Eine Analyse von Susan Bonath
Deutschland kann seine kranken Kinder nicht mehr versorgen. Ein Virus geht um – nein, nicht Corona! – und die Kliniken brechen vollends zusammen. Notaufnahmen weisen Mütter mit schwer kranken Babys ab und Rettungswagen transportieren intensivpflichtige Kleinkinder durch ganz Deutschland. Es sei “nur eine Frage der Zeit, bis das erste Kind wegen dieser Überlastung stirbt”, sagte Kinderarzt Steffen Lüder dem rbb.
Schuld daran ist weder Corona noch das RS-Virus. Verantwortlich ist die marktkonforme Gesundheitspolitik seit vielen Jahren, in denen sich das Problem beständig zuspitzte. Mit ihren Coronamaßnahmen legte die Regierung zuletzt noch eins obendrauf. Denn kranke Kinder sind nicht marktkonform. Anders als künstliche Hüft- und Kniegelenke rentieren sie sich nicht, bringen “kein Cash”.
30 Jahre marktkonformer Personalabbau
Mehr als 30 Jahre lang hat die deutsche Politik beim Einstampfen der medizinischen Versorgung der Jüngsten nicht nur zugesehen, sondern mitgemacht. Zwischen den Jahren 1991 und 2017 bauten Kinderkliniken 30 Prozent der Betten ab – trotz gestiegener Fallzahlen. In den ersten beiden Coronajahren lief es weiter wie gehabt.
Viele Krankenhäuser schlossen ihre Kinderstationen, um Kosten zu sparen – wie im Jahr 2015 in Anklam und vergangenes Jahr in Gardelegen. Dies sind nur drei Beispiele von vielen. Aus demselben Grund wurden seit 1991 rund 43 Prozent aller Geburtsstationen geschlossen – erst kürzlich beispielsweise im südholsteinischen Landkreis Segeberg.
Im November 2015 warnte das Ärzteblatt nicht zum ersten Mal: Deutschlands Kinderkliniken seien “in desolater Situation”. Bereits eineinhalb Jahre zuvor hatte die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedzin (DGKJ) gemeinsam mit acht weiteren Verbänden eine Kampagne gestartet, um auf die finanzielle Not der Kindermedizin aufmerksam zu machen. Die Ökonomisierung, unter anderem in Form des in den Jahren 2003 und 2004 eingeführten Fallpauschalen-Systems, fordere ihre ersten Opfer, hieß es damals.
Es mangelt keineswegs an Apparaten oder Betten. Gespart wird zuerst an den Lohnkosten – am Personal. Dieses benötigen Kinder eher als Bypässe oder Gelenkprothesen. Wo Stellen gestrichen werden, wird weniger ausgebildet. Für das verbleibende Personal wächst der Stress, Pflegekräfte und Ärzte kündigen, mit weiteren Folgen. 30 Jahre Ökonomisierung und Privatisierung fordern heute ihren Tribut. In vielen ländlichen Gebieten sind Kinderarztpraxen längst Mangelware. Werdende Mütter und solche mit Kindern müssen oft bis zu hundert Kilometer bis zum nächsten Krankenhaus zurücklegen. Passiert ist bis heute: nichts.
Kein Umdenken durch Corona
Auch Corona hat die Politik nicht zum Umdenken bewegt. Seit Anfang 2020, als die WHO die Pandemie ausgerufen hatte, wurden weitere Kliniken samt Kinderstationen geschlossen. Und trotz Pandemie gab es keine nennenswerte, geschweige denn erfolgreiche, staatliche Personaloffensive, stattdessen unterwarf die Politik das Pflegepersonal ab März dieses Jahres der Impfpflicht – obwohl zu diesem Zeitpunkt längst bekannt war, dass die Spritze weder die Ansteckung noch die Übertragung verhindert. Impfaufforderung statt Aufklärung galt auch für die Jüngeren, denn es war ebenso erwiesen, dass Kinder nicht besonders schwer vom Virus betroffen sind.
Obwohl die Impfpflicht im Gesundheitswesen zum Jahreswechsel aus guten Gründen wieder abgeschafft werden soll, verschickten Gesundheitsämter noch vor Kurzem Bußgeldbescheide an ungeimpfte Pflegekräfte, beispielsweise in Ulm. Selbiges auch in Jena, dennoch bedauerte die Behörde ihre Bußgeldandrohungen und Landeschef Kemmerich bezeichnete sie als “Irrsinn”. Das Saarland belegte Beschäftige ohne Impfung sogar noch mit Betretungsverboten.
Als im Jahr 2020 ein Lockdown den anderen ablöste, um angeblich – ungefragt – ältere, vorerkrankte “Vulnerable” zu schützen, blieb ein Aufschrei nach dem anderen aus der Kindermedizin ungehört. Eine Kündigungswelle von Pflegekräften in Heimen und Kliniken nach dem Beschluss der Impfpflicht beeindruckte die Bundesregierung ebenso wenig.
