Von Wladislaw Sankin
In einem Land im Krieg sollte man eigentlich keinen Umfragen Glauben schenken. Insbesondere, wenn es um die Ukraine geht. Die Angst vor Verfolgung wegen Sympathien zum Feind in einem ohnehin abgeriegelten Informationsraum, wie es derzeit in der Ukraine der Fall ist, treibt die Menschen meist dazu, ihre wahren Ansichten grundsätzlich für sich zu behalten.
Nichtsdestotrotz finden die Umfragen zur Messung der Stimmungslage auch in der Ukraine statt und es wäre falsch, sie gänzlich zu ignorieren. Selbst wenn wir annehmen, dass die Auftraggeber der Umfragen die Ergebnisse auf irgendeine Weise beeinflussen, können die Umfragen anhand der Änderungen Aufschluss über die politischen Präferenzen der Initiatoren geben.
Am Donnerstag wurden die Ergebnisse zweier Umfragen in der Ukraine veröffentlicht. Die eine wurde vom renommierten US-amerikanischen Gallup-Institut durchgeführt, die andere vom Kiewer Internationalen Institut für Soziologie (KMIS). “Die Unterstützung der Ukraine in den militärischen Auseinandersetzungen schwindet”, titelte Gallup auf seiner Webseite und fügte hinzu: “Die Öffentlichkeit ist von Washington enttäuscht und verliert die Hoffnung auf einen raschen NATO-Beitritt.”
Mehr als drei Jahre nach Kriegsbeginn habe die Unterstützung der Ukrainer für die Fortsetzung des Kampfes bis zum Sieg einen neuen Tiefpunkt erreicht. 69 Prozent sprechen sich für eine möglichst rasche Beendigung des Krieges durch Verhandlungen aus, während 24 Prozent die Fortsetzung des Kampfes bis zum (ukrainischen) Sieg befürworten, so das Umfrageinstitut.
Dies sei eine fast vollständige Umkehrung der öffentlichen Meinung des Jahres 2022, als 73 Prozent dafür waren, dass die Ukraine bis zum Sieg kämpft, und 22 Prozent es vorzogen, dass die Ukraine so schnell wie möglich eine Verhandlungslösung anstrebt. Die aktuelle Umfrage wurde nach Gallup-Angaben Anfang Juli durchgeführt.
Bei der Frage, welche Verhandlungslösung sie bevorzugen würden, sollten sich die Ukrainer bei der KMIS-Umfrage Ende Juli/Anfang August für eine Antwort entscheiden. Zur Auswahl standen die “Friedenspläne der USA”, der “gemeinsame europäisch-ukrainische Plan” und der “russische Plan”. Auch hier ist ein deutlicher Wandel hin zu mehr Kompromissbereitschaft zu beobachten.
39 Prozent der Befragten können den Friedensplan der USA akzeptieren (im Mai waren es 29 Prozent). 49 Prozent der Ukrainer lehnen den Plan der USA ab (im Mai waren es 62 Prozent). Im Unterschied zum russischen Plan, der von den russischen Regierungsvertretern seit Putins Erklärung bei seinem Auftritt im Außenministerium im Juni 2024 sehr oft wiederholt wird, gibt es zu einem Trump-Plan nur Mutmaßungen. Klar ist allerdings, dass dieser Plan deutliche Gebietsabtretungen an Russland und sonstige Vorschläge zu mehr Entspannung vorsieht.
Einen europäisch-ukrainischen Plan befürworten laut KMIS 54 Prozent. Diesen Plan könnte man auch den “deutschen Plan” nennen, denn Deutschland brüstet sich damit, der größte militärische Unterstützer der Ukraine zu sein. Ein russischer “Sieg” in der Ukraine (darunter würden auch keine Gebietsrückgaben an die Ukraine fallen) sei nicht im deutschen Interesse, betonte Kanzler Merz hierzu mehrfach. “Es darf keinen Frieden geben, der Russland belohnt”, so Merz am Sonntag.
Außerdem ist Deutschland daran interessiert, dass die Kämpfe in der Ukraine fortdauern, sodass Russland dadurch “ausblutet”, denn der Fokus auf die Ukraine halte Russland davon ab, andere Gebiete wie etwa das Baltikum, wo Deutsche stationiert sind, anzugreifen. Diese Meinung äußern neben Merz auch Bundeswehr-Generäle in den Medien. Also bedeutet ein europäischer Plan nichts anderes als die Fortsetzung des Krieges, was von der russischen Seite bereits mehrfach kritisiert wurde.
