Wegen historisch hoher Preisanstiege vor allem bei Lebensmitteln und Benzin gibt es weitere Proteste in Polen. Im April erreichte die Inflation im Land 12,3 Prozent und damit den höchsten Stand seit 1998. In einem Ausmaß wie seit zwei Jahrzehnten nicht mehr war ein Anstieg der Lebensmittelpreise für 0,9 Prozentpunkte des genannten Anstiegs verantwortlich. Betroffen waren die meisten Lebensmittelkategorien, bei Fleisch war der Anstieg mit einem Sprung von 14,4 Prozent für Geflügel zum Vormonat besonders ausgeprägt.
Die Erklärung der nationalkonservativen PiS-Regierung im April fiel recht schlicht aus: Russland ist schuld. “Heute hängen alle Preise hauptsächlich von den Handlungen und Entscheidungen eines Mannes ab – Wladimir Putin”, erklärte Premierminister Mateusz Morawiecki. “Der Krieg in der Ukraine wirkt sich auf die Energiepreise aus, und die wirken sich auf die Kosten für alles aus.” Auch Zentralbankchef Adam Glapiński behauptete, der Krieg in der Ukraine sei fast vollständig für den Anstieg der Inflation auf zweistellige Werte verantwortlich.
Schon im November hatte die polnische Regierungspartei PiS die Flüchtlingssituation an der Grenze zu Weißrussland ein Stück weit begrüßt, da sie von der innenpolitischen Krise und einer bereits relativ hohen Inflation von knapp sechs Prozent abgelenkt hatte. Auch damals war es der russische Präsident gewesen, der – zusammen mit Alexander Lukaschenko – von der PiS-Regierung für die Probleme in Polen verantwortlich gemacht worden war.
Im Mai stiegen die Verbraucherpreise im Vergleich zum Vormonat um weitere 1,7 Prozent und zum Vorjahresmonat um 13,9 Prozent und damit auf den höchsten Wert seit 24 Jahren. “Besonders die Preise für Lebensmittel und Benzin sind gestiegen. Bis zum Ende des Jahres werde die Inflationsrate zweistellig bleiben”, sagte Marcin Klucznik vom Polnischen Wirtschaftsinstitut der Nachrichtenagentur PAP im Mai. Der Höhepunkt sei im August zu erwarten.
Um die Folgen der Inflation für die Verbraucher abzumildern, setzt die polnische Regierung seit Februar die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel aus und senkte den Steuersatz für Benzin und Dieselkraftstoff von 23 auf acht Prozent. Die Regelung sollte sechs Monate lang gelten.
Polens Antiinflationsmaßnahmen stützen sich vor allem auf die Anhebung der Zinssätze und Steuererleichterungen. Am 8. Juni erhöhte die Polnische Nationalbank die Zinsen auf sechs Prozent.
Mehrere polnische Ökonomen verweisen neben der Pandemie und dem Krieg im Nachbarland Ukraine auf die ergriffenen Maßnahmen der Regierung und der Nationalbank als Ursache für den Preisanstieg, andere polnische Experten weisen auch die stark gestiegenen Gewinnspannen der Großunternehmen im Land hin. Für einige marktwirtschaftlich ausgerichtete Experten führte die gleichzeitige Senkung der Zinssätze und die staatliche Unterstützung für Unternehmer schon während der Pandemie zu einem Ansteigen der Inflation.
Laut Kamil Pastor, Wirtschaftswissenschaftler bei der PKO Bank Polski, einem staatlichen Kreditinstitut, waren für den Preisanstieg auch die großzügigen steuerlichen Unterstützungen für Unternehmen während der COVID-19-Pandemie sowie die Erholung nach der Pandemie, Engpässe in den Lieferketten und der Mangel an Arbeitskräften auf dem polnischen Arbeitsmarkt verantwortlich. Auch Brüssel kann diesmal nicht wieder für die Probleme in Polen verantwortlich gemacht werden. Die EU-Kommission billigte zuletzt den polnischen Plan für Auszahlungen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds im Wert von insgesamt 24 Milliarden Euro an Zuschüssen und 11,5 Milliarden an billigen Krediten, der wohl noch davon abhängt, dass missliebige entlassene Richter wieder in ihr Amt eingesetzt werden.
Fest steht, dass die von der polnischen Regierung eingeführten Maßnahmen nicht den erhofften Effekt haben. Inzwischen muss man beispielsweise etwa 1,74 Euro pro Liter Euro-95-Benzin bezahlen, während das vorrangig staatliche Unternehmens Orlen seine Gewinnspanne stark erhöhen konnte. Autofahrer wollen am Samstag mehr als 100 Orlen-Tankstellen blockieren.
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