Von Alexej Danckwardt
Keine elf Jahre später hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg am Donnerstag also im Fall des Massakers an Andersdenkenden, das sich am 2. Mai 2014 in Odessa ereignet hatte, Recht gesprochen. Nun, “sort of”, wie es im Englischen heißt: so etwas wie Recht.
Nein, es ist auf jeden Fall ein Schritt nach vorn und in gewisser Weise eine späte Genugtuung nicht nur für die Opfer des ukrainischen Nazismus, der an jenem Tag (nicht zum ersten Mal) sein bestialisches Antlitz offenbarte, nicht nur für die Angehörigen der Opfer, sondern auch für die Handvoll Deutscher und sonstiger Europäer, die in diesen elf langen Jahren die Erinnerung an das Massaker hochhielten und dafür als “Russenpropagandisten” oder “Putinversteher” verleumdet wurden. Verleumdungen, die immer im Umlauf sind, wenn es darum geht, die Maidan-Ukraine vor Kritik abzuschirmen.
Es ist nun auf höchster Ebene gerichtsamtlich, was die “Russenpropagandisten” und “Putinversteher” all die Jahre gesagt haben: Zumindest ist die Maidan-Ukraine durch Unterlassen am Tod von mindestens 48 Menschen an jenem 2. Mai und Tausender weiterer in den folgenden Monaten und Jahren schuldig. Indem sie nichts tat, um den Gewaltausbruch zu verhindern, nichts, um die auf dem Kulikowo Polje (Kiebitzfeld) und im Gewerkschaftshaus Angegriffenen zu schützen und zu retten, nichts, um die Täter zu ermitteln und zu bestrafen. Besonders die permanente Erfahrung der Straflosigkeit stachelte die Nazis unter den Maidan-Ukrainern in den Folgejahren zu immer mehr und immer brutaleren Verbrechen an.
Mehr konnte der EGMR gar nicht feststellen, er urteilt nur über staatliches Handeln und ermittelt in Mordfällen nicht selbst. Wir wissen bis heute nicht, wer für den Tod von zwei Maidan-Anhängern früher am Tag an einem ganz anderen Ort in der Stadt verantwortlich ist. Wir wissen bis heute nicht, was von der Verkettung der Umstände geplant und was ein “Selbstlauf” einmal in Gang gesetzter Ereignisse war. Wir kennen bis heute nicht einmal die exakte Ursache des verheerenden Brandes im Gewerkschaftshaus, die häufigste, aber nicht die einzige Todesursache unter Maidan-Gegnern an jenem schwarzen Tag.
Das, was vielen offensichtlich erscheint – dass das Maidan-Regime selbst das Massaker organisiert hat, indem es Hundertschaften von Nationalisten und gewaltbereiten nationalistischen Fußballhools in die mehrheitlich russische Stadt Odessa karrte und auf den auf dem Kulikowo Polje versammelten Widerstand aus Kommunisten, Linken aller Couleur und orthodoxen Christen lenkte –, kann ein übernationales Gericht ohne auf nationaler Ebene ermittelte Tatsachen nicht feststellen. Und die besagten Ermittlungen hat es eben nur sehr oberflächlich gegeben, bis zum Kern der Sache sind sie nie vorgedrungen. Der wahrscheinliche Grund dafür: Die Machthaber in Kiew müssten gegen sich selbst und gegen ihre Handlanger ermitteln.
Nicht wundern muss, dass das Urteil dem Kiewer Regime an mehreren Stellen Nachsicht entgegenbringt. Der Hass auf Russland und die Verachtung für Russen sind auch im EGMR zu Hause, vor diesem Hintergrund kostete es die Richter einiges an Selbstdisziplin, die Ukraine überhaupt zu verurteilen. Es ist derselbe EGMR, der im Fall Nawalny gegen Russland auf die brutalste mögliche Weise Recht brach und Doppelstandards zelebrierte, als er die Änderung richterlicher Rechtsprechung zum Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot erklärte, was er sich etwa gegenüber dem deutschen Bundesgerichtshof nie getraut hat und nie trauen wird.
Die Richter stützten sich in Ermangelung amtlicher Ermittlungsergebnisse auf Narrative der sogenannten “Gruppe 2. Mai”, einer einseitig engagierten “Gruppe von Ermittlern aus der Zivilgesellschaft” um den früheren Gouverneur des Gebiets Odessa Igor Paliza, einen Hauptnutznießer der Tragödie. Es wundert nicht, dass die “Gruppe 2. Mai” die Schuld am Gewaltausbruch den Anti-Maidan-Aktivisten in die Schuhe schob, eine von Anfang an vorgetragene Umkehrung von Tätern und Opfern.
