Eine Analyse von Maria Müller
Anfang Juni brachen im südamerikanischen Staat Ecuador heftige soziale Kämpfe aus, die überwiegend vom indigenen Teil der Bevölkerung angeführt wurden. Aktueller Anlass waren die Erhöhungen der Treibstoff- und Lebensmittelpreise. Auch die vom Internationalen Währungsfond IWF geforderten Privatisierungen von staatlichen Unternehmen provozierten breite Proteste.
Doch im Hintergrund wirkt sich der lange Konflikt zwischen der Ausbeutung reicher Bodenschätze und der damit verbundenen Umweltzerstörung weiter Landstriche aus, vor allem im Amazonasgebiet. Keine Regierung der vergangenen Jahre konnte oder wollte diesen Widerspruch tatsächlich lösen.
Natürliche Lebensgrundlagen versus Ölförderung
Die indigene Bevölkerung des Landes verteidigt ihre angestammten Lebensbereiche, die sich teilweise in großen Naturschutzgebieten befinden. Sie beherbergen nicht nur bedeutende Naturschätze wie unterirdische Süsswasserreserven oder eine reiche Artenvielfalt. Hier liegen auch große Ölfelder, deren intensivere Ausbeutung die Staatskasse füllen könnte. Erdöl ist das wichtigste Exportgut Ecuadors, das Land war bis 2020 Mitglied der Organisation Erdölexportierender Länder OPEC.
Nun ist der neue, neoliberale Präsident Guillermo Lasso mit diesem langandauernden Kampf konfrontiert. Er gewann die Wahlen im April 2021 auch mit dem Versprechen, die Umweltprobleme Ecuadors zu lösen und erhielt deshalb die Unterstützung der indigenen Organisationen. Schon kurz nach Regierungsantritt legte er diese Zusagen auf Eis. Am siebten Juli 2021 verabschiedete Lasso das Dekret Nr. 95, mit dem die Ölpolitik der Regierung aktualisiert werden sollte. Ziel war, die Produktion nach neoliberalem Muster zu verdoppeln.
Privatisierungen und mangelnde Teilhabe der Bevölkerung
In der Essenz geht es dabei um interne Reformen und eine weitgehende Privatisierung der staatlichen Ölfirma PETROECUADOR. Teile der Ölfelder Ecuadors sowie Raffinerien und Tankstellen sollen nun ausländischen “prestigeträchtigen” Ölgesellschaften angeboten werden. Das bedeutet auch eine Ausweitung der Bohrungen bis in die geschützten Gebiete.
Umweltprobleme seien zu berücksichtigen, so der Text des Entschlusses. Im Dekret wird zwar die “Befragung” der örtlichen Bevölkerung in Sachen Umweltprobleme in zwei Zeilen benannt – doch ohne deren Rechte auf Mitbestimmung zu vertiefen. Die Regierung verspricht ihnen stattdessen Sozialprogramme und mehr Lebensmittel für die unterernährten Kinder. Die Indigenen wollten ihre Rechte nicht gegen solche grundsätzlichen Verpflichtungen des Staates eintauschen, die Taktik funktionierte nicht.
Explosion des Unmuts und heftiger Widerstand
Der seitdem erneut ansteigende Unmut explodierte dann am 13. Juni mit massenhaften Widerstandsaktionen im ganzen Land. Demonstrationen, Straßenblockaden und schließlich ein landesweiter Streik blockierten große Teile Ecuadors. Der Streik hielt 18 Tage an. Ölförderanlagen wurden besetzt. Präsident Lasso warnte davor, dass die Produktion aufgrund der Straßensperren völlig eingestellt werden müsste. Er verhängte den Ausnahmezustand mit nächtlichen Ausgangssperren und einem generellen Versammlungsverbot.
Laut Amnesty International gingen Polizei und Militär mit extremer Gewalt gegen Demonstranten und Streikende vor, mehrere Menschen verloren durch Gummigeschosse ein Auge oder wurden völlig blind. Es wird von sechs toten Demonstranten berichtet, über 300 Menschen seien schwer verletzt. Ein Soldat kam bei einem Angriff auf ein Militärkonvoi ums Leben. Unter den Polizisten gab es 175 Verletzte, 30 Polizeifahrzeuge wurden zerstört.
Die Konföderation der indigenen Nationalitäten Ecuadors (Conaie)distanzierte sich von den gewalttätigen Gruppen, die infiltriert worden seien, um die Mobilisierung insgesamt unglaubwürdig zu machen.
Versuchte Amtsenthebung und wirtschaftliche Verluste
Eine am 30. Juni im Parlament durchgeführte Abstimmung über die Amtsenthebung des Präsidenten scheiterte. Sie erhielt nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit der Stimmen.
Die Proteste führten zu hohen wirtschaftlichen Verlusten. Laut Regierungsangaben verursachten sie einen Schaden von 50 Millionen US- Dollars. Im Erdölsektor soll die Produktion um 100.000 Barrel gesunken sein, das sind über 20 Prozent der Förderleistung.
