Von Wladimir Nagirnjak
Am Tag des Sieges, dem 9. Mai 1945, war die Berlin-Offensive bereits eine Woche zuvor abgeschlossen worden, aber eine andere große Operation war in vollem Gange. Sie war nicht mehr rein militärischer, sondern vor allem medizinischer Natur: Sowjetische Militärsanitäter kämpften darum, dass sich gefährliche Krankheiten, darunter die Pest, nicht auf Millionen von Einwohnern der Stadt ausbreiten würden.
Die Einnahme Berlins war die letzte Etappe im Großen Vaterländischen Krieg. In zweiwöchigen Kämpfen gelang es den sowjetischen Soldaten, die deutsche Hauptstadt einzunehmen und dem Nazi-Staat ein Ende zu setzen. Es gibt noch immer wenig bekannte Seiten der Berlin-Operation. Eine davon ist die Arbeit der sowjetischen Militärärzte.
Sowohl bei der Vorbereitung des Sturms als auch während der Offensive lag die gesamte Kontrolle und Organisation der medizinischen Unterstützung der Truppen in den Händen des stellvertretenden Leiters der Militär- und Sanitätsabteilung der 1. Weißrussischen Front, Generalmajor des Sanitätsdienstes Roman Pljakin. Unter seiner Führung retteten sowjetische Militärärzte vielen Soldaten der Roten Armee das Leben.
Aber nicht nur ihnen. Auch die damaligen Feinde verdankten den sowjetischen Sanitätern das Leben und die Gesundheit, die verwundeten Soldaten der Wehrmacht und auch die deutsche Bevölkerung einschließlich der Einwohner der Hauptstadt.
Seuchenprävention und frontnahe Behandlungen
Zur Vorbereitung der Einnahme der deutschen Hauptstadt leistete der Sanitätsdienst der 1. Weißrussischen Front umfangreiche Vorarbeiten. Im Rahmen der Seuchenaufklärung wurden 2.287 Siedlungen inspiziert, mehr als zweitausend Brunnen wurden gechlort und gereinigt. Die sanitäre Behandlung der Truppen, der sich jeder Rotarmist bis zu dreimal im Monat unterziehen musste, führte zu einem starken Rückgang des Läusebefalls. Zum Beginn der Offensive war das Frontpersonal zu 90 Prozent gegen Darminfektionen geimpft und alle Einheiten waren mit Medikamenten gegen Ruhr und Malaria ausgestattet. Berlin sollte also von gesunden Soldaten und Offizieren eingenommen werden.
Es ist allgemein bekannt, dass die sanitären Verhältnisse bis zu 70 Prozent der Gesamtverluste einer Militäroperation bewirken können. In Anbetracht dieser Situation kamen die Sanitäter der 1. Weißrussischen Front zu dem Schluss, dass bei den bescheidensten Berechnungen nicht weniger als 100.000 verwundete Kämpfer und Kommandeure durch ihre Hände gehen würden. Obwohl sich diese Prognose als Unterschätzung erwies, schufen der Erfolg auf dem Schlachtfeld und mehr noch die vollständige Niederlage des Feindes gute Voraussetzungen für eine zuversichtliche Arbeit der Sanitätsdienste. Diese Bedingungen wurden während des Sturms auf Berlin geschaffen und erlaubten es den sowjetischen Sanitätern, die medizinischen Einrichtungen so nah wie möglich an die Truppen heranzuführen und sie mit qualifizierter medizinischer Hilfe im Bereich der Kampfhandlungen zu versorgen. Einschließlich Chirurgie und Bluttransfusionen.
Die sanitären Verluste der 1. Weißrussischen Front bei der Operation in Berlin beliefen sich auf 141.479 Mann, von denen 89 Prozent im Kampf verwundet wurden. Eine große Anzahl von Rotarmisten wurde zu Beginn der Operation verwundet, als die Truppen nach Berlin durchbrachen.
Die Hauptursache für Verwundungen in diesen Kämpfen waren Artillerie- und Mörserbeschuss sowie Minenfelder. In der Stadt selbst änderte sich jedoch die Art der Verwundungen. In den Straßenkämpfen erlitten die Sturmtruppen Verluste durch Steinsplitter, Stahlbeton, Granaten und Beschuss aus Feuerwaffen.
