Von Alexej Danckwardt
Es sind zwei aktuelle Anlässe, die zu diesem Versuch, auf den derzeitigen Zustand der Ukraine etwas großräumiger zu blicken, Anstoß gaben. Zum einen nähert sich der zehnte Jahrestag des Sieges des Euromaidan. Alles seitdem Geschehene, auch der fortdauernde Krieg, sind dessen Folgen. Zum anderen wurde uns durch die Ernennung von General Alexander Syrski zum Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte erneut vorgeführt, wie eng die Kriegsparteien, die sich derzeit so verbissen auf beiden Seiten der Front bekämpfen, verwandt und ineinander verflochten sind.
Russen, die Russen hassen
Syrski ist ein ethnischer Russe, und zwar so russisch, dass es russischer kaum noch geht. Geboren wurde er in einem Dorf des zentralrussischen Bezirks Wladimir. Seine Vorfahren stammen, soweit es sich nachverfolgen lässt, ebenfalls aus dieser Region, in der die “moskowitische” Staatlichkeit – wenn man sie von der gesamtrussischen trennen könnte – ihren Ursprung nahm. Das Dorf Petuschki, in dem Journalisten das Haus von Syrskis Großmutter ausfindig machten, liegt an der Grenze zum Gebiet Moskau, man erreicht von hier aus die russische Hauptstadt in rund zwei Stunden mit der Elektritschka.
In die Ukraine kam Syrski 1986 im Alter von 21 Jahren, nach Abschluss seines Offiziersstudiums an einer Moskauer Elitehochschule wurde er einer Einheit der sowjetischen Armee zugeteilt, die im Gebiet Poltawa stationiert war. Hier erlebte er fünf Jahre später den Zerfall der Sowjetunion, und es war wohl bequemer, den Eid auf die unabhängige Ukraine abzulegen, als anderswo von null anzufangen.
Die außerordentliche Mobilität aller Bevölkerungsschichten in den 250 Jahren, in denen die Ukraine Teil des zaristischen Russlands war, und besonders in den fast 70 Jahren Sowjetunion, sorgte für Millionen solcher Schicksale auf beiden Seiten der Grenze, die es bis 1991 niemals gegeben hatte. Mindestens jeder Dritte jener, die sich heute Ukrainer nennen, ist in Wahrheit ethnischer Russe, dessen Großeltern oder Eltern in das Gebiet der USSR migriert waren. Hunderttausendfach sind “Ukrainer” Russen, die – wie Syrski – sogar selbst in diese Landstriche zogen.
Millionen derjenigen, die sich in Russland für “reinblütige” Russen halten, haben ein umgekehrtes Schicksal und bis heute Brüder oder Tanten, die in der Ukraine leben und sich Ukrainer nennen. Mit dem Thema der Kinder aus gemischten Ehen – ebenfalls Millionen und Abermillionen – will ich gar nicht erst anfangen, um die Verwirrung nicht unendlich werden zu lassen.
Und die zwei Drittel Ukrainer, die auf einen scheinbar “reinrassigen” Stammbaum ohne den kleinsten Tropfen “Moskowiterblut” verweisen können … Ich sehe bis heute keinen Unterschied zwischen Ukrainern und Russen.
Das Schicksal wollte es, dass ich in meiner Kindheit oft die Schule wechseln musste. Ich ging durch zwei deutsche Schulen in Leipzig und durch drei russische: zwei in einer russischen Provinzkleinstadt mitten in den Wolgasteppen, die dritte war die Schule der in Leipzig stationierten sowjetischen Truppen. In jeder meiner russischen Klassen hatte ich ukrainische Mitschüler, bis zu zehn an der Zahl. Niemand achtete damals auf Abstammung und Ethnie, es gab keine Unterschiede, keine Gräben, und nichts deutete darauf hin, dass wir eines Tages nicht mehr Teil eines untrennbaren Ganzen sein würden.
Nicht erst seitdem Russland im Februar 2022 in der Ukraine intervenierte, ist alles anders. Irgendwann zwischen 2004 und 2014 vergaß die Mehrheit der Ukrainer, Aitmatows Mankurten gleich, ihre enge Verwandtschaft mit dem russischen Volk und begann zu hassen. “Wer nicht hüpft, der ist ein Moskauer”, “Moskauer aufs Messer” und ähnliche Sprüche wurden zu Massenslogans auf dem Euromaidan, lange bevor die Krim zu Russland zurückkehrte oder der Donbass rebellierte. Der Hass steigerte sich zum Verrat, denn nicht anders kann ich die Bereitschaft bezeichnen, Feinden, die offen nach der Vernichtung Russlands streben, Raum für Basen und Raketen anzubieten.
Was also ist geschehen? Wie konnte aus einem gebildeten Volk, das zu großem Teil sogar aus ethnischen Russen besteht, eine Ansammlung von Russenhassern werden, die Geister einer braunen Vergangenheit auf den Schild gehoben haben?
Ich habe keine endgültige Antwort, nur zwei Hypothesen.
Erste Hypothese: Einsatz einer pschycho-informationellen Waffe
Als ich im Sommer 2013 begann, mich mit der ukrainischen Thematik zu befassen, erlebte ich etwas Verstörendes. Bis dahin hatte ich mich viele Jahre lang hauptsächlich aus der Tagesschau und dem Radiosender mdr info über das aktuelle Geschehen informiert und las wöchentlich den Spiegel und den Economist, Letzteren hatte ich über viele Jahre abonniert. Es war also nichts mit “russischer Propaganda”, die irgendeinen Einfluss auf mich gehabt hätte und das nachfolgende Phänomen erklären könnte. Dass die Ukraine in die EU strebt, kam für mich aus heiterem Himmel. Die Thematik, die mich seitdem nicht mehr losließ, war mir damals völlig neu.
Ich setzte mich also an den Computer und begann, mir täglich mehrere Stunden ukrainisches Fernsehen anzusehen. Nachrichten, Talkshows, Dokumentarfilme und Selenskijs Satiresendung. Damals gab es noch viele Sendungen auf Russisch, und Ukrainisch begann ich nach etwa zwei Wochen ohne Probleme zu verstehen.
Was mir aus jenen Wochen in Erinnerung blieb, ist – außer der dort über die EU verbreiteten Propaganda, die mit der europäischen Lebenswirklichkeit nichts gemein hatte (Beispiel Klitschko: “In Europa hat jeder Jugendliche gesetzlichen Anspruch auf einen Arbeitsplatz”, Beispiel Jatzenjuk: “Euroassoziierung bedeutet, dass jeder Rentner sofort mindestens 1000 Euro Rente erhalten wird”) – die Reaktion meines Körpers. Ich musste nach kurzer Zeit ukrainischen TV-Programms erbrechen, spürte Übelkeit, die Welt um mich herum bekam eine andere, dunkle Färbung, mitten im sonnigen Sommer und im warmen Herbst. Dennoch zog es mich magisch vor den Bildschirm.
Nach einigen Wochen begann ich zu analysieren, was mit mir geschieht. Ich versuchte, mir bewusst zu machen, was an den ukrainischen Sendungen anders ist als beispielsweise an jenen des deutschen Fernsehens. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: auffällig war eine andere Farbauswahl mit surrealen Farbkombinationen. Dunkle, düstere Töne überwogen, aber es war auch immer etwas dazu unpassend Grelles beigefügt, beispielsweise Rot.
Die Lichttechnik wurde massiv zur Betonung eines Sprechers eingesetzt, der sich in Talkshows vor seinem Wortbeitrag gewöhnlich allein in der Mitte des Studios aufstellte. Generell wurden Beleuchtung und Schnitt sehr aggressiv eingesetzt, während bestimmte Botschaften durch langes Verweilen der Kamera auf dem Sprechenden und den schon erwähnten Einsatz des Projektorstrahls, wie im Theater, hervorgehoben wurden. Und das ist nur das, was mir als Nichtprofi auffiel.
Ob all das auf den Einsatz einer neuartigen psycho-informationellen Waffe hindeutet, kann ich nicht beurteilen. Ich selbst konnte mir auf vielfältige Weise “Gegengift” organisieren und habe später ukrainisches Fernsehen nicht mehr so intensiv konsumiert. Ukrainer dagegen leben nach der Abschaltung aller russischen Sender in ihren Kabelnetzen seit fast zehn Jahren unter einer informationellen Glocke, durch die nichts dringen kann. Sind unsere ukrainischen Brüder und Schwestern vielleicht Opfer einer Massenhypnose geworden, die Tag für Tag auf sie einwirkt?
Zweite Hypothese: “Einfach nur Faschismus”
“Einfach nur Faschismus”, so lautet der Titel einer im Ostblock bekannten Dokumentation über den Hitlerfaschismus von Michail Romm. Leider beschränkt sich der Film auf oberflächliche Beobachtungen und hat für mich persönlich nie die Frage beantwortet, wie das zivilisierte und gebildete deutsche Volk, das Volk der Dichter und Denker, sich so hat verführen lassen können.
Doch in den letzten zehn Jahren habe ich in dem “besten Deutschland aller Zeiten” anschaulichen Geschichtsunterricht erlebt. Ich denke, nun zu wissen, wie es “dazu” kommen konnte.
Es ist die Selbstüberhöhung, die Verabsolutisierung der eigenen Lebensart und der eigenen Errungenschaften, die Millionen glauben lässt, auserwählt und besser als andere Völker zu sein. Gleichzeitig erzeugt diese Selbstüberhöhung, die früher oder später in Widerspruch zur Lebenswirklichkeit tritt, Angst und Hass gegen alle – Völker und Individuen –, die die überhöhten Werte und Errungenschaften infrage stellen.
Das war es, wie die Deutschen 1933 “verführt” wurden. Und das ist es, was in den letzten zehn Jahren – besonders deutlich während der sogenannten “Coronakrise” – wieder zum Vorschein kam.
Kann es sein, dass Ukrainern Ähnliches widerfahren ist? Die Ukraine ist nach mehreren Jahrzehnten permanenten Fortschritts seit dem Zerfall der Sowjetunion auf dem absteigenden Ast. Die Lebensqualität der Mehrheit sank nach 1991 abrupt und hat sich seitdem anders als in Russland nie vollständig erholt. Auch die Wirtschaftsleistung erreichte in den Jahren der Unabhängigkeit nie frühere Werte. Das Gefühl der Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben sieht man den meisten Ukrainern buchstäblich an.
Der objektiv an dem elenden Zustand Schuldige ist nicht schwer auszumachen – es ist die Kaste der Oligarchen und der korrupten Beamten, die das Land in den 1990ern Jahren privatisiert haben und seitdem riesige Reichtümer anhäufen, die sie in Europa und auf exotischen Inseln zur Schau stellen. Um all das nicht zu verlieren, brauchte diese herrschende Klasse ein Hassobjekt, das sie dem Volk vorsetzen konnte.
Der Faschismus, die Diktatur der Oligarchen, appelliert immer an die niedersten Emotionen des Menschen, und der ukrainischen herrschenden Klasse boten sich eben Russland und Russen als Sündenbock und Wutableiter an. Es hat fast zwei Jahrzehnte unablässiger russophober Hasspropaganda in den von den Oligarchen monopolisierten Massenmedien gebraucht, bis sich der Nazismus in den Köpfen vieler Ukrainer festgesetzt hat.
Den genauen Zeitpunkt, wann die Stimmung gekippt ist, habe ich verpasst. In den 1990ern kannte die Diaspora der Russischsprachigen in Deutschland die Einteilung in Ethnien und Herkunftsländer noch nicht. Ich kann mich gut erinnern, wie neu ankommende Ukrainer sich selbst “Russaki” nannten, von “Russe” abgeleitet. Man hielt unabhängig davon zusammen, aus welcher Republik der früheren Sowjetunion man nach Deutschland gekommen war. Ich selbst hatte Ukrainischstämmige unter meinen engen Freunden, einer von ihnen hatte sich selbst den Spitznamen “Hohol” (heute als angeblich rassistische Beleidigung angesehen) gegeben.
2006 zeigten sich erste Risse. Das war das Jahr der Weltmeisterschaft in Deutschland, das deutsche “Sommermärchen”. Die ukrainische Nationalmannschaft spielte in der Endrunde mit. Wir – Deutschrussen aus Russland, Tadschikistan, Kasachstan – wollten mitfeiern und erfuhren eine schroffe Abfuhr:
“Wir sind nicht die euren, und das ist nicht eure Mannschaft.”
Das war das erste Mal, dass mir ukrainischer Hass entgegenschlug.
Ukrainer igelten sich seitdem immer mehr in ihren exklusiven Gruppen ein, auch wenn sie angebotene Hilfe gern in Anspruch nahmen und anwaltlichen Beistand am besten kostenlos wollten – da war man wieder “Landsmann” und als solcher in der Pflicht. Ein Freund beschwerte sich irgendwann um 2010 herum, er sei von dem von Migranten aus der Ukraine gebildeten Freizeitfußballteam, in dem er aufgrund seines Talents mitspielen durfte, kurzerhand von einer Feier ausgeladen worden. So etwas kannte er bis dahin nicht.
Anekdote am Rande: Dieselben jungen Ukrainer fuhren einige Jahre nach dem Euromaidan nach Kiew und wurden aus einem Restaurant rausgeschmissen, weil sie Russisch sprachen. Ich las in einem Forum, wie schockiert und gedemütigt sie davon waren. Fast so, wie einst der von ihnen von der Mannschaftsfeier Ausgeladene. Da schlug ihr eigener Chauvinismus plötzlich auf sie zurück.
Wird das wieder heilen? Nun, wenn es tatsächlich so etwas Ähnliches ist wie bei den Deutschen 1933 bis 1945, vergeht es kaum von selbst. Und wird, bis endlich ein Heilmittel gefunden ist, noch viel Unheil anrichten.
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