Von Geworg Mirsajan
“Der Krieg ist der Weg der Täuschung.” Diese Ermahnung des chinesischen Militärtheoretikers Sun Tzu hat alle berühmten Feldherren geleitet (auch wenn sie sich der Existenz von Sun Tzu nicht bewusstwaren). Die List – oder, um es geschickt auszudrücken, die Schaffung von strategischer Unsicherheit – ist ein entscheidendes Element der Kriegsführung, mit dem man sich zur richtigen Zeit und am richtigen Ort einen Vorteil verschaffen kann.
In der Tat, die Geschichten mit der Täuschung benötigen oft viel Zeit. Ein Teil der “Täuschungen” ist in erster Linie strategischer Natur und zielt darauf ab, sich einen langfristigen Vorteil zu verschaffen – allerdings hat es Russland nicht mehr eilig. Die Verabschiedung des Verteidigungszustandes vom 19. Oktober in vier Regionen Russlands und der erhöhten Bereitschaft in den angrenzenden Regionen sowie die Einsetzung eines speziellen Koordinationsausschusses im Ministerkabinett, der sich mit der militärischen Spezialoperation befassen soll, zeigen die Bereitschaft Moskaus, lange und bis zum Ende zu kämpfen – bis zum Sieg. Und für einen Sieg mit minimalen Verlusten ist es einfach notwendig, strategische Ungewissheiten zu schaffen. Die Schaffung einer gemeinsamen russisch-weißrussischen Militäreinheit auf dem Territorium Weißrusslands ist gerade eine solche Ungewissheit.
Die weißrussischen Truppen bilden den Löwenanteil der Militäreinheit, jedoch ist auch ein bedeutendes russisches Kontingent vorgesehen. Zurzeit ist die Rede von 9.000 russischen Soldaten mit Ausrüstung (bis zu 170 Panzer, bis zu 200 gepanzerte Kampffahrzeuge und bis zu 100 Geschütze). Zudem, so die Vertreter von Minsk, könne die Zahl der russischen Truppen “falls erforderlich” erhöht werden.
Das formale Ziel der russisch-weißrussischen Militäreinheit ist der Schutz des Territoriums des Unionsstaates (in diesem Fall also von Weißrussland) vor äußeren Bedrohungen. “Die Situation um die Republik herum bleibt angespannt. Die NATO-Führung erwägt in diesem Zusammenhang ganz offen die Möglichkeit eines Angriffs auf Weißrussland. Aufgrund der Verschärfung der Lage an den westlichen Grenzen des Unionsstaates haben wir vereinbart, eine regionale Militäreinheit aus Russland und der Republik Weißrussland aufzustellen”, sagte Präsident Alexander Lukaschenko.
Das Ausmaß der Bedrohungen entspricht jedoch offensichtlich nicht den getroffenen Maßnahmen. Beide, die NATO generell und Polen insbesondere, sorgen für gewisse Spannungen an den Grenzen zu Weißrussland – doch haben sie nicht vor, dort einzumarschieren. Zumindest wegen des russischen nuklearen Schutzschirms. Warum also schickt Moskau in dieser unklaren Bedrohungslage 10.000 Mann nach Weißrussland, die an der Front, wo heute jeder Soldat wertvoll ist, viel besser eingesetzt werden könnten?
Man darf annehmen, dass der Zweck der Aufstellung der russisch-weißrussischen Militäreinheit ein anderer ist. Die Frage ist nur, welcher? In der Sprache der chinesischen Strategeme (Klassifizierung militärischer Listen) könnte es sich um das Strategem Nr. 2, “Belagerung von Wei zur Rettung von Zhao”, oder das Strategem Nr. 32, “Leere Stadt”, handeln.
Strategem Nr. 2 beinhaltet einen Angriff dort, wo man ihn nicht erwartet. In diesem Fall von Norden. Während alle kampfbereiten ukrainischen Streitkräfte im Süden beschäftigt sind (und sich auf eine Offensive in Cherson sowie auf die anschließende Abwehr eines russischen Truppenaufmarsches in Nikolajew oder Saporoschje vorbereiten), könnte sich Russland zusammen mit Weißrussland auf einen Angriff im Norden der Ukraine vorbereiten. Entweder auf einen Flankenangriff russischer Truppen auf Charkow oder auf die eigenständige Besetzung derselben Region Tschernigow oder gar auf einen Marsch nach Kiew (auch als Ablenkungsmanöver, damit die ukrainischen Streitkräfte aus der südlichen Richtung abgezogen werden). Zumindest wird dies in Kiew selbst gesagt.