Der Dachverband der indigenen Nationen Ecuadors (CONAIE) und zwei weitere indigene Organisationen forderten den Dialog mit der Regierung. Am 29. Juni kamen unter Vermittlung der katholischen Kirche erste Verhandlungen zustande, wonach Guillermo Lasso das umstrittene Dekret Nr. 95 annullierte. Der Präsident der CONAIE, Leonidas Iza, präsentierte zehn umweltpolitische und soziale Forderungen, darunter auch Preissenkungen bei Lebensmitteln und Energiekosten sowie die Rücknahme der Privatisierungspläne. Der Ausnahmezustand endete einen Tag später.
Verhandlungsergebnisse
Vier indigene Organisationen und ihr Dachverband CONAIE veröffentlichten in einem gemeinsamen Text die Ergebnisse der Verhandlungen.
– Die “Ölgrenze” wird nicht ausgeweitet und damit die Territorien und die kollektiven Rechte der indigenen Völker respektiert.
– Der Bergbau ist in “unantastbaren” Naturschutzgebieten und archäologischen Orten verboten; auch Wasserschutzzonen dürfen künftig dadurch nicht mehr gefährdet werden.
– Die freie und informierte Einwohner-Mitbestimmung bei Umweltproblemen soll gemäß den Standards der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) und des ecuadorianischen Verfassungsgerichts praktiziert werden.
Weitere Themen sind:
Preiskontrollen gegen Spekulation bei Gütern des täglichen Bedarfs; der Medikamentennotstand im öffentlichen Gesundheitswesen; Sozialhilfe für die ärmsten Familien von monatlich 55 Dollar, mehr Finanzen für die interkulturelle Bildung, Preissubventionen für mittlere und kleine Produzenten um bis zu 50 Prozent, das Streichen überfälliger Kredite von bis zu 3.000 Dollar bei staatlichen Banken.
Der Preisnachlass bei Kraftstoffen blieb jedoch minimal: 15 Centavos. Deshalb verlangen die Indigenen spezielle Subventionen der Energiekosten für die Bauern, Fischer, Kleinunternehmer im Transport und in anderen Bereichen.
Ecuadors Landbevölkerung stellt 36 Prozent der Gesamteinwohner, die Entwicklungen auf dem Land beeinflussen die Situation in den kleinen und mittleren Städten aufgrund ihrer bedeutenden wirtschaftlichen Verflechtung.
Die Umweltzerstörung im Amazonasgebiet durch Ölförderung
Um die existenzielle Bedeutung dieser Kämpfe für die Ureinwohner zu verstehen, sind die Folgen des Abbaus von Bodenschätzen (z. B. Gold und Kupfer) und besonders der Erdölförderung in Ecuador zu beachten. Die Bewohner dieser Zonen müssen seit vielen Jahren erleben, wie bedeutende Flächen des Amazonaswaldes von giftigem Öl aus schlecht sanierten Bohrlöchern und Auffangbecken verseucht wurden. Die natürlichen Ernährungsgrundlagen der Indigenen Bevölkerung werden dort zerstört.
Vor allem die US-Firma Chevron / Texaco ist für die starke Kontaminierung verantwortlich. Sie weigert sich bis heute, von ihr verseuchte Landstriche zu reinigen. Im Jahr 2011 verurteilte ein Gericht in Ecuador den Konzern zu einer Strafe von über sechs Milliarden Dollar. Chevron besiegte seinerseits das Land Ecuador vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag. Denn die beklagte Kontamination der von Chevron aufgekauften Firma Texaco seien nicht Chevron anzulasten. Im Januar 2022 verursachte ein Leck in einer Ölleitung am Coca-Fluss erneut große Schäden.
Angesichts dieser Umweltzerstörungen ist der Schutz der Flüsse und des Grundwassers eine Überlebensfrage. Bereits 2012 eskalierte ein Konflikt zwischen der Regierung von Rafael Correa (2007 – 2017) und der indigenen Organisation CONAIE.
Der Nachfolger von Correa, Lenin Moreno, musste sich den gleichen Problemen stellen. Im Oktober 2019 demonstrierten gut 15.000 Indigene in der Hauptstadt Quito, blockierten die Zufahrtswege und legten teilweise die Ölproduktion lahm. Es gab zehn Tote und über tausend Verletzte. Die mit der Regierung ausgehandelten Zusagen hat sie nicht eingehalten.
Eine rote Linie
Der neue Präsident Guillermo Lasso musste nun begreifen, dass es für die Ureinwohner und legitimen Erben dieses Landes eine rote Linie gibt, die keine Regierung – egal welcher politischen Couleur – überschreiten sollte. Selbst der politische Druck des Internationalen Währungsfonds mit seiner einseitigen Interessenslobby darf nicht dazu führen, dass der Weg für eine ausgeglichene und somit langfristig stabile Entwicklung für immer verstellt wird.
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