Von Dagmar Henn
Der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius hat sie losgetreten, und jetzt läuft sie wieder einmal – die Debatte um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland. Dabei wird ein Großteil der echten Argumente dagegen sogar auf den Tisch gelegt, wenn auch unvollständig.
Die Entscheidung im Jahr 2011, die Wehrpflicht abzuschaffen, hatte vor allem zwei Gründe: Wehrpflichtige sind für die allermeisten Aufgaben nicht zu gebrauchen, weil das Erlernen moderner Waffensysteme zu lange dauert, und die Bundeswehr hatte nicht mehr viel mit Landesverteidigung zu tun, sondern hatte sich zu einer kolonialen Interventionsarmee entwickelt, und Wehrpflichtige konnte man dazu nicht zwingen.
Die technische Komplexität hat zu einem Zustand geführt, der zuletzt im Mittelalter vor der Erfindung panzerbrechender Waffen herrschte, als Ritter die Schlachtfelder beherrschten, die jahrelang ausgebildete Kriegsspezialisten mit für damalige Verhältnisse sehr teurer Ausrüstung waren. Nach der Erfindung von Schusswaffen begann dann die große Zeit der Infanterie und damit der Landsknechtstruppen und später der Zwangsverpflichtung; wie sich im Verlauf der letzten zweihundert Jahre herausstellte, für die jeweils Herrschenden ein zweischneidiges Schwert.
Inzwischen sind die genutzten Maschinen so kompliziert, dass es oft nicht Monate, sondern Jahre benötigt, bis sie beherrscht werden. Wenn man versuchen wollte, eine zukünftige Entwicklung vorherzusehen, geht die Tendenz eher in Richtung zunehmender Automatisierung mit Robotern und Drohnen als in Richtung einer Rückkehr der Millionenheere.
Aber die Entdeckung, ausgerechnet Russland gegenüber unterlegen zu sein, die doch langsam durchsickert, und die Tatsache, dass das vorhandene Militär weder quantitativ noch qualitativ bei einer Auseinandersetzung der Intensität, wie sie gerade in der Ukraine stattfindet, mitschnabeln könnte, scheint eine Art Phantomschmerz auszulösen, der durch eine solche Debatte betäubt werden muss.
Die Fakten sind eindeutig – eine Wiedereinführung ist nicht machbar, weil sie auf jeden Fall ungeheure Ressourcen verschlingen würde. Viele der ehemaligen Kasernengrundstücke sind verkauft, es bräuchte also völlig neue Grundstücke und Gebäude; das Verwaltungspersonal, das Wehrersatzämter bestücken könnte, ist nicht mehr vorhanden, ebensowenig die erforderlichen Ausbilder, die jetzt schon zum Zwecke der Ausbildung an den vorhandenen Panzern zwischen Standorten hin- und hergeschoben werden.
Dass die FDP in dieser Frage gespalten ist, deutet auf noch ein weiteres Problem: Die jungen Leute, die in der Bundeswehr verschwinden, stehen in dieser Zeit nicht als Arbeitskräfte zur Verfügung. Deshalb ist zwar die Verteidigungspolitikerin Strack-Zimmermann, wenn auch vorsichtig, für eine Wiedereinführung, FDP-Chef Lindner aber dagegen.
Eines der Argumente des Jahres 2011 war die “Wehrgerechtigkeit”. Seinerzeit wurde nicht mehr die ganze männliche Jahrgangsgruppe eingezogen, wie das einmal der Fall war, sondern nur noch ein Bruchteil, sodass es Teile gab, die weder Wehr- noch Zivildienst leisten mussten, weil das Los eben nicht auf sie gefallen war. Heute würde eine Wiedereinführung auch die Frauen betreffen, weil eine Wehrpflicht nur für Männer ein verfassungsrechtliches Problem wäre; für eine Wehrpflicht für Frauen bräuchte es aber eine Verfassungsänderung, also eine Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag.
