Von Anton Gentzen
Es kommt nicht oft vor, dass man als Sterblicher einen so tiefen Einblick hinter die Kulissen und abseits der Sonntagsreden und Kameras in die sonst vertraulichen Gespräche der “hohen Politik” bekommt. Nun hat die französische Seite ein Wortprotokoll jenes dereinst historischen Telefonats veröffentlicht, das in einem schicksalhaften Moment geführt wurde. Vier Tage vor Beginn der russischen militärischen Intervention in der Ukraine telefonierte der französische Präsident Emmanuel Macron, sekundiert von gleich vier Beratern, immerhin neun Minuten lang mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, den er wohl in einer Eishalle kurz vor einem Eishockey-Spiel erreichen konnte.
Wer nun allerdings etwas Sensationelles oder gar Peinliches erwartet, eine Bloßstellung des russischen Staatschefs, oder die Aufdeckung eines perfiden Spiels, wird enttäuscht sein: Putin sagt auch in diesem Telefonat das, was er auch öffentlich stets und immer wieder gesagt hat. Er sagt das, was die russische Seite, vom Präsidenten über den Außenminister bis zum einfachen Journalisten, acht Jahre lang versucht hatte, dem Westen zu erklären und gut verdaulich vorzukauen. Eine klare und konsequente Linie, die leider bis zuletzt nicht verstanden wurde, was gewiss nicht am mangelnden Kommunikationswillen lag.
Der Leser soll selbst einen Eindruck gewinnen. Deshalb geben wir das Gespräch nachfolgend nahezu vollständig wieder und werden es nur an wenigen Stellen für einige Kommentare unterbrechen. Die hier abgedruckte Version ist die nichtamtliche Übersetzung eines Vorababdrucks der Veröffentlichung durch Le Figaro. Die Ausstrahlung ist für den 30. Juni im Sender France 2 geplant.
Lassen wir nun also die Präsidenten selbst zu Wort kommen …
Emmanuel Macron:
“Seit unserem letzten Gespräch haben die Spannungen zugenommen, und du kennst mein Engagement und meine Entschlossenheit, den Dialog fortzusetzen. Ich möchte, dass du mir zunächst sagst, wie du die Situation einschätzt und vielleicht – wie wir beide es tun – recht direkt, was deine Absichten sind. Und dann wollte ich versuchen zu sehen, ob es noch sinnvolle Aktionen gibt, die durchgeführt werden können, und [wollte] dir einige Vorschläge machen.”
Wladimir Putin:
“Was soll ich sagen? Du siehst doch selbst, was geschieht. Du und Bundeskanzler Scholz haben mir gesagt, Selenskij sei bereit, etwas zu tun, dass er einen Gesetzesentwurf zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen vorbereitet habe. (…) In Wirklichkeit tut unser lieber Kollege Selenskij nichts. Er belügt euch. (…) Ich weiß nicht, ob du gestern seine Erklärung gehört hast, in der er sagt, dass die Ukraine Zugang zu Atomwaffen haben muss.”
Es schaltet sich einer der vier anwesenden Berater des französischen Präsidenten dazwischen, nämlich der diplomatische Berater Emmanuel Bonne:
“Nein, das ist Unsinn.”
So, so, das sollte also Unsinn sein? Offensichtlich ist das Problem in Frankreich mit inkompetenten Beratern nicht geringer als dasselbe Problem in Deutschland mit einer gewissen Inkompetenz mancher Berater der Bundesregierung. Dass Selenskij diese Ankündigung auf der Münchener Sicherheitskonferenz tatsächlich gemacht (und dafür sogar Applaus der Anwesenden erhalten) hatte, wurde auch von RT DE noch am selben Tag berichtet. Und es wurde besonders Uneinsichtigen oder Unwissenden einige Tage später nochmals haarklein erläutert.
Putin überhört den Affront des Macron-Beraters geflissentlich und richtet sich wieder an Macron selbst:
“Ich habe auch deine Kommentare auf der Pressekonferenz in Kiew am 8. Februar gehört. Du sagtest, dass das Minsker Abkommen überarbeitet werden müsse– Zitat: ‘damit es durchsetzbar ist’.”