Notstand trotz Patienten-Rückgang
Noch immer drischt Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) die Phrase, Coronamaßnahmen wie Maskenpflicht und Impfungen seien nötig, um das Gesundheitswesen vor einer Überlastung zu schützen. Damit suggeriert er: Corona sei der Grund für die reale Überlastung. Zu erkennen wäre dies an höheren Patienten-Zahlen. Die gibt es aber nicht, im Gegenteil.
Nachlesen kann man das im öffentlich einsehbaren Datenbrowser des Instituts für das Entgeltsystem im Krankenhaus (INEK). Die Zahlen zu Klinikpatienten inklusive Diagnose-Codierungen liegen bis Ende September dieses Jahres vor. Lauterbachs These kann widerlegt werden, indem man die drei Coronajahre mit dem Jahr 2019 vergleicht.
Demnach versorgten deutsche Krankenhäuser in den ersten neun Monaten 2019 fast 14,6 Millionen Patienten. Im Jahr 2020 waren es hingegen noch knapp 12,7 Millionen. Im Jahr 2021 verzeichneten die Kliniken sogar nur 12,4 Millionen und in diesem Jahr rund 12,6 Millionen eingewiesene Erkrankte. Das ist ein Rückgang der Behandlungsfälle um rund 14 Prozent in den jeweils neun ersten Monaten der drei Coronajahre im Vergleich mit 2019.
Ein ähnliches Bild zeigt sich in den Kinderkliniken. Wurden von Januar bis September 2019 noch fast 1,6 Millionen kleine Patienten dort versorgt, waren es im Jahr darauf 1,38 Millionen, im Jahr 2021 sogar nur 1,36 Millionen und in diesem Jahr 1,4 Millionen – ein Rückgang um mehr als zwölf Prozent.
Mehr Intensiv- und Todesfälle ab 2021
Fragen werfen indes die Daten aus den Intensivstationen auf. Dort nahm die Zahl der Eingelieferten tatsächlich zu, allerdings erst seit Beginn der Impfungen. So sank ihre Zahl im ersten Coronajahr zunächst um 45.000 (3,4 Prozent) auf 1,28 Millionen. Im Folgejahr, als massenhaft geimpft wurde, stieg sie jedoch um fast zehn Prozent auf 1,4 Millionen an. Auch in diesem Jahr lag sie mit 1,38 Millionen Intensivpatienten insgesamt nur knapp darunter.
Ein ähnliches Bild zeigt sich auf den Kinder-Intensivstationen. Im Jahr 2020 sank die Anzahl der eingewiesenen Patienten zunächst um knapp ein Prozent auf weniger als 77.000, um dann im Jahr darauf um über zehn Prozent auf gut 85.000 anzuwachsen. Im ersten Dreivierteljahr 2022 behandelten die Kliniken 82.400 schwer kranke Kinder. Hieb- und stichfeste Untersuchungen dazu existieren nicht.
Laut INEK starben in den Kliniken von Januar bis September 2019 rund 319.000 Menschen. Im ersten Coronajahr schrumpfte die Zahl der Todesfälle um vier Prozent auf 305.500. Im ersten Impfjahr hingegen wuchs sie um knapp sechs Prozent auf 323.200, in diesem Jahr sogar noch einmal um weitere 1,7 Prozent auf fast 329.000 Verstorbene. Auch Statistiker in Deutschland und anderen europäischen Staaten registrierten dieses Jahr vermehrte Sterbefälle. Nachgegangen wurde dem bisher nicht.
Geplante “Lauterbach-Reform” nützt Kindern wenig
Aussicht auf Besserung gibt es kaum, auch wenn Lauterbach, der die Fallpauschalen (Quelle leider gelöscht) im Jahr 2004 (link zu weiterer Quelle) mit eingeführt hatte, “die größte Reform seit 20 Jahren” verspricht. Er beabsichtigt, die Fallpauschalen lediglich “weiterzuentwickeln“.
Von einer Rücknahme privatisierter Kliniken in die öffentliche Hand ist unterdessen keine Rede. Die Anzahl öffentlicher Krankenhäuser halbierte sich seit dem Jahr 1991 von 1.110 auf 545 Kliniken. Zusätzlich gab es vor 30 Jahren fast 1.000 gemeinnützige Einrichtungen, im Jahr 2019 waren es noch 645 Häuser. Die Zahl privater Hospitäler verdoppelte sich indes in diesem Zeitraum von 358 auf 724 Unternehmen. Auch das ist ein Grund für den gegenwärtigen Missstand, auch und vor allem für kranke Kinder. Ihnen dürfte die geplante “Lauterbach-Reform” erneut am wenigsten nützen.
Mehr zum Thema – Müssen Kinder sterben, weil sie nicht versorgt werden? Das deutsche Gesundheitssystem am Limit