Pfleger und Chirurgen
Ein wichtiger Indikator für die gute Arbeit der sowjetischen Sanitäter während der Eroberung Berlins war der erhebliche Rückgang der Selbsthilfe und der gegenseitigen Hilfe unter den Rotarmisten bei Verwundungen. Dank der vollständigen Besetzung der Sanitätskompanien und -bataillone in den Kampfverbänden wurde die Erste Hilfe auf dem Schlachtfeld in den allermeisten Fällen von Sanitätsausbildern und Sanitätern geleistet. Interessanterweise wurden die Verwundeten während der Straßenkämpfe kaum mit den üblichen Regenponchos und Schleppen abtransportiert, sondern auf Krankentragen oder mit Hundeschlitten. So konnten die vierbeinigen Freunde des Menschen in Berlin viele Soldaten und Kommandeure retten.
Besondere Erwähnung bei der Berlin-Operation verdient die sowjetische Militärfeldchirurgie. Bis zu 73,6 Prozent der Verwundeten wurden direkt vor Ort operiert und aktiv behandelt, was bei keiner vorherigen sowjetischen Offensivoperation gegeben hatte.
Die sowjetischen Militärsanitäter hatten auch zuvor versucht, alle Arten der Versorgung so nah wie möglich an den Truppen im Einsatz durchzuführen. Dies geschah jedoch nicht in dem Ausmaß und zu der Anzahl wie in Berlin. Die Lazarettpunkte wurden am Rande der Frontkrankenhäuser eingerichtet. Dort wurden auch Operationen und Behandlungen durchgeführt, die bisher nur tief im Hinterland durchgeführt werden konnten.
Ein Indikator für die Qualität der sowjetischen Sanitätsdienste in Berlin war der hohe Prozentsatz der Soldaten und Kommandeure, die aus den Krankenhäusern in den aktiven Dienst zurückkehrten. Nach Angaben von General Pljakin erholten sich zwischen dem 15. April und dem 15. Mai 1945 von 140.000 Verwundeten und Erkrankten der 1. Weißrussischen Front 50.551 Mann. Zum 1. August 1945 wurden bereits 102.950 Personen wieder einsatzfähig, das heißt 73 Prozent der Gesamtzahl der Sanitätsverluste an der Front während des Sturms auf Berlin. Nach dem 1. August betrug die Anzahl der wieder einsatzfähigen Soldaten 80 Prozent.
Kampf um die Gesundheit des besiegten Deutschlands
Wie bereits erwähnt, gelang es den sowjetischen Sanitätern, die epidemischen Krankheiten in der Truppe unter Kontrolle zu halten. Bei der Einnahme Berlins erkrankten nur 260 Rotarmisten an Ruhr, Flecktyphus und Unterleibstyphus. Aber wenn Epidemien während der Kämpfe vermieden wurden, musste sich der Sanitätsdienst der 1. Weißrussischen Front nach dem Sieg auch mit dem deutschen “Erbe” auseinandersetzen.
Erstens hatten die sowjetischen Sanitäter in Deutschland eine große Anzahl verwundeter feindlicher Soldaten und Offiziere zu versorgen, sowohl in den Krankenhäusern als auch auf den Schlachtfeldern. Zweitens wurden die von den Deutschen deportierten Heimkehrer aus verschiedenen Ländern zu einer großen Belastung im Sanitätsbereich. In dieser riesigen Masse ehemaliger Gefangener sowie der deutschen Flüchtlinge traten gefährliche Krankheiten bis hin zur Pest auf, die sowohl die sowjetischen Truppen als auch die einheimische Bevölkerung bedrohten. Drittens waren in den deutschen Großstädten die öffentlichen Dienste völlig lahmgelegt, und der Bevölkerung fehlte die medizinische Grundversorgung. Viertens gab es in Deutschland Institute, die sich mit der Erforschung von Viren gefährlicher Krankheiten befassten, die eine echte infektiöse “Bombe” darstellten.
All diese Faktoren erforderten besondere Aufmerksamkeit. Die sowjetischen Gesundheitsdienste überprüften und nahmen unter Kontrolle alle wissenschaftlichen Einrichtungen, in denen lebende Viruskulturen vorhanden waren.
