Von Sergei Strokan
Die Erklärung des ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij über seine Entschlossenheit, verlorene Gebiete in den nächsten drei bis sechs Wochen in einer Art groß angelegter Gegenoffensive im Süden zurückzuerobern, die am Vorabend des neuen Staatsfeiertages – dem Tag der ukrainischen Staatlichkeit, der am 28. Juli zum ersten Mal begangen wird – abgegeben wurde, ließ viele fragen: Was könnte das bedeuten? Und was ist überhaupt los mit einem Land, dessen Regierungschef nach all den militärischen Verlusten allen Ernstes über solche Dinge sprechen kann?
In seiner Ansprache an die Nation, in der er die letzte Juliwoche sechs Monate nach Beginn des bewaffneten Konflikts mit Russland als in jeder Hinsicht entscheidend für die Ukraine bezeichnete, sprach Wladimir Selenskij viel über Konsolidierung, über die Einigung der Nation – und bezeichnete Russland als den Feind, gegen den die Ukrainer Schulter an Schulter stehen müssen, alle wie ein Mann.
Das Thema selbst sollte dieser Konsolidierung förderlich sein: Der Tag der ukrainischen Staatlichkeit, der im August letzten Jahres erfunden wurde, wurde ohne auch nur einen Gedanken an jegliche Unauffälligkeit zu verschwenden, an den Tag der Taufe der Kiewer Rus angeknüpft, der am 28. Juli gefeiert wird. Damit wird eine Art neuer ukrainischer Messianismus behauptet und auf eine höhere historische und zivilisatorische Mission der gelbblauen Nation hingedeutet.
Die Ereignisse der letzten Wochen und Tage zeigen jedoch: Von irgendwelcher Einigung kann gar keine Rede sein. Im Gegenteil, es findet gerade der gegenteilige Prozess statt – der einer Grenzziehung. Der Fisch verfault immer vom Kopf her, und da sind auch die großen Dnjepr-Fische keine Ausnahme. Die Anzeichen für diese Grenzziehung und Spaltung, oder vielmehr für einen Kampf auf Leben und Tod innerhalb der ukrainischen herrschenden Klasse, deren Mitglieder sich gegenseitig in den Rücken fallen, erkennen wir an der Spitze der Ukraine am deutlichsten.
Denn wie sich herausstellt, hat die Ukraine nicht bloß einen Feind – sondern gleich zwei. Und ihren Krieg führt die Ukraine (oder besser gesagt, seinen Krieg führt deren Präsident Selenskij) also an zwei Fronten gleichzeitig.
Einer dieser Kriege ist natürlich der gegen Russland.
Der andere aber ist ein Krieg gegen sogenannte innere Feinde, gegen Verräter des ukrainischen Staates. Und bei diesen geht es – aufgemerkt! – nicht nur um die alten Feinde, die “Separatisten des Donbass” (denn mit ihnen ist ohnehin längst alles klar). Die meisten dieser inneren Feinde befanden sich nämlich ausgerechnet unter denjenigen, die heute in erster Linie den ukrainischen Staat verteidigen und ihm dienen müssten: die Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden und die Oligarchen, die über umfangreiche Ressourcen und Möglichkeiten dafür verfügen, eine Verteidigung gegen Russland aufzubauen und eine Gegenoffensive vorzubereiten. Und viele dieser Personen gehörten bis vor Kurzem zum inneren Kreis von Präsident Selenskij.
Die ersten Köpfe flogen vor wenigen Wochen, als Präsident Selenskij an einem Tag den Leiter des Sicherheitsdienstes Iwan Bakanow (dieser ein enger Freund des Präsidenten) und die Generalstaatsanwältin Irina Wenediktowa entließ. Der hauptberufliche Komiker begründete seine Entscheidung damit, dass eine Säuberung der Sicherheitsbehörden unvermeidlich geworden sei, nachdem in der Ukraine gegen Strafverfolgungsbeamte 651 Strafverfahren auf der Rechtsgrundlage entsprechender Gesetzesartikel über Staatsverrat und kollaborative Aktivitäten eingeleitet worden seien.
