Von Dagmar Henn
Die 1,7 Millionen ukrainischen Gefallenen, die sich aus geleakten Daten des ukrainischen Generalstabs ergeben sollen, sind eine erschütternde Zahl; weit höher als selbst jene, die das russische Verteidigungsministerium bisher nannte (auch wenn diese Zahlen nur das umfassen, was, wie es so schön heißt, mit “Mitteln der objektiven Kontrolle” bestätigt wurde, also mindestens auf einer Drohnenaufnahme zu sehen ist). Wenn sie zutreffen, wäre das für die Ukraine katastrophal; und der Brite Boris Johnson, der im April 2022 Kiew nötigte, den Krieg fortzusetzen, hätte seinen Platz unter den großen Massenmördern der Geschichte redlich verdient. Aber noch sind alle derartigen Zahlen mit Vorsicht zu betrachten.
Nun nannte Alexander Mercouris in seinem letzten Video eine Schätzung, die auf einer völlig anderen Herangehensweise beruht: auf einer Stichprobe. Bei der Verlässlichkeit der Ersteller kann man sich nur auf Mercouris Aussage verlassen, weil er sie nicht nennt, sie aber als “unimpeachable” bezeichnet, also über jeden Zweifel erhaben. Was für das Publikum bedeutet, dass die Glaubwürdigkeit der Quelle letztlich an der Glaubwürdigkeit hängt, die man selbst dem Analytiker Mercouris zugestehen will. Meine Beobachtung bisher ist, dass er sehr sorgfältig arbeitet, weshalb ich unterstellen will, dass dieser Ansatz bei Überprüfung tragfähig wäre.
Die Ergebnisse, die er benennt, beruhen auf einer Stichprobe von jeweils mehreren Hundert Soldaten aus der ukrainischen und der russischen Armee. Für eine statistische Aussagefähigkeit ist das schon an der unteren Grenze, denn je kleiner die Auswahl, desto größer der mögliche Fehler, aber da es um eine allgemeine Tendenz geht, hält sich dieses Problem in Grenzen. Was natürlich ebenfalls nicht ganz klar ist, ist, inwieweit die Stichprobe auf Truppen begrenzt ist, die an der vordersten Linie eingesetzt wurden. Mercouris tippt darauf, dass sich in der Auswahl vor allem Infanteristen befunden haben.
Auf beiden Seiten wurden sowohl Soldaten beobachtet, die bereits im Jahr 2022 an der Front waren, als auch solche, die später erst angetreten waren. Die Verfasser dieser Auswertung, so Mercouris, hätten von den Beteiligten ihrer Stichprobe alle Daten, und ihre ganze Beteiligung am Konflikt wurde nachverfolgt. Das ist ein Ansatz, der mit entsprechendem Aufwand, beispielsweise über die Nachverfolgung von Profilen in sozialen Medien, vorstellbar und nachvollziehbar ist.
Die Ergebnisse allerdings sind erschütternd. Auf der ukrainischen Seite, so Mercouris, seien heute von allen nachverfolgten Soldaten nur noch elf Prozent in der Armee. Von denen, die schon 2022 in der Armee waren, sind 81 Prozent, von denen, die später hinzukamen, 77 Prozent bereits gefallen. Die verbliebene Differenz sind Soldaten, die so schwer verwundet wurden, dass sie ausgeschieden sind.
Das prozentuale Verhältnis zwischen Gefallenen und Verwundeten ist extrem, aber es passt zu dem, was in den vielen Videos zu sehen ist – eine Evakuierung von der vordersten Frontlinie ist bei beständiger Anwesenheit von Drohnen fast unmöglich. Tatsächlich ist die Verschiebung im Verhältnis zu früheren Konflikten so groß, dass im Grunde vollkommen neue Vereinbarungen im Kriegsrecht getroffen werden müssten.
Dieser eine Punkt ist auf russischer Seite ähnlich. Drei Viertel derjenigen, die nicht mehr in der Armee sind, sind gefallen, und nur ein Viertel ist durch Verwundung ausgeschieden. Allerdings: Insgesamt dienen noch 79 Prozent der russischen Soldaten, die Teil der Stichprobe sind, nach wie vor in der Armee. Gefallene und Schwerverwundete ergeben zusammen 21 Prozent.
Auch bei diesen Stichproben ist das Verhältnis zwischen den russischen und den ukrainischen Verlusten sehr hoch, und es gab immer wieder Indizien, die nahelegten, dass dem tatsächlich so ist. Verglichen mit den Zahlen aus dem Zweiten Weltkrieg ist es sogar wirklich extrem – wenn man bedenkt, dass das technologische Gefälle zwischen beiden Seiten begrenzt ist –, denn damals entschied sich der Erfolg in einer Schlacht an Verhältnissen wie 1:1,3 oder vielleicht 1:1,5. Hier liegt das Verhältnis zwischen 1:4,8 und 1:5.