Der französische Präsident, wohlwissend, dass Russland nicht bereit ist, die im Donbass ohnehin wenig beliebten Minsker Verträge durch irgendwelche Nachverhandlungen noch weiter zugunsten der ukrainischen Führung umzuschreiben, streitet es ab:
“Wladimir, zunächst eine Sache: Ich habe nie gesagt, dass die Minsker Vereinbarungen revidiert werden müssen. Ich habe das nie gesagt, weder in Berlin, noch in Kiew, noch in Paris. Ich habe gesagt, dass sie umgesetzt werden müssen, dass man sich an die Dinge halten muss, und ich sehe die letzten Tage anders als du.”
Putin fährt fort, und zwar mit der Gretchenfrage, die der Mehrzahl der Russen und der Hälfte der Ukrainer sieben Jahre lang auf der Zunge lag:
“Hör zu, Emmanuel, ich verstehe euer Problem mit den Separatisten nicht. Zumindest haben sie auf unser Drängen hin alles Notwendige getan, um einen konstruktiven Dialog mit den ukrainischen Behörden zu ermöglichen.”
Nun zettelt Macron eine Diskussion um die Auslegung der Minsker Verträge an:
“Zu dem, was du gesagt hast, Wladimir, gibt es mehrere Anmerkungen: Erstens, das Minsker Abkommen ist ein Dialog mit euch, da hast du vollkommen Recht. In diesem Zusammenhang ist es nicht vorgesehen, dass die Grundlage der Diskussion ein von den Separatisten vorgelegter Text ist. Und wenn dein Unterhändler also versucht, den Ukrainern aufzuzwingen, auf der Grundlage von Fahrplänen der Separatisten zu diskutieren, hält er sich nicht an die Minsker Vereinbarungen. Es sind nicht die Separatisten, die Vorschläge zu ukrainischen Gesetzen machen werden!”
Das ist schon ein sehr merkwürdiges Verständnis von Demokratie, das Staatsbürgern (die die Separatisten ja nach Auffassung des Mutterstaates sind) verwehrt, in den von Minsk II geforderten direkten Verhandlungen mit ihnen auch Vorschläge einbringen zu dürfen. Und dann legt der “Demokrat” Macron noch nach:
“Und ich weiß nicht, welcher Jurist dir sagen kann, dass in einem souveränen Land die Gesetzestexte von separatistischen Gruppen und nicht von den demokratisch gewählten Behörden vorgeschlagen werden. (…) Wo hat dein Jurist Recht studiert?”
Ob mit dieser Attitüde und ohne jeglichen Dialog mit Separatisten wohl jemals das Karfreitagsabkommen in Nordirland zustande gekommen oder die Baskenfrage in Spanien gelöst worden wäre? Wohl kaum. Aber was erwarten wir von einem französischen Präsidenten? Frankreich muss seine Erfahrungen im zivilisierten Umgang mit ethnischen Minderheiten erst noch machen, wie man unter anderem an Korsika sieht.
Putin, der es wohl leid ist, seinem europäischen Kollegen Selbstverständlichkeiten zu erklären, wechselt im Tonfall, was das französische Protokoll akribisch festhält:
Wladimir Putin (fester, genervter Ton):
“Das ist keine demokratisch gewählte Regierung [in Kiew]. Sie sind durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen, Menschen wurden bei lebendigem Leib verbrannt, es war ein Blutbad, und Selenskij ist einer der Verantwortlichen.
Hör mir gut zu: Das Prinzip des Dialogs besteht darin, die Interessen der anderen Seite zu berücksichtigen. Es gibt Vorschläge, die Separatisten – wie du sie nennst – haben sie den Ukrainern unterbreitet, haben aber keine Antwort erhalten. Wo ist der Dialog?”
Wo immer der Dialog der Ukrainer mit den “Separatisten” ist, der “Dialog” des russischen Präsidenten dreht sich – wie wahrscheinlich zuvor mit all seinen westlichen Amtskollegen schon gefühlt tausendfach – auch hier wieder im Kreis.