Zu dem einen großen Pfuhl und Brennpunkt dieser landesweiten “Srada” (Verrat) wurde der Geheimdienst SBU erklärt, und die Generalstaatsanwaltschaft zu dem anderen.
Das Dekret über die Dienstsuspendierung von Iwan Bakanow bezieht sich auf einen Artikel der Disziplinarordnung der ukrainischen Streitkräfte, wonach er seines Amtes enthoben werden kann, wenn er seine Pflichten vernachlässigt hat und dadurch Menschenleben oder “andere schwerwiegende Folgen” zu beklagen waren oder aber dadurch eine solche Gefahr entstand.
Am Tag der Suspendierung von Iwan Bakanow und Irina Wenediktowa meldete das ukrainische Staatsbüro für Ermittlungen die Verhaftung des ehemaligen Leiters der SBU-Direktion auf der Krim, Oleg Kulinitsch, der vor seiner Verhaftung als Assistent von Iwan Bakanow gearbeitet hatte.
Oleg Kulinitsch wurde nach gleich drei Artikeln des ukrainischen Strafgesetzbuchs angeklagt: Staatsverrat, Leitung oder Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung und Beihilfe einem anderen Land bei der Weitergabe von Staatsgeheimnissen.
Laut ukrainischen Medienberichten werden Oleg Kulinitsch und der ehemalige stellvertretende Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine Wladimir Siwkowitsch verdächtigt, “die Südukraine an russische Truppen ausgeliefert zu haben”.
Wie die Wochenzeitung Obosrewatel berichtet, “war es gerade Kulinitsch, der unter der Koordination von Siwkowitsch letztlich für eine schnelle Besetzung der südlichen Gebiete der Ukraine sorgte, indem er dem SBU und der Staatsführung Information über den Vormarsch der russischen Truppen von der Krim vorenthielt”.
Auf die Entlassung von Iwan Bakanow folgten Dekrete zur Neubesetzung der Leitung des Sicherheitsdienstes der Ukraine in fünf Regionen des Landes – Charkow, Sumy, Poltawa, Transkarpatien und Dnepropetrowsk.
Nun erscheint dies nicht ganz logisch: eine Gegenoffensive im Süden anzukündigen und gleichzeitig im entscheidenden Moment den eigenen wichtigsten Sicherheitsdienst und die Generalstaatsanwaltschaft auf einen Schlag zu enthaupten – und anschließend weiterhin rechts und links Köpfe abzuschlagen.
Man würde ja eigentlich denken: “An der Flussfuhrt wechselt man nicht die Pferde”; gut, es gibt auch ein anderes Sprichwort: “Totgetriebene Pferde werden erschossen.” Indes passt keines der beiden Sprichwörter jedoch vollständig auf die Beschreibung dieser einzigartigen Lage. Was wir erleben, sind schon Produkte der Verwesung – und zwar bereits im Bauch dieses Fisches, der da mit dem Bauch nach oben aus der Dnjepr auftauchte und abwärts treibt. Bereits in der 30. Kalenderwoche erfasste eine neue kopfhohe Welle von Umbesetzungen die ukrainischen Sicherheitsbehörden. Wohlgemerkt geschah dies vor dem Hintergrund des krachenden Scheiterns der Operation der Hauptdirektion für Aufklärung (GUR) des ukrainischen Verteidigungsministeriums, die erfolglos versucht hatte, russische Piloten anzuwerben und sie dazu zu bewegen, Kampfflugzeuge der russischen Luftwaffe zu stehlen.
Ein weiteres Paradoxon: Keinerlei harte Personalkonsequenzen wurden gezogen – dabei müsste das eigentlich auf der Hand liegen. Im Gegenteil (versuche da einer, die Logik zu finden): Dieses Mal sprach niemand von einer “Srada” – im Gegenteil, der Leiter der GUR Kirill Budanow wurde sogar befördert. In einer Videobotschaft, die Anfang der Woche auf seinem Telegram-Kanal veröffentlicht wurde, verkündete Selenskij:
“Wichtige Personalentscheidungen wurden getroffen. Insbesondere wird der Leiter der Hauptdirektion für Nachrichtendienste Kirill Budanow auch den Nachrichtendienstausschuss beim ukrainischen Präsidenten leiten. Der Feldgeneral Viktor Chorenko wurde zum neuen Befehlshaber der Sondereinsatzkräfte der Streitkräfte der Ukraine ernannt. Und General Grigori Galagan wird zum ersten stellvertretenden Leiter des Sonderoperationszentrums ‘A’ des SBU versetzt.”