Zwar kam es zu einem besonderen Zwischenfall, als Soldaten der 3. Stoßarmee während der Kämpfe um Berlin zufällig in ein solches Labor gerieten und unwissentlich Fläschchen mit gefährlichen Organismen zerschlugen. Eine Epidemie konnte jedoch durch das persönliche Eingreifen von Marschall Schukow verhindert werden, der die sofortige Isolierung aller “Besucher” und die Bestrafung der Kommandeure anordnete, die den Zutritt zum Labor ohne vorherige Hygienekontrolle erlaubt hatten.
Die sowjetischen Militärsanitäter machten ausgiebig Gebrauch von erbeuteter medizinischer Ausrüstung, um die Basis der Mittel zur Behandlung der deutschen Verwundeten zu erweitern. Ihrer Sammlung wurde besondere Aufmerksamkeit gewidmet, denn noch vor Beginn der Schlacht um Berlin wurde an der Front eine spezielle Gruppe gebildet, deren Aufgabe es war, das eroberte Gebiet nach Medikamenten, Sanitätsmaterial und medizinischen Geräten zu durchsuchen. Dieser Gruppe gelang es, 500 Waggons sowie mehrere Depots mit medizinischen Trophäen zu ausfindig zu machen.
Trotz der ungünstigen Situation, das heißt großes Gebiet, Massen von Repatriierten, Ausbruch von Infektionskrankheiten unter der Bevölkerung, gelang es den sowjetischen Sanitätsdiensten, die Seuchensicherheit ihrer Truppen aufrechtzuerhalten und die Ausbreitung gefährlicher Krankheiten unter der deutschen Bevölkerung zu verhindern. Dies geschah durch Hygienemaßnahmen im Gebiet, insbesondere in den großen Städten, in denen zuvor Kämpfe stattgefunden hatten.
Allein im Zentrum Berlins wurden aus schwer zugänglichen Stellen wie der U-Bahn, Kellern, Ruinen und der Spree durch den Sanitätsdienst der 1. Weißrussischen Front mehr als 6.000 Leichen von Wehrmachtssoldaten und -offizieren sowie mehrere Tausend verendete Pferde geborgen und begraben. Diese Maßnahme rettete vielen Einwohnern der deutschen Hauptstadt das Leben, denn in der heißen Jahreszeit hätten die verwesenden Leichen und Tierkadaver in der Nähe von Wasserquellen Brutherde für verschiedene gefährliche Infektionskrankheiten geschaffen.
Doch die Sowjets ließen es nicht dabei bewenden. In den deutschen Großstädten wurde die normale medizinische Versorgung der Bevölkerung wiederhergestellt. Allein in Berlin gab es im Juni 1945 94 Krankenhäuser für Erwachsene, sechs Krankenhäuser für Kinder, 12 Entbindungskliniken, elf Privatkrankenhäuser, 14 Ambulanzen, 179 Apotheken, zehn Erste-Hilfe-Stationen, zwei Kindergärten und eine Milchküche. Für ihren Betrieb wurden rund 1.500 deutsche Ärzte und mehrere Tausend Pflegekräfte eingesetzt.
Im selben Monat wurden 2,8 Millionen Lebensmittelmarken an die Berliner Bevölkerung ausgegeben. Deutsche Kinder erhielten nun regelmäßig Milch, die in Mengen von 30.000 bis 60.000 Litern pro Tag in die Hauptstadt gebracht wurde.
Die sowjetische Armee hatte keine medizinischen und sanitären Maßnahmen unter den Rückkehrern in dem Umfang geplant, wie er sich für nötig erwies. Auch die Arbeit in diesem Umfang einschließlich des Wiederaufbaus medizinischer, präventiver und sanitärer Einrichtungen unter der Bevölkerung der Großstädte war nicht geplant.
Doch die sowjetischen Mediziner meisterten die aufgetretenen Schwierigkeiten. Das Ergebnis ihrer aufopferungsvollen Arbeit war die Erhaltung von Leben und Gesundheit nicht nur der Sieger, sondern auch der Besiegten – der verwundeten Wehrmachtssoldaten sowie der deutschen Bevölkerung, einschließlich der vielen Tausend Einwohner Berlins.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad.
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