Kurz gesagt, ein solcher Plan würde sich in einen finanziellen und organisatorischen Albtraum verwandeln, der bei der jetzigen Bundesregierung garantiert im Chaos enden würde. Und es wäre dennoch nutzlos, so sie sich ernstlich von Russland bedroht fühlten, denn um ein entsprechendes Niveau zu erreichen, vergingen viele Jahre. Die entsprechenden Ressourcen wären weitaus sinnvoller in Bemühungen investiert, die Beziehungen zu Russland wieder zu verbessern.
Es gibt allerdings zwei Punkte, die sich hinter der Debatte verbergen könnten. Der erste ist, dass sich herausgestellt hat, dass weit weniger Deutsche daran interessiert sind, sich bei der Bundeswehr zu verpflichten, als ursprünglich erwartet worden war; was auch in etwa die Sympathie wiedergibt, mit der die Deutschen die Kolonialkriege betrachteten, in die sich ihre Regierung so gern stürzte. Mag sein, sie hegen die Hoffnung, mehr Erfolg bei der Personalwerbung zu haben, wenn jetzt mit viel Tremolo in der Stimme bedauert wird, selbst zur Landesverteidigung (der einzigen verfassungsgemäßen Aufgabe der Bundeswehr) stünden nicht genug Soldaten zur Verfügung. Dann wäre die ganze Diskussion ein opportunistischer Versuch, aus der ununterbrochenen antirussischen Propaganda etwas Honig für die Personalsituation der Bundeswehr zu saugen.
Oder aber es geht um eine Art Notfallplanung für den Fall einer größeren ökonomischen Katastrophe, bei der man gern auf einen Zwangsdienst zurückgreifen können würde. Denn wenn das Argument, die Arbeitskräfte fehlten, entfällt, dürften die Karten neu gemischt werden; vor allem, wenn auf diese Weise die Jugend beschäftigt gehalten und womöglich das Pflegeproblem gleich mit gelöst werden könnte. In diesem Fall wäre es von Vorteil, wenn schon zuvor eine entsprechende Debatte geführt worden wäre, um die Bevölkerung an den Gedanken zu gewöhnen.
Kolonialtruppen jedenfalls werden in naher Zukunft nicht mehr gebraucht. Die französischen werden gerade aus Afrika rausgekegelt, und kaum eines der Länder, die sich derzeit in Richtung BRICS orientieren, dürfte ein stärkeres Verlangen nach einer westlichen Interventionsarmee verspüren. Diese Zeit geht gerade zu Ende. Was selbstverständlich bedeutet, dass eine entsprechend orientierte Armee nur noch schwer zu legitimieren ist. Auch in dieser Hinsicht mag die Debatte vorsorglich betrieben werden.
Die einzige militärische Aufgabe, die sich der Bundeswehr im Sinne der Landesverteidigung stellen würde, ist eine, die in der gesamten Debatte nicht einmal gedacht werden darf – die Entfernung der US-Truppen von deutschem Boden. Das wäre eigentlich seit Nord Stream eine Aufgabe, die anstünde, und dafür würde sogar die heutige Bundeswehr quantitativ genügen; aber dazu bräuchte man einen etwas klareren Blick auf die Frage der Souveränität und des nationalen Interesses, als die heutige Bundespolitik ihn haben will.
Und dann müsste man ganz von vorne eine Debatte führen, ob es eine Armee zur Landesverteidigung braucht, gegen wen, und wie sie gegebenenfalls aussehen müsste. Eine Frage, zu der die heutige Bundeswehr weder in ihrem augenblicklichen noch in einem durch eine erneuerte Wehrpflicht aufgeblasenen Zustand etwas beitragen könnte.
In den Köpfen der aktuellen Politiker aber spukt höchstens der Gedanke herum, wenn man schon gegen Russland gescheitert ist, könne man es doch wenigstens gegen China nochmal versuchen.
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