Und nun: Wie stehen die Ukrainer zum russischen Plan? Es ist zwar sehr zu bezweifeln, dass in einem Land, in dem Wehrpflichtige gnadenlos “bussifiziert” (gewaltsam in Busse verfrachtet) und an die Front geschickt werden, eine ehrliche Antwort hierzu überhaupt möglich ist. Denn Russland ist im ukrainischen Informationsraum der absolute Feind. Dementsprechend gilt auch Russlands Plan als Kapitulation der Ukraine, die unter keinen Umständen akzeptiert werden darf.
Dennoch fanden sich laut KMIS in der Ukraine 17 Prozent der Menschen, die diesem Plan zustimmen würden ‒ mit klarem Wachstumspotenzial, schließlich waren es im Mai lediglich 10 Prozent. Verschwindend gering ist diese Zahl schon lange nicht mehr, auch wenn die ukrainischen Medien hierzu titeln, dass “76 Prozent der Ukrainer” den russischen Plan ablehnen.
Für die Ukrainer macht die Fortführung der Kämpfe und das Festhalten an das Pro-NATO-Regime in Kiew immer weniger Sinn. Für 43 Prozent spielt NATO-Beitritt keine Rolle und 2/3 wollen Ende des Krieges, mit 17 Prozent sogar zu 🇷🇺 Bedingungen (KMIS). Quelle: https://t.co/AhfkZN7HTfpic.twitter.com/4xXcScElkN
— Wlad Sankin (@wladsan) August 11, 2025
Wie unzuverlässig die Resultate einer Umfrage in einem kriegführenden Land auch sein mögen, sie decken sich mit objektiven Daten wie etwa der Kriegsdienstverweigerung, deren Zahl im laufenden Jahr sprunghaft gestiegen ist. Allein in den ersten sieben Monaten dieses Jahres haben laut Innenministerium mehr als 125.000 Soldaten ihre Militäreinheit oder Kampfstellung verlassen (Desertion). Im vergangenen Jahr waren es knapp 90.000. Diese Massenflucht steht im krassen Kontrast zum ersten Kriegsjahr mit knapp 10.000 Fällen.
Damals glaubten die Ukrainer an den Sieg und gingen überwiegend noch freiwillig zur Armee. Doch bereits im Jahr 2023 begann die sogenannte “Bussifizierung”, also Zwangsmobilisierung ‒ ein sicheres Zeichen dafür, wie die Ukrainer tatsächlich zum Krieg stehen.
Auch das Verhältnis der Ukrainer zu einer NATO-Mitgliedschaft – einer der wichtigsten Gründe für den russischen Einmarsch ‒ hat einen Wandel vollzogen. Die Erwartung, dass die Ukraine innerhalb der nächsten zehn Jahre dem Bündnis beitreten wird, hat sich ausgehend von 69 Prozent im Jahr 2023 mehr als halbiert. Im Juli 2025 glaubten nur noch 32 Prozent daran. Die Zahl derjenigen, die denken, dass die Ukraine niemals NATO-Mitglied sein wird, hat sich dagegen mehr als verdreifacht und beträgt aktuell 33 Prozent. Offenbar verliert die NATO-Mitgliedschaft in den Augen der Ukrainer deutlich an Wertigkeit.
Noch im Jahr 2019 “prophezeite” der Selenskij-nahe Berater und Militäranalyst Alexei Arestowitsch den Krieg zwischen der NATO und Russland in der Ukraine ziemlich genau in seiner heutigen Form. Als Berater des Präsidenten hatte er nichts unternommen, um diesen Krieg zu vermeiden. Nun hält er seine damalige Position für einen Fehler. Als “Anti-Russland” habe die Ukraine keine historische Chance auf weitere Existenz.
Aber die Bereitschaft zum Paradigmenwechsel, was sich mit dem russischen Ziel der Entnazifizierung der Ukraine weitgehend decken würde, ist bei der Kiewer Führung nicht vorhanden. Für das Regime und seine Handlanger ist der Krieg ein Geschäftsmodell, und da ist kein politischer Wandel zu erwarten.
Bei der Bevölkerung hingegen schon. Während der “Traum” von NATO und EU bislang nur Leid, Zerstörung und Blut brachte, hätte es diesen langen bewaffneten Konflikt offenbar nicht gegeben, wenn die Ukraine zumindest so neutral wie vor 2014 geblieben wäre. Die Juli-Umfragen zeigen: Trotz Zensur und Propaganda setzt sich diese Erkenntnis in der Ukraine immer stärker durch.
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