen und stellen eine Gefahr für den Frieden in Europa dar. Seine wirtschaftliche und politische Macht hat Deutschland nicht zur Entwicklung von Frieden und Zusammenhalt in Europa genutzt, sondern das Land hat erneut eine konfrontative, aggressive Politik zu verantworten, die zu Krieg geführt hat und absehbar zu einer erneuten Teilung des Kontinents führen wird.
Eine Erkenntnis, die Europa aus der Ukraine-Krise zu ziehen hat, ist, dass Europa mit einem geteilten Deutschland in seiner Mitte friedlicher lebt, bei dem die einzelnen Teile Deutschlands in wirtschaftlicher und politischer Konkurrenz zueinander stehen. So werden die destruktiven Kräfte Deutschlands dauerhaft und effektiv gebunden. Vermutlich steht daher die erneute Teilung Deutschlands tatsächlich am Ende dieser Entwicklung, die mit der Wiedervereinigung ihren Anfang genommen hat.
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