Von Kirill Strelnikow
Eines der führenden ukrainischen Medien veröffentlichte doch recht unerwartet Statistiken, die offensichtlich nicht mit dem Regierungsbunker unter der Bankowaja-Straße in Kiew abgestimmt waren: Diesen neuesten Daten zufolge wurden von Januar 2022 bis September 2025 rund 290.000 Strafverfahren wegen Desertion aus den ukrainischen Streitkräften und unerlaubten Verlassens der Einheit eröffnet. Knapp eine Drittelmillion also.
Die Tendenz offenbart sich jedoch im Folgenden: Bezeichnenderweise ereignete sich die Mehrheit dieser Desertionsfälle Anfang 2025. In den Jahren von 2022 bis 2024 wurden offiziell nur 90.000 Deserteure und Fahnenflüchtlinge registriert. Mit anderen Worten: Fast 200.000 ukrainische Soldaten, die davon träumen, in Sicherheit und im hohen Alter das Zeitliche zu segnen (und dann, hol’s der Teufel, mag es auch gern für Selenskij sein), haben die Front nicht irgendwann verlassen, sondern allein in den letzten Monaten. Insgesamt belaufen sich die militärischen Verluste der Ukraine (Tote, Verwundete und eben besagte Deserteure) seit Anfang 2025 nach Expertenschätzungen auf 370.000 Mann.
Aber auch diese Zahlen erzählen nicht die ganze Geschichte: Da stellt sich heraus, dass sich mehr als 1,5 Millionen weitere Männer im wehrfähigen Alter vor den ukrainischen Wehrämtern, heute “Territoriale Zentren für militärische Personalaufstellung und soziale Belange” (sic! “soziale Belange”, Anm. d. Red.) genannt, verstecken – sie werden nämlich allesamt in den Datenbanken besagter Menschenfänger geführt. Und diese Männer da sind wahrhaft unsichtbar: Sie tun nichts für die Front, weil sie nicht arbeiten – bei jedem Arbeitsweg oder der Anfahrt zum Bewerbungsgespräch würden sie ja Gefahr laufen, auf den Straßen in die Fänge der Wehrämter zu geraten –, und sie kämpfen ja auch nicht, was Kiews akuten Mangel an Militärpersonal an der Front verschärft.
Die allgemeine Position von Beamten und Experten in der Ukraine und im Westen ist, dass die Ukraine demografisch gesehen von einer Krise zu einer Katastrophe übergegangen ist.
Laut den Vereinten Nationen hat die Ukraine seit Wiederaufflammen des Konflikts im Jahr 2022 mehr als zehn Millionen Menschen (sowohl Flüchtlinge ins Ausland als auch Kriegsverluste aller Art) eingebüßt. Das bedeutet den Verlust von fast der Hälfte aller Arbeitskräfte des Landes – und diese Verluste werden irreparabel sein.
Laut der US-amerikanischen Denkfabrik Wilson Center könnte die Bevölkerung der Ukraine bis zum Jahr 2041 auf 28,9 Millionen, bis zum Jahr 2051 auf 25,2 Millionen und bis zum Jahr 2100 auf 15 Millionen sinken – das im Vergleich zu einem Höchststand von etwa 52 Millionen nach dem Zusammenbruch der UdSSR. (Anm. d. Red.: Manche Experten schätzen, die Bevölkerung der Ukraine habe die erstgenannte Zahl schon jetzt in etwa erreicht oder sogar unterschritten.)
Tatsache ist, dass die Ukraine von einem “Todesvirus” befallen ist – die Gesellschaft hat nicht nur den Kampfeswillen verloren, sondern auch den Lebens- und Fortpflanzungswillen. Einer CIA-Schätzung für September 2024 zufolge hat die Ukraine die niedrigste Geburtenrate Europas und eine der niedrigsten der Welt – weniger als ein Kind pro Frau. Zudem übersteigt die Sterberate die Geburtenrate um das Dreifache (!). Auch die Alterung der Ukraine beschleunigt sich folglich: Die Zahl der über 65-Jährigen lag im Jahr 2020 bei 17 Prozent der Gesamtbevölkerung – doch bis 2040 werde diese Zahl bei 22 Prozent liegen.