Ebenfalls in dieser Woche entließ Selenskij Ruslan Demtschenko als ersten stellvertretenden Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates. Bei dieser Gelegenheit wurde in der Ukraine allgegenwärtig thematisiert, dass Demtschenko sich einst für die Unterzeichnung der Vereinbarungen von Charkow über die Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim eingesetzt haben soll. Überhaupt wurden die im Jahr 2010 unter Präsident Janukowitsch unterzeichneten Abkommen von Charkow zu einem weiteren spannenden Thema der letzten Tage, da überall nach Verrätern gesucht wird. So erhob in der 30. Kalenderwoche die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft Anklage wegen Hochverrats gegen den ehemaligen Außenminister Konstantin Grischtschenko und den ehemaligen Justizminister Alexander Lawrinowitsch, die in dieser Sache angeblich in geheimer Absprache mit dem damaligen Präsidenten Janukowitsch und dem damaligen Premierminister Nikolai Asarow gehandelt haben sollen.
Das krönende Zuckerstreusel auf dieser leckeren Kiewer Torte ist schließlich die Geschichte vom Entzug der ukrainischen Staatsbürgerschaft des Oligarchen Igor Kolomoiski – des ebenselben Mannes, der sich selbst voller Stolz auch als “politischer Ukrainer” bezeichnete, der gleichzeitig als offen praktizierender Jude im Jahr 2014 von seinem eigenen Vermögen nationalistische Freiwilligenbataillone im Donbass aufstellte und dann zum Erstaunen aller den jungen, aufstrebenden Komiker Wolodja Selenskij an der Hand auf den Gipfel des politischen Olymps der Ukraine hinaufführte.
Mehr zum Thema – US-Immobilien als “Kleptokraten-Traum” – Auch ukrainische Oligarchen waschen so ihr Geld
Und jetzt stellt sich also heraus, dass er, Kolomoiski, ebenfalls ein “Sradnyk” ist, ein Verräter! Wer hätte das gedacht!
Zusammen mit ihm wurde auch seinem Landsmann aus der ukrainischen Schattenhauptstadt Dnepropetrowsk die Bürgerschaft entzogen – dem Leiter des Verteidigungshauptquartiers der Stadt Gennadi Korban, der nach Polen geflohen war, aber zurückzukehren versprach.
Was Igor Kolomoiski betrifft, so weigerte sich das Büro von Präsident Selenskij diese Woche, das Dekret vorzulegen, auf dessen Grundlage ihm die Staatsbürgerschaft entzogen wurde – und zwar mit der Begründung, dass das Dekret vertrauliche Informationen enthalte.
Der Satz aus dem aus russischen Schulen bekannten “Taras Bulba” von Nikolai Gogol “Ich habe dich gezeugt, ich werde dich auch töten” trifft hier nicht zu. Das Problem ist nicht, dass Gogol und Taras Bulba nicht mehr unter uns weilen – jene Ukraine von damals ist die heutige nun irgendwie überhaupt nicht mehr. Im Fall von Kolomoiski lautet das Prinzip vielmehr: “Du hast mich erzeugt – und jetzt werde ich dich töten.” Und das zur ersten Jahresfeier der ukrainischen Staatlichkeit. Doch wie könnte es auch anders sein, wenn über das Land die “Werchowna Srada”, der oberste Verrat, wütet.
Mehr zum Thema – Ukrainisches Parlament gewährt polnischen Bürgern “besonderen Status”
Übersetzt aus dem Russischen.
Sergei Strokan ist Beobachter für internationale Politik mit 25-jähriger Erfahrung. Heute ist er in dieser Qualität im russischen Verlagshaus Kommersant tätig.