Auch der Anteil der Gefallenen im Verhältnis zu den Verwundeten ist umgekehrt, selbst wenn kleinere Verwundungen offenkundig nicht mitgezählt werden. Eigentlich lautete die Daumenregel 1:3, also drei Verwundete auf einen Toten. Die Waffenentwicklung erfolgte vielfach sogar mit dem Ziel, das Gegenüber eher zu verletzen als zu töten, mit dem Hintergedanken, dass Verletzte weit mehr Ressourcen binden. Diese Regel scheint nicht mehr zu gelten, was durch zwei Faktoren ausgelöst sein kann: Der erste sind die großen Probleme bei der Bergung der Verletzten von der vordersten Linie, weil die gepanzerten Truppentransporter, die einmal dafür gedacht waren, nur noch große, fette Ziele sind. Und der zweite, dass die Präzision, mit der inzwischen sowohl Granaten als auch Drohnen eingesetzt werden, sie insgesamt tödlicher macht.
Allerdings: Auch wenn diese Zahlen im Grunde die aktuelle Überlebenswahrscheinlichkeit in einer rein konventionellen Auseinandersetzung deutlich illustrieren, an der Haltung der europäischen Politikerkaste werden sie nichts ändern. Die Menschen, die sie regieren, sind für sie kaum weniger bloßes Material, als es derzeit die Ukrainer sind, bei denen nicht einmal ernsthafte Anstrengungen unternommen werden, herauszufinden, wie hoch der Preis tatsächlich ist, den sie vermeintlich für “unsere Freiheit” zahlen sollen.
Ob man nun die Zahl der übergebenen Gefallenen als Indiz betrachtet, ob man die Angaben glaubt, die aus dem ukrainischen Generalstab stammen sollen, oder ob man das Ergebnis der Stichprobe nimmt, von der Alexander Mercouris berichtet – sie alle deuten in dieselbe Richtung: Eine Fortsetzung des Krieges wird nicht nur nicht zu einem ukrainischen Sieg führen, sie stellt vielmehr von Tag zu Tag stärker infrage, ob die Ukraine als Land noch existieren kann, bezogen auf den Erhalt der Bevölkerung ebenso wie auf die Verschuldung und darauf, dass es wohl eher die Arbeiter und Handwerker sind, die in diesem Krieg geblieben sind, während sich die wohlhabenderen Teile der Bevölkerung ins Ausland abgesetzt haben.
Wenn man in deutschen Medien sucht, haben die von den Hackern erbeuteten Daten keinen Weg in die deutschen Schlagzeilen gefunden. Der Tonfall bleibt immer gleich, wie er schon im Jahr 2022 war: “Putins Armee erleidet weiter hohe Verluste.” Noch sind es die Ukrainer, die den Preis für diese verzerrte Wahrnehmung zahlen. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) hat es sich heute erst gegönnt, ihre Leser zu fragen, ob deutsche Soldaten in der Ukraine eingesetzt werden sollten – zur “Friedenssicherung” –, und kann das Ergebnis gleich als Beleg wirkungsvoller Propaganda verbuchen. Die SZ-Leser stimmten nämlich mit 63 Prozent für Ja, mit 25 Prozent mit Nein. Eine aktuelle Umfrage von Nius, im Gegensatz zur SZ-Leserbefragung repräsentativ, kommt auf ein fast entgegengesetztes Ergebnis: 56 Prozent sind dagegen, 28 Prozent dafür. Einzig die Zahl von “weiß nicht” ist mit 13 Prozent bei Nius und 12 Prozent bei der SZ ziemlich identisch.
Schwer vorstellbar, wie von dieser Position aus ein Weg zurück zur Vernunft erfolgen soll. Kann man bei einem solchen Ergebnis, bei all der materiellen Beteiligung Deutschlands an diesem ukrainischen Krieg, sich einfach zur Seite drehen, mit den Schultern zucken und sagen: “Ups, ich habe mich geirrt”? Gesetzt den Fall, es käme tatsächlich zu einem Friedensschluss – ein solcher Richtungswechsel ginge auch in Deutschland nicht mit demselben Personal. Allerdings stünden da nur die AfD und das BSW zur Verfügung, weil alle anderen begeistert mitgemacht haben. Wie also würde es zu einem Moment der Wahrheit kommen, wenn sich die 1,7 Millionen als zutreffend erweisen – verborgen mit einem kleinen Seufzer, versteckt auf Seite 15 wie eine Richtigstellung, oder mit einem Knall, mit einer Erschütterung? Oder, vielleicht zutreffender, was sagt es über die deutsche Gesellschaft aus, wenn sie von den 1,7 Millionen nicht erschüttert wäre?
So sehr man derzeit darauf angewiesen ist, auf die eine oder andere Weise zu raten, sich schrittweise einer Wirklichkeit anzunähern, die noch vom Nebel des Krieges verhüllt ist, der Zeitpunkt rückt näher, an dem alle Schätzungen, alle Stichproben durch die realen Zahlen ersetzt werden. Mit dieser Wahrheit und ihren Folgen gilt es dann zu leben.
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