Dass ausgerechnet viele unter den deutschen Linken auf das Narrativ hereinfielen und hereinfallen, die “prorussischen” Maidan-Gegner seien schuld an ihrem eigenen Tod, ist unbegreiflich. Die Fronten in Odessa und der Ukraine verliefen in jenem Frühjahr 2014 unmissverständlich: an den Hitlerfaschismus und seine Symbolik angelehnte Symbole und Parolen (“Ukraine den Ukrainern”, “Ukraine über alles”, “Ruhm der Nation, Tod den Feinden”) auf der Seite der Maidan-Anhänger, rote Fahnen und der Schlachtruf “Der Faschismus kommt nicht durch” im Lager der Maidan-Gegner. Und dennoch schlugen und schlagen die Herzen der deutschen “Antifa” für die Ersteren.
Dabei müssten die Ereignisse in Odessa jedem deutschen Linken, jedem deutschen “Antifa” bekannt vorkommen: Da versucht eine gewaltbereite Gruppe von Antifaschisten (ob mit oder ohne Anführungszeichen, ist Ansichtssache), eine eindeutig nationalistische Demonstration zu blockieren, mit den auch hierzulande bekannten Methoden. An einem ganz anderen Ort, drei, vier Kilometer vom Ort der Krawalle entfernt, haben sich friedliche Antifaschisten, alte und junge Bürger der Stadt, Familien mit Kindern, versammelt, Zelte und Stände aufgebaut. Reden werden gehalten, (rote) Fahnen geschwungen. Ist das nicht die jährliche Szenerie am 13. Februar in Dresden?
Und dann der Alptraum, den man hierzulande explizit fürchtet, weshalb die “rechten Aufmärsche” ja so unnachgiebig blockiert werden: Die gewalttätige Antifa unterliegt im Straßenkampf, die Rechten brechen durch und marschieren die besagten drei bis vier Kilometer auf die friedliche Kundgebung zu, überfallen sie, zünden die Zelte und Stände an, die versammelten Familien, die jungen und die alten Bürger, fliehen in ein nahe gelegenes Haus, suchen Schutz vor den mit Schlagstöcken und Schusswaffen ausgestatteten Rechtsradikalen. Brandsätze fliegen, das Haus geht in Flammen auf, die aufgebrachten Rechtsradikalen prügeln auf die wenigen, die sich durch Sprung aus den Fenstern zu retten versuchen, mit Stahlstöcken und Baseballschlägern ein.
Am Schluss sind Dutzende Menschen tot: Ein ganz junger Kommunist, der am Tag davor noch stolz die rote Fahne trug, ein etwas älterer Antifa aus der bis dahin international als links anerkannten Organisation Borotba, ein Stadtratsabgeordneter, eine schwangere Frau, ein älterer Dichter, ein Liebespaar, das umarmt den Tod traf.
Hätte man, wenn all das so in Dresden geschehen wäre, Zweifel, wer der Täter ist? Würde man in Dresden den Toten eine Mitschuld geben? Würde man den Tod zweier Rechtsradikaler an einem anderen Ort von unbekannter Hand früher am Tag als Rechtfertigung für die Gewaltorgie anführen? Im Fall von Odessa tat und tut man es.
Unwahrscheinlich auch, dass das Urteil des EGMR daran etwas ändern wird: Zu tief haben sich die Narrative in die Gehirne gefressen. Wer den Faschismus nicht erkannt hat, als er Naziparolen brüllend mordete und brandschatzte, wird sich jetzt kaum zu seinem Irrtum bekennen und Einsicht zeigen. Für viele wäre das Eingeständnis des Irrtums das Ende seiner Karriere, für andere stürzte ihr Selbstbild als immer auf der Seite des “Guten” stehender “Antifaschist”, als jemand, der immer Recht hat, ein. Man wird sich in Deutschland auch weiterhin an die “Selbstschuld”-These klammern oder an Verschwörungstheorien, wonach Russland die Tragödie organisiert habe. Man wird Sätze aus dem Urteil zitieren, wonach zwei hochrangige Beamte, die Polizei und Feuerwehr in Odessa befehligten, in Russland Unterschlupf gefunden haben. Als wäre deren Versagen die Erklärung und die Rechtfertigung für alles, als hätten sie an jenem Tag die Befehlsgewalt gehabt und nicht der extra aus Kiew angereiste Maidan-Kommandant und spätere Parlamentschef Andrei Parubi.
Wer aber nun zweifelt, dass mit dem Urteil des EGMR Recht und Wahrheit überhaupt ein Stück weitergekommen sind, der nehme das betretene Schweigen darüber in deutschen Mainstreammedien zur Kenntnis. Nichts in der Tagesschau oder dem ZDF über das Urteil, nur die Berliner Zeitung und die FAZ meldeten es mit Verspätung. Die Maidan-Anhänger in den Redaktionsstuben, die seit 2013 so viel und so dreist gelogen haben über die “demokratische, proeuropäische” Ukraine, über den Euromaidan und über Odessa, die immer noch lügen, wissen ganz genau, dass das Lügengebäude Risse bekommt. Der Damm wird brechen, früher oder später.
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