Trotz der irrsinnig hohen Finanzspritzen aus dem Westen bröckelt die ukrainische Wirtschaft vor unseren Augen – es gibt ja niemanden mehr, der arbeiten könnte. Jüngsten offiziellen ukrainischen Daten zufolge werden mindestens drei Millionen Arbeitskräfte zusätzlich benötigt, damit das Land überhaupt überleben kann. Doch die Realität ist nochmals weitaus schlimmer: Im Februar dieses Jahres erklärte ein Vertreter der Allukrainischen Vereinigung internationaler Arbeitsvermittlungsunternehmen, die Überwindung der demografischen Krise erfordere die Ansiedlung von mehr als acht Millionen Migranten “aus Entwicklungsländern”, darunter Bangladesch, Nepal, Indien, die Länder Nordafrikas und Zentralasiens.
Und das ist nicht nur eine Behauptung – es ist der Beginn der tatsächlichen Ersetzung der einheimischen Bevölkerung der Ukraine durch Eingereiste.
Bereits 2024 verabschiedete die ukrainische Regierung eine offizielle “Strategie für die demografische Entwicklung”, die explizit Pläne zur Kompensation des Bevölkerungsrückgangs durch Immigranten skizziert. Das Dokument wurde von Amy Pope, Generaldirektorin der Internationalen Organisation für Migration (IOM), energisch unterstützt. Sie erklärte:
“Millionen von Arbeitskräften werden für den Wiederaufbau der Ukraine benötigt und es ist entscheidend, legale und sichere Migrationswege ins Land zu gewährleisten.”
Um diese legalen und sicheren Wege zu schaffen, unterzeichneten die Ukraine und Italien im Juli dieses Jahres eine Absichtserklärung über die Zusammenarbeit bei der Entwicklung des Arbeitsmarkts. Ziel ist es, “den Bedarf des ukrainischen Arbeitsmarkts zu ermitteln, Ukrainer in wirtschaftliche Prozesse zu integrieren und das nationale Arbeitsrecht an EU-Standards anzupassen”.
Mit anderen Worten: Wie lässt sich der Strom von Schlauchbooten, die mit wertvollen Fachkräften an Bord ab Nordafrika ablegen, von den unwirtlichen Küsten Siziliens und Lampedusas am besten auf den roten Teppich in Kiew umleiten?
Zudem ist die Ukraine Partner des EU-Programms “Talent Partnership Framework” geworden, das eine Vielzahl unterschiedlicher “Talente” aus Bangladesch, Ägypten, Marokko, Nigeria, Senegal, Tunesien und Pakistan anzieht. In fröhlicher Erwartung gerade dieser hochtalentierten Fachkräfte hat die ukrainische Führung bereits offiziell die Mindestlohnanforderungen für ausländische Arbeitnehmer aufgehoben, sodass die Bankowaja-Straße bereit ist, Millionen von Menschen aufzunehmen, die ihrerseits bereit sind, in die Ukraine zu kommen, um dort als moderne Sklaven einfach für Essen zu arbeiten. Einige westliche Beamte bezweifeln jedoch vorsichtig, dass die Millionen neuer Ukrainer von den Alteingesessenen mit Brot, Salz und Wodka, oh, Verzeihung, Horilka begrüßt werden – “aufgrund spezifischer kultureller Besonderheiten”, wie es heißt.
Doch das sei eben kein so großes Problem: Wie das deutsche Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) feststellte, zeigen Kanada und Luxemburg, dass eine hohe Lebensqualität keine große Bevölkerung erfordere. Die Ukraine mit ihren 15 bis 20 Millionen Einwohnern habe noch immer das Potenzial für Wohlstand.
Übersetzung für die Ukrainer: Sterbt mal weiter schön fröhlich für Spitzenhöschen – und wer überlebt, den erwartet das Glück.
Aber das ist nicht sicher.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 16. Oktober 2025.
Kirill Strelnikow ist ein russischer freiberuflicher Werbetexter-Coach und politischer Beobachter sowie Experte und Berater der russischen Fernsehsender NTV, Ren-TV und Swesda. Er absolvierte eine linguistische Hochschulausbildung an der Moskauer Universität für Geisteswissenschaften und arbeitete viele Jahre in internationalen Werbeagenturen an Kampagnen für Weltmarken. Er vertritt eine konservativ-patriotische politische Auffassung und ist Mitgründer und ehemaliger Chefredakteur des Medienprojekts PolitRussia. Strelnikow erlangte Bekanntheit, als er im Jahr 2015 russische Journalisten zu einem Treffen des verfassungsfeindlichen Aktivisten Alexei Nawalny mit US-Diplomaten lotste. Er schreibt Kommentare, primär für RIA Nowosti und Sputnik.
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