Tatsächlich hat die Armee Weißrusslands eine Friedenszeiten entsprechende Größe (etwas mehr als 40.000 Mann), und das reicht nicht für eine ernsthafte Invasion in der Ukraine, geschweige denn für Operationen zur Einnahme Kiews. Doch die Militärangehörigen der Ukraine sind davon überzeugt, dass in Weißrussland eine Mobilisierung stattfindet. “Unter dem Deckmantel militärischer Schulungen finden in Weißrussland verdeckte Aktivitäten zur Mobilisierung statt. Den verfügbaren Informationen zufolge gibt es Veranstaltungen zur Ausbildung von Operateuren von Flugabwehrraketensystemen und Panzerbesatzungen”, heißt es im ukrainischen Generalstab.
In Minsk dementiert man diese Angaben – stellt aber klar, dass die Option der Mobilisierung nicht ausgeschlossen sei und man sich nur organisatorisch darauf vorbereiten wolle. “Man muss halt in jeder Gegend, ohne viel Sturm und Drang. So, wie ich es euch aufgetragen habe. Sobald die Erntekampagne zu Ende ist, sollten wir die Menschen in den Bezirken behutsam anrufen, ihre Verfügbarkeit prüfen und alle unsere Materialien, Listen und Dokumente bei den Rekrutierungsbüros überprüfen”, sagte Lukaschenko.
So ist es, die weißrussische Bevölkerung will nicht in den Konflikt verwickelt werden, wobei das sowohl für die westlichen Nationalisten (die mit ihren unvernünftigen Brüdern in Kiew sympathisieren) als auch für die Anhänger Lukaschenkos (die die Bedrohung durch die Maidan-Ukraine begreifen, jedoch aus Gewohnheit diese Bedrohung lieber durch Russland beseitigt sehen) gilt. Lukaschenko selbst hat allerdings wiederholt gemahnt, dass im Falle eines Angriffs der Ukraine auf Weißrussland die härtesten Maßnahmen ergriffen würden.
Dabei könnte als “Angriff” einfach alles in Frage kommen – angefangen von einem ukrainischen Überfall auf einige russische Soldaten auf weißrussischem Hoheitsgebiet bis hin zur Eigeninitiative weißrussischer Nationalisten, die mit Kiew verbündet sind (insbesondere diejenigen, die in der Ukraine als Teil des sogenannten Kastus-Kalinowski-Regiment kämpfen). Schließlich kann Lukaschenko seinen Truppen den Befehl zur Intervention erteilen, wenn Polen eine Invasion in der Ukraine einleitet.
In einer solchen Situation könnte Minsk versuchen, die Kontrolle über die nordwestlichen Regionen der Ukraine zu übernehmen, um der polnischen Armee den Weg nach Kiew abzuschneiden. Diese letzte Option ist jedoch nach wie vor unwahrscheinlich – das Einrücken polnischer Truppen wird höchstwahrscheinlich erst dann erfolgen, wenn das Regime in Kiew bereits vollständig zusammengebrochen ist.
Bei Strategem 32 geht es um Täuschung in ihrer reinsten Form. Das bedeutet, ein großes (wenn auch nicht maximales) Ergebnis mit möglichst geringen Kosten zu erzielen. Einst, im alten China, näherte sich eine große Armee einer Stadt. Der General sah ein seltsames Bild: Die Stadttore standen weit offen, es gab keine Wachen und keine Fahnen, und auf der Mauer saß der berühmte und äußerst gerissene chinesische Stratege Zhuge Liang. Letztendlich entschied sich der General, die Stadt nicht zu stürmen – aus Angst, dass der gerissene Zhuge Liang eine Falle gestellt hatte, die der General nicht verstehen konnte.
Tatsächlich bestand die Falle darin, dass es keine gab. Zhuge Liang hatte keine Truppen, um die Stadt zu verteidigen, und so nutzte er die Angst seines Gegners vor einer möglichen Falle und seine gute Reputation ganz einfach aus.
Die Kräfte Moskaus konzentrieren sich jetzt im Donbass und im Süden, in den Gebieten, die relativ weit von Kiew entfernt sind. Minsk hat auf der anderen Seite keine besonders große Lust, sich an einer offensiven Operation gegen Kiew zu beteiligen. Doch beide Akteure haben den Wunsch, die Möglichkeit einer Offensive zu demonstrieren, und auch die Reputation, die die Fähigkeit bestätigt, kluge und unerwartete Schritte zu unternehmen. Und all das wird genutzt, um so viele ukrainische Truppen wie möglich in den Norden der Ukraine zu bringen – weg von der südlichen und südöstlicher Frontlinie.
Hat das Strategem Nr. 32 in der Realität Weißrusslands eine Anwendung? Auf jeden Fall wird es aufgehen. Sollte Kiew auf die List hereinfallen, würde es seine Truppen verlagern. Und falls es das nicht tut, falls es die Ansammlung russisch-weißrussischer Truppen an der Grenze nicht beachtet, dann könnten Moskau und Minsk das Strategem Nr. 2 zur Anwendung bringen und zuschlagen.
Übersetzt aus dem Russischen.
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