Macron:
“Aber wie ich bereits sagte, ist es uns egal, was die Separatisten vorschlagen. Was wir von ihnen verlangen, ist, dass sie auf die Texte der Ukrainer reagieren, und das müssen wir tun, weil es das Gesetz ist! Das, was du gerade gesagt hast, stellt deinen eigenen Willen, das Minsker Abkommen einzuhalten, infrage, wenn du der Meinung bist, dass du es mit nicht legitimen und terroristischen Machthabern zu tun hast.”
Wladimir Putin (laut französischem Protokoll “immer noch sehr genervt“):
“Hör mir gut zu! Hörst du mir zu? Ich sage es dir noch einmal: Die Separatisten, wie du sie nennst, haben auf die Vorschläge der ukrainischen Behörden reagiert. Sie haben geantwortet, aber dieselben Behörden sind nicht darauf eingegangen.”
Macron versucht nun, konstruktiv zu antworten, und schlägt ein Treffen der Minsker Kontaktgruppe “auf der Grundlage der Antwort der Separatisten” vor:
“Ich werde dies nun von Selenskij verlangen. Sind wir uns darüber einig? Wenn wir uns einig sind, leite ich es in die Wege und verlange ein Treffen gleich morgen.”
Der russische Präsident sagt zu, bleibt aber angesichts der Erfahrungen von sieben Jahren skeptisch:
“Also um ganz klar zu sein: Sobald wir aufgelegt haben, werde ich diese Vorschläge prüfen. Aber von Anfang an hätte man Druck auf die Ukrainer ausüben müssen, aber niemand wollte das tun.”
Emmanuel Macron:
“Aber doch! Ich tue das Maximum, um sie zu drängen, das weißt du bestens.”
Wladimir Putin:
“Ich weiß, aber leider ohne Erfolg.”
Macron (laut Protokollvermerk “schelmisch“):
“Du musst mir ein bisschen helfen.”
Was dann folgt, ist ein Austausch über die Lage an der Frontlinie im Donbass und an der russisch-ukrainischen Grenze. Macron will wissen, ob die russisch-weißrussischen Manöver wie geplant am selben Abend enden werden. Putin antwortet:
“Ja, wahrscheinlich heute Abend, aber wir werden auf jeden Fall eine Militärpräsenz an der Grenze belassen, solange sich die Lage im Donbass nicht beruhigt hat. Die Diskussion wird in Absprache mit dem Verteidigungs- und dem Außenministerium geführt werden.”
Der französische Staatschef versucht nun, den russischen Präsidenten zu einem weiteren Treffen mit dem US-Präsidenten Joe Biden, das er vermitteln könne, zu motivieren. Dort könne auch besprochen werden, wie man “die Frage der Ukraine und der NATO sehr klar” ansprechen kann. Putin antwortet darauf – und man spürt auch ohne jeden Protokollvermerk den müden Sarkasmus:
“Vielen Dank, Emmanuel. Es ist mir immer ein großes Vergnügen und eine große Ehre, mit deinen europäischen Amtskollegen sowie mit den Vereinigten Staaten zu sprechen. Und es ist mir immer eine große Freude, mit dir einen Dialog zu führen, weil wir in einer vertrauensvollen Beziehung zueinander stehen.”
Macron möge jedoch, ergänzt Putin, dieses Mal einfach den Spieß umdrehen: Zuerst die konkreten Versprechen der US-Amerikaner, dann ein Treffen. Hätte der russische Staatschef sich ohne diese Vorbedingung auf ein weiteres Treffen mit Joe Biden eingelassen, hätte er Macron nicht einmal die sprichwörtliche Katze im Sack abgekauft: Bei der Katze namens Biden war längst offensichtlich, dass sie in diesem Kontext tot ist.
Putin findet einen Weg, das sinnlos erscheinende Gespräch zu beenden:
“Um dir nichts zu verheimlichen, ich wollte jetzt Eishockey spielen gehen, ich telefoniere aus der Sporthalle mit dir, bevor ich mit den körperlichen Übungen beginne. Ich rufe erst meine Berater an.”
Nun, man kann es dem russischen Präsidenten kaum verübeln: Zur Lösung von Staatskonflikten und Wahrung des Weltfriedens trägt ein Hockeyspiel jedenfalls nicht weniger als ein Telefonat beliebiger Länge mit dem französischen Präsidenten bei. Ersteres macht nur deutlich mehr Spaß.
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