Es gibt ein Argument, das in Deutschland immer wieder bemüht wird, um zu belegen, dass Russland ein repressiver Staat sei, der die Freiheit seiner Bürger unterdrückt.
“Man darf auf dem Roten Platz nicht einmal ein weißes Blatt Papier in die Höhe halten, sonst wird man sofort festgenommen”, wird in diesem Zusammenhang regelmäßig geäußert. Dazu ist zu sagen: Der erste Teil des Satzes ist richtig, der zweite nicht, und der Schluss, der daraus gezogen wird, ist ganz falsch.
Der Kreml und der Rote Platz zählen zu den Objekten des russischen nationalen Kulturerbes. Sie sind für alle zugänglich, aber es gelten Regeln, die es beim Besuch zu beachten gilt.
Eine davon lautet, dass das Aufstellen und Zeigen von Plakaten jedweder Art auf dem Roten Platz und dem Gelände des Kreml untersagt ist. Auf den Inhalt kommt es dabei gar nicht an. Tut man es dennoch, wird man unmittelbar auf die Regeln hingewiesen und gebeten, es zu unterlassen.
Ich habe es selbst ausprobiert. Festgenommen wird man nicht. Es werden nicht einmal die persönlichen Daten aufgenommen. Es gibt nur einen Hinweis. Dass man auf dem Roten Platz keine Plakate aufstellen und zeigen darf, bedeutet natürlich auch nicht, dass es in Russland grundsätzlich verboten wäre, Plakate aufzustellen und zu zeigen.
Der Konsum von Alkohol ist auf dem Roten Platz und im Kreml ebenso verboten wie das Musizieren, das Fahrradfahren oder das Befahren mit Inlinern und Elektrorollern. Es darf kein Handel getrieben werden, und man darf auch keine Führungen anbieten, ohne dafür eine offizielle Genehmigung zu haben.
Ausdrücklich erlaubt ist das Filmen und Fotografieren. Das ist dann auch der Grund dafür, warum im Internet Material von Personen kursiert, die daran gehindert werden, Plakate zu zeigen. Das Zeigen von Plakaten ist verboten, das Filmen nicht.
Die aktuellen Regeln stammen in ihrer ursprünglichen Form von 2001 und werden regelmäßig aktualisiert und angepasst. 2001 gab es das Problem der Elektroroller in Innenstädten noch nicht, jetzt schon. Ihre Benutzung ist auf dem Roten Platz untersagt. Dessen ungeachtet floriert in Moskau der Verleih von Elektrorollern. Das heißt, all diese Regeln gelten selbstverständlich und ausdrücklich nur für den Kreml und den angrenzenden Bereich.
Auch wenn das Trinken von Alkohol auf dem Roten Platz untersagt ist, bedeutet das natürlich nicht, dass Alkohol in Russland grundsätzlich verboten wäre. Das ist unmittelbar verständlich. Gleiches gilt natürlich auch für Fahrradfahren und Skaten. Man darf es auf dem Roten Platz nicht, aber in Russland generell schon. Ebenso verhält es sich mit dem Zeigen und Aufstellen von Plakaten. Auf dem Roten Platz nein, ansonsten ja.
Es gibt auch in Deutschland beim Besuch von Denkmälern und Sehenswürdigkeiten Regeln zu beachten. Wenn man sie nicht einhält, wird der Zutritt verwehrt, und man muss unter Umständen mit juristischen Konsequenzen rechnen.
Deutsche Museen reagieren unfreundlich, wenn jemand die Hausregeln bricht und ihre Exponate beispielsweise mit Kartoffelbrei beschmiert. Dann drohen Haft und Geldstrafe, ganz unabhängig davon, wie wichtig den Aktivisten ihr Anliegen sein mag und ob sie glauben, ihre Aktion sei durch die Meinungsfreiheit gedeckt.
Oder um ein anderes Beispiel anzuführen: Wer versucht, mit drei Liter Bier im Handgepäck durch die Sicherheitsschleuse am Flughafen zu kommen, wird scheitern. Auch eine Diskussion darüber, dass es sich nur um Bier und nicht um explosive Flüssigkeiten handelt, wird wenig bringen, ebenso der Verweis auf Grund- und Menschenrechte. Besteht man weiter darauf, das Recht dazu zu haben, mit seinem Bier passieren zu dürfen, verpasst man seinen Flug und wird unter Umständen abgeführt.
So ist das hier auch. Nicht jeder kennt die herrschenden Regeln auf dem Roten Platz. Das ist erst mal kein Problem. Verstößt man dagegen, wird man auf den Regelverstoß hingewiesen. Ist man einsichtig, passiert weiter nichts. Besteht man jedoch weiter darauf, das Recht zum Regelverstoß zu haben, wird man irgendwann festgenommen. Das darf man auf dem Roten Platz auch filmen und ins Internet stellen, denn Filmen ist ausdrücklich erlaubt.
Aus dem ganzen Vorgang dann aber abzuleiten, Russland sei ein repressiver Staat, ist natürlich eine propagandistische Verkürzung. Das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit ist in der russischen Verfassung verankert und in Russland aktuell nicht so sehr und umfassend gefährdet wie in Deutschland und der EU.
Der Kreml mit seinen Museen und Sehenswürdigkeiten ist ebenso wie der Rote Platz übrigens einen Besuch wert. Bis zu 20 Millionen Besucher jährlich belegen zudem, dass man eine Besichtigung des nationalen Kulturerbes im Zentrum Moskaus in aller Regel übersteht, ohne mit den bestehenden Regeln in Konflikt zu kommen und festgenommen zu werden. Es sei denn, man legt